Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 2.1911-1912

DOI Heft:
Nr. 103 (März 1912)
DOI Artikel:
Döblin, Alfred: Der schwarze Vorhang, [6]: Roman
DOI Artikel:
Boccioni, Boccioni: Manifest der Futuristen
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.31771#0384

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Seine ruhigen grauen Augen sahen schneidend
dünr.e Linien in Menschengesichtern, in denen
er die Schwertstreiche ihres Schicksals erkannte.

Er war nach außen gedrängt worden, seine
Sinne lauerten und sprangen. Er fühlte sich ge-
altert und meinte, daß es vielleicht der Sinn des
Lebens sei, immer sicherer diese Ruhe zu ge-
winnen, immer tiefer Sehnsucht und Erstaunen
fallen zu lassen. Veralten, verarmen, in die Kühle
hinauf reiien, dieses wehe herbstliche Schauern
immer!

So iiberlegen, konnte er über sein Werben
um die fiinkfiißige schwärzäugige, die so anmutig
mit einem Kopfzucken ihre bläulich dunkle Haar-
wellen zurückwarf, lächeln und lächeln. Wenri die
Schauer des Ahweiblichen von ihr sanken, was
blieb von ihr? Er hatte nur entzückt aufge-
nommen, was der Wind ihm über den Weg blies;
ganz wie ein unwissend vertrauend Kind hatte er,
was der Zufall ihm in den Mund steckte, herunter-
geschluckt. Leicht durchgelockert, die Arme geho-
ben, die Finger windfreund, fühlsam und horchsam,
sann er auf verborgene, entlegene Qenüsse. Ja,
auf gefährliche Buhlen sinnen, süß unter Jubel, —
schwarz giänzende Augen, Lippen: zwei schmale
strenge Blutlinien, hüpfende Sohlen, stLes Drehen,
Rieseln, Kreisen der schneeweißen Qewande —!
Aus den Fingerspitzen strömt es hin —

*

Klein sind die Füße Isoldens; aber ihre Augen
sind groß. Ach, wie der schaumfeine Hohn um
ihre Lippen; — Blutnelken stehn vor meinem Fens-
ter. Ein Fluß spült die Ufer in sich ein. Mit
gelbem, breiigen Schlamm, und die Erde rutscht
langsam,-: So trocknet mein versengtes

/

Zünglein, und mein Mund spitzt sich lecker und
saugt an ihrem Hohn, und schlürft ihn ein. Spielt
und strafft sich ihr schneeiges Knie, duck ich rnich,
ein Perser, bei Seite, Kriimme den Riicken, einer
Harfe gleich, die man mit Tränensaiten iiberzieht:
Qurre, bettle um zwei mädchenkeusche niedrige
Brüste.

Isolde, du siehst mich nicht und deine Zehen
treten in dem goldb raunen Schlamm. Zischst
zwischen den Zähnen, was dir grad iurch den
Sinn irrt, — daß dich dein Schuhchen drückt und
dich auch etwas hungert: nun will ich schärfer
zischen und das zuckende Ding fassen, deine Hand.

*

Neben vdelen Frauen und Mädchen ging er auf-
merksam einher, aber innerlich unbewegt. Wenn
er jetzt auf sich geachtet hätte, so hätte er Ver-
wunderung und Befriedigung darüber empfunden,
wie sicher und geringschätzig er geworden war
gegen jene Wunder und Feinde.

Ein junges Madchen, das er oft und teilnahms-
los gesprochen hatte, schien, während sie wieder
sich über Gleichgiltiges Worte sagten, damit ihre
Gegenwart ihnen nicht nur fühlbar, sondern auch
hörbar sei und sie sich nicht voreinander fürchte-
ten, mehr als auf ihre Worte, auf ihre Qedanken
zu achten: so langsam und unbetont lösten sich die
Worte von ihren Lippen und sammelten sich dort
■ erst.

Er, erst selbst mit sich befaßt, bemerkte es
bald, lauschte schärfer, fühlte sich befremdet über
sie, die ihn nicht achtete. Aber nichts von Trau-
rigkeit war in ihm oder bittrer Niedergeschlagen-
heit. Wer war dieses Mädchen, daß sie ein Recht
hatte, sich selbst zii fühlen? Er spottete ihres
Gedankelns. Ja, als eine zornrote, gezwnngene
Qelassenheit ihm antwortete, lachte er dem Mäd-
chen ins Qesicht und ließ sie gleichgiltig von sich
fortgehen und ohne Qruß.

