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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 2.1911-1912

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Nr. 57 (April 1911)
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Strindberg, August: Die Drangsale des Lotsen
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Scheerbart, Paul: Der Kaiser von Utopia, [1]: ein Volksroman
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https://doi.org/10.11588/diglit.31771#0009

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aber Viktor musste sicli zuweiien umdrehen und nach-
sehen, ob sie noch folgte, denn er hörte ihre Schritte
nicht; und auch wenn er sich umdrehte und sie vor
sich hatte, musste sein Auge sie suchen, denn ihr
Kleid in gelb und grün machte sie beinahe unsichtbar.

Endlich kamen sie an eine Blösse des Waldes. AIs
Viktor mitten auf dem grünen Plan sich befand, kam
der Stier, als ob er dort gestanden und gewartet hätte.
Er war schwarz und hatte einen weissen Stern vorne
an der Stirn und Blut in den Augenwinkeln.

Da keine Flucht möglich war, galt es nur Angriff
und Verteidigung Viktor warf einen Blick auf den
Boden. Da lag ein Zaunpfahl, eben gehauen, mit

einer Keule am Ende, den nahm er auf und stellte
sich kampfbereit.

— Du oder ich! kommandierte er. Eins, zwei,
dreif jetzt begann der Tanz. Der Stier backte zuerst
wie ein Dampfboot, liess durch die Nasenlöcher Dampf
heraus, bewegte den Schwanz wie einen Propeller und
dann gings mit Volldampf vorwärts.

Es sauste in der Luft und knallte wie ein Schuss,
als der Pfahi den Stier mitten zwischen die Augen
traf. Viktor war mit einem Sprunge zur Seite und

der Stier schoss an ihm vorbei. Dann aber ver-

änderte sich die Situation; das Untier steuerte dem

Waldrand zu, wo Viktors Braut in hellem Kleid zu
seinem grossen Schrecken heraneilte, um ihren Bräuti-
gam zu treffen

Da schrie er aus der Tiefe seiner Seele: ln den
Baum hinauf, Annal Der Stier kommt!

Und er sprang hinter dem Untier her, schiug es
an der schmalsten Stelle auf die Hinterbeine, um mög-
lichst ein Schienbein zu zerschmettern. Mit über-
menschlichen Kräften zwang er den Koloss, auf den
Boden niederzusinken, Anna war gerettet, und der
Lotse hielt sie in seinen Armen.

Wohin wollen wir jetzt gehen? sagte er. Nach
Hause?

Sie zu fragen, woher sie komme, fiel ihm nicht
ein, aus Gründen, die wir nachher erfahren werden.

Sie gingen Hand in Hand den Fusssteig dahin und
waren glücklich über das unerwartete Wiedersehen.
Dann blieb Viktor plötzlich stehen:

Warte einen Augenblick, ich muss nach dem Stier
sehen, denn es ist jedenfalls schade um ihn.

Da verwandelte sich Annas Antlitz und ihre Augen-
winkel wurden blutig. Mit einem wilden boshaften
Ausdruck sagte sie nur: Geh, ich warte !

Der Lotse betrachtete sie mit traurigen Blicken,
denn er hörte, dass sie die Unwahrhe t sprach. Aber
er folgte ihr. Ihr Gang war jedoch ungewöhniich, und
er begann auf der ganzen linken Seite zu frieren.

Als sie noch eine Weile gegangen waren, blieb
Viktor wieder stehen.

Gib mir deine Hand, sagte er, nein die linke Da
sah er, dass sie ihren Ring nicht trug.

Wo ist der Ring?

Den habe ich verloren

Du bist meine Anna, aber du bist es nicht Es
ist eine Fremde in dich hineingeflogen.

Da warf sie ihm einen Seitenblick zu, und er sah,
dass es nicht eines Menschen, sondern eines Stieres
blutiger Blick war, und er verstand.

Weich von hinnen, Zauberin I sagte er und spuckte
ihr ins Gesicht.

Das hätte man sehen sollen. Die falsche Anna
wechselte ihren Balg, wurde gelbgrün im Gesicht wie
Galle, platzte vor Wut, und im nächsten Augenblick
sprang ein schwarzes Kaninchen über die Blaubeer-
büsche dahin und war verschwunden.

jetzt stand er im irrsamen Walde, aber er war
nicht verdutzt, sondern dachte: ich gehe wohl weiter:

kommt dann der T.seibst, so bete ich ein

Vaterunser herunter, das reicht lange Wege.

