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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 2.1911-1912

DOI issue:
Nr. 103 (März 1912)
DOI article:
Boccioni, Boccioni: Manifest der Futuristen
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https://doi.org/10.11588/diglit