Er freute sich jetzt bei der Erinnerung an seine
erste Niederlage, etwas in ihm fühlte sich gerächt,
und er genoß diesen Streit als den eigentlichen
Schlußakt jener Komödie. Eine Lustigkeit und
Laune ergriff ihn; diese Lustigkeit wünschte sich
zu vergrößern, und sah sich um, und mit eins kam
Johannes, der über die unerwartete Fortsetzung

jener Ungiiickseügkeit beglückt war, dcr Eir.fail,
ganz den Sieg auszunutzen und zu Ende zu ge-
nießen; das Weibchen mußte, zufällig, wie es sich
ihm darbot, wlie ihn auch ein zufälliges Wesen
hatte leiden machen, für ihr Geschlecht büßen.
So tief wollte er es peinigen, wie er selbst ge-
litten hatte und noch tiefer, und er wollte ihrer
Qual zuschauen.

So wenig war sie ihm, nicht viel mehr als sein
Hund. Sie fesselte ihn nicht; aber wenn er jetzt
an sie dachte, jagte ihm ein frohes Qefühl über die
Haut, eine verspielte unnütze Lust.

Ein leichtes Mitleid mit ihr, die ihm verfallen
war, bebte wieder in ihm, das, entfernt, sein Ver-
langen zu dämpfen, es entflammte.

Manchmal schwoll eine Dankbarkeit gegen
das Mädchen in seiner Begierde, und er glaubte,
sie auszuzeichnen, weil er sie gerade zum Spiel-
zeug seiner Lust wählte.

*

Er ging seinem seltsamen, heimlichen Vergnü-
gen nach. Es war ein Fest im Freien, wo er hof-
fen durfte, ihr wieder zu begegnen. Bald sah er
sie auch, auf dem weichen Rasenboden sicher und
freudig auftretend, unter vielen anderen.

Sein Blick griff zu ihr herüber. Auch sie sah
ihn; ihre Blicke streiften ihn rasch und fremd und
glitten über ihn hinweg. Johannes drängte sich
gereizt in ihre Nähe; als neben ihm einige über
sie sprachen, wurde er noch unwilliger.

Was hatten sie sich um seinen Raub zu küm-
mern? Sie nannten sie eigenschön; er wußte es
nicht, auch tat ihr Aussehen nichts zur Sache;
aber er freute sich leise, daß andere doch also nur
auf so Läppisches an ihr achteten.

Sie wagte es also doch. Sie hatte vorher über
ihn und seine Worte hinweggedacht, jetzt plau-
derte sie still und ernst, ohne seiner zu achten.

Ueber einem starken und frohen Qefühle hatte
ihr Bild in Johannes Seele gestanden; er glaubte
ein Recht auf sie zu haben und fand, daß es sich
eigentlich nicht gezieme, wenn sie, die er mit so
ernster Krone geschmückt hatte und noch
schmiicken wollte, leicht hin scherze. Es leuchtete
ihm bald ein, daß er sie nicht zur Rede stellen
konnte unter den Blicken aller. Sie wich ihm ganz
aus, nachdem er noch einmal ihr Auge gleichgiltig
über ihn hingeschaut hatte. Er konnte sie nicht
an den Handknöcheln fassen und höhnisch frech
liebkosen, wie er es wollte, ihr weisen, wie unbe-
rührt ihn ihre Eigenschönheit lasse.

Er war wehrlos gegen sie, ganz wehrlos. Die
Miusik spielte. Es wehte unter dem breiten Laub
der Bäume ein so liebliches Lachen, Schwatzen
und Wortgeschäum, solche lenzliche, weiße Le-
bensleichtigkeit schimmerte und schwebte über
den gelben Sand.

Hernischer Qrimm trat Johannes ins Blut; dann
ging er. Sie hatte ihn vertrieben; sie hatte ihm
alle süße Freude verdorben. Er wollte mit ihr,
gerade mit ihr lustig sein. Es war Gewalttat,
was voriag.

Was maßte sich dieses Weib an? Sie, — o —:
er ballte die Hände zusammen; der gestaute
Qrimm begann in seiner Brust zu klagen und
drohte der Samariterin, die ihn schonen und pfle-
gen soilte, nicht frisch verharschte Wunden auf-
brechen. Ganz wollte er jenes erste Elend ver-
schütten, — sie aber grub wieder daran, grub
breiter und tiefer.