So ging er weiter und erblickte eine Hütte. Er
klopfte und wurde von einem alten Weib empfangen
und fragte, ob er über Nacht Herberge bekommen
könnte. Die Alte antwortete, die könne er haben, aber
es sei nichts rechtes da, das man anbieten könne,
nur eine dürftige Kammer auf den Boden.

Sie mag sein, wie sie will, ich muss schlafen.

Wie sie einig waren, folgte er ihr auf den Boden
in die Kammer. Da hing ein grosses Wespennest über
dem Bett, und die Alte bat um Entschuldigung, dass
sie einen solchen Besuch habe.

Schadet nichts, Wespen sind wie die Menschen,
sie sind artig, bis man sie reizt. Vielleicht habt ihr
auch Schlangen?

Wir haben einige Stück, ve'rsteht sich.

Schadet nichts; die lieben die Bettwärme, wir
werden schon einig werden! Ist es eine Otter oder
Natter? Ich bin allerdings nicht so genau mit der
Gesellschaft aber ich ziehe die Natter vor 1

Die Alte stand sprachlos, als der Lotse das Bett
zu ordnen anfing und die bestimmte Absicht zeigte, in
dem Raum zu schlafen.

lndessen war vor dem geschlossenen Fenster ein
ängstliches Summen zu hören, und eine grosse Hornisse
versuchte hinein zu kommen.

Lasst das arme Ding herein! sagte der Lotse und
öffnete das Fenster.

Nein nicht so eine! Macht ihr den Garaus! schrie
die Alte.

Warum? Sie hat vielleicht Junge hier, die hungern
werden, und dann muss ich daliegen und Kinderge-
schrei anhören, nein danke! .... Komm, du kleine
Wespe

Sie sticht! rief die Alte.

Nein bewahre, sie sticht nur boshafte Menschen . .

Das Fenster wurde geöffnet. Herein zog eine
Hornisse, so gross wie ein Taubenei. Sie surrte wie
eine Basssaite und begab sich gleich ins Nest hinauf.
Dann wurde es still.

Die Alte ging und der Lotse kroch ins Bett.

AIs er am folgenden Morgen in die Stube hin-
unter kam, fand er die Alte nicht; aber auf dem ein-
zigen Stuhl sass eine schwarze Katze und spann. Die
Katzen sind wegen ihrer Faulheit zum Spinnen ver-
urteilt. Etwas müssen sie tun.

Steh auf, Kafze, sagte der Lotse, damit ich mich
setzen kann.

Und er nahm die Katze und setzte sie auf den
Herd. Aber es war keine gewöhnliche Katze, denn sie
fing mit dem Rückenhaar zu funkeln an, so dass die
Späne Feuer fingen.

Kannst du Feuer machen, so kannst du auch Kaffee
kochen, sagte der Lotse.

Aber die Katze ist von der Wolle, dass sie nicht
will, was ein anderer will, und sie fing an zu fauchen
und zu spucken, dass das Feuer erlosch

Da hörte der Lotse wie ein Spaten gegen die
Hauswand gestellt wurde; und als er hinausguckte, er-
blickte er die Alte. Sie stand an einer Grube, die sie
draussen im Garten aufgeworfen hatte.

So, du gräbst mein Grab, Alte? sagte er.

•ie Alte kam herein. Als sie Viktor frisch und
gesund vor sich sah, geriet sie ganz ausser sich vor
Verwunderung; und jetzt bekannte sie, dass noch nie-
mand lebendig aus der Kammer herausgekommen sei
und dass sie darum im voraus sein Grab gegraben
habe.

Da sie etwas schlechte Augen hatte, fand sie, der
Lotse habe ein wunderliches Halstuch bekommen.

Ja, hast du schon so ein Halstuch gesehen? sagte
Viktor und strich mit der Hand unter sein Kinn. Da
sass eine Schlange, die einen feinen Knoten mit zwei
gelben Flecken gemacht hatte; das waren die Ohren;
und die giänzten wie Edelsteine.

Zeige Tante deine Brustnadeln, sagte der Lotse.
Und als er die Schlange am Kopfe kraulte, waren
zwei Brustnadeln mitten im Rachen zu sehen.