Das Dunkelgefühl, das sich seiner bemächtigte,
lockte mehr auf. Er ging, während hinter ihm sich
der Lenz freute; so fühlte er sich hilflos vertrie-
ben und abgeschiossen; auch der alte scheue Blick
auf die Menschen, die sprachen, spielten und lach-
ten, der Blick, dessen er sich schon entwöhnt
hatte, stach wieder aus seinen Augen, und gerade
sie sah er, die so freudig und sicher auf dem
Rasenboden und dem Sand auftrat. Aber jetzt
war er nicht mehr so kindlich hilflos wie damals,
als er sich verkroch oder neulich, als seine Qe-
danken sich bäumten, aber Mund und Blick

schwiegen. Nun woiite er die alte Schuld restlos
einziehen. Mit Ruten und Skorpionen wollte er
iiber sie fahren, die sein Qlück verstörte, sich
sein Recht zu holen; das Gleichgewicht sollte
wieder hergestellt, dem Qesetz genüge getan wer-
den. O, sein Raub, seine rechte Beute sollte ihm
nicht entwischen.

Keine bewegliche Freude trillerte wie vorher
über seiner Begierde. Das finstere schwere
Rachegefühl schwieg, aus einem fahlen Wänkel
lugend, alles tot um sich.

Manifest der Futuristen

Am achten März 1910 schleuderten wir von
der Rampe des Theaters Chiarella zu Turin unser
erstes Manifest einem Publikum von dreitausend
Personen — Künstlern, gebildeten Menschen, Stu-
denten und Neugierigen — entgegen, einen gewal-
tigen lyrischen Block, der unseren Ekel und unsere
hochmütige Verachtung enthielt, unsere Empörung
gegen die Vulgarität, gegen die pedantische, aka-
demische Mittelmäßigkeit, gegen den Kult dessen,
was antik und wurmstichig ist.

Wir stimmten damit der Bewegung der futu-
ristischen Dichter bei, die vor einem Jahr von F.
T. Marinetti in den Spalten des „Figaro“ einge-
leitet worden war.

Die Schlacht von Turin ist allbekannt geblie-
ben. Wir tauschten fast ebensoviel Faustschiäge
wie Qedanken, um den Qenius der italienischen
Kunst vor einem verhängnisvollen Tode zh be-
wahren.

Wir benutzten nun einen Stilistand in diesem
mächtigen Kampfe, um uns von der Menge zu
trennen und um mit technischer Qenauigkeit unsere
Neuerungen in der Malerei auseinanderzusetzen,
Neuerungen, für die der Salon der Futuristen in
Mailand eine glänzende Manifestatione war:

Unser immer wachsendes Wahrheitsbedürfnis
kann sich nicht mehr mit Form und Farbe begnü-
gen, wie sie bisher aufgefaßt worden sind.

Die Qeste, die wir auf der Leinwand wieder-
geben wollen, wird kein „festgehaltener Augen-
blick“ des universellen Dynamismus mehr sein. Es
wird einfach „die dynamistische Empfindung“ an
sich sein.

In der Tat, alles bewegt sich, alles rennt, alles
verwandelt sich in rasender Eile. Niemals ist ein
Profil unbeweglich vor uns, sondern es erscheint
und verschwindet unaufhörlich. Da das Bild in der
Netzhaut verharrt, vervielfachen sich die Qegen-
stände, wenn sie sich bewegen, sie verlieren ihre
Gestalt, indem sde einander verfolgen, wie über-
stürzte Vibration in dem Raume, den sie durch-
eilen.

Alles ist konventionel! in der Kunst.

Nichts ist absolut in der Malerei. Was eine
Wahrheit für die Maler von gestern war, ist nur
eine Lüge für die von heute. Wir erklären zum
Beispiel, daß ein Porträt nicht seinem Modell ähn-
lich sein darf, und daß der Maler die Landschaf-
ten, die er auf die Leinewand bannen will, in
sich trägt.

Um ein menschliches Antlitz zu malen, muß
man es nicht malen; man muß die ganze Atmo-
sphäre geben, die es umhült.

Der Rauim existiert nicht mehr. Das vom
Regen naßgewordene und unter dem Schein der
elektrischen Lampen glänzende Straßenpflaster
wird in der Tat unendlich hohl bls an den Mittel-
punkt der Erde. Tausende von Kilometem trennen
uns von der Sonne; das verhindert nicht, daß das
Haus vor uns mitten In der Sonnenscheibe sitzt

Wer kann also noch an die Undurchsichtigkeit
der Körper glauben, wenn unsere erhöhte und ver-
vielfältigte Empfindungsfähigkeit die undeutlichen

822
 
Annotationen