Da fiel die Alte zu Boden und brach aus:

Ich sehe jetzt, dass du meinen Brief bekommen
und ihn verstanden hast. Du bist ein braver Kerll

So, das war dein Automatenbrief ? sagte der Lotse
und nahm den Brief aus der Brusttasche. Den werde
ich unter Glas und Rahmen setzen, wenn ich nach
Hause komme.

Wisst Ihr was in dem Brief stand? — Es hiess
auf deutsch: „Man muss sich nicht ver-
blüffen lassen;“ was man übersetzen kann: „Das
Glück steht dem Kühnen bei“.

*

Anne-Marie, die ihre Mama so ihre Geschichte be-
enden hörte, fragte jetzt:

Ja, aber wie kam es, dass der Lotse vom Schiff
nach der Passage gehen konnte; und er kehrte nach-
her zurück, oder hatte er ailes geträumt?

Das sollst du ein andermal hören, kleine Fragerin,
antwortete die Mama.

ja, aber es standen doch Verse in dem Buche . . .
Was für Verse? Ach so, die im Schneckenladen . . .
die habe ich vergessen . . . sagte die Mama. Aber
man muss nach so etwas nicht fragen; es ist ja nur
ein Märchen, liebes Kind!

Deutsch von Emil Schering

Der Kaiser von Utopia

Ein Volksroman

Von Paul Scheerbart

LXXI

Lotte Wiedewitt

Ais der Moritz aufwachte, sass sein Weib neben
ihm und weinte.

„Warum weinst Du?“ fragte da der Moritz.

Da rief die Lotte schluchzend.

„Moritz! Moritz! Du darfst nicht sterben. lch
habe Dich so lieb — so sehr lieb.“

Und die Lotte küsste den Moritz, aber der sagte:

„Du musst mich, wenn Du mich wirklich lieb hast,
runig sterben lassen. Willst Du mir nicht einmal diese
Freude gönnen? Glaubst Du, dass ich jemals in
meinem Leben eine andere Freude habe? Sieh nur,
wie mein Körper durch das Betttuch leuchtet — so
leuchtet Alles in mir auf — jetzt, da ich endlich
sterben kann. Ich sehe lauter Narren, die mit ihren
Köpfen Fangeball spielen — und dazu lachen die
Köpfe. Und mein^ Lotte muss auch dazu lachen.
Lach doch, Lottel“

Da zwang sich die Lotte und wollte wirklich
lachen — und sie la^hte — aber es klang so
schauerlich, das ihr mit einem Maie Allcs schwarz vor
den Augen wurde — sie fühlte, dass sie umsank und
von vielen Händen gehalten wurde — und dabei hörte
sie neben sich denMoritz nochmals laut lachen und sagen:

„Es ist ja Alles Komödie — das ganze Leben.
Nur das Sterben ist schön. Lasst uns fröhlich sein —
gebt mir Wein — und lasst Musik spielen."

Es geschah wie er sagte.

Die Lotte wurde ohnmächtig hinausgetragen.

LXXII

Das Leichenwunder

Da passierte in einer Leichenhalle am Schwantu-
flusse, in der über fünfhundert bunte Leichen von
Männern der Wissenschaft aufmerksam beobachtet
wurden, abermals etwas Wunderbares: die astartigen
neuen bunten Gliedmassen, die aus den Leichen heraus-
wuchsen und sich immerzu bewegten und veränderten,
bekamen Wunden, die bluteten — und aus diesen
Wunden schossen feurige Strahlen heraus, die zu
grossen Flammen wurden.

Da packte das Entsetzen die Herren Gelehrten,
und sie liefen davon.

Und sie befahlen den Leichenträgern, die Leichen
zu isolieren. Aber die beherzten Leute, die die Leichen
anfassen wollten, bekamen so furchtbare Brandwunden,
dass man beschloss, die Leichen mit langen eisernen
Hebeln herauszuheben und einzeln am Flusse auf-
zubahren; jede Leiche wurde mit einem eisernen
Schirmdach oben gegen Regen geschützt — jede Leiche
lag von der nächsten hundert Meter entfernt.

Und nun wurden die Leichen von allen Seiten
mit Fernrohren beobachtet — und man sah, dass sich
bunte kleine Flammen von den toten Körpern loslösten,
und diese Flammen flogen gegen die eisernen Schirm-
dächer und brannten da Löcher durch — und oben
in der Luft bekamen die Flammen Kometengestalt wie
die grossen Irrlichter.

LXXIII

Der sterbende Moritz

Und der sterbende Moritz rief den Staatsrat an
sein Bett.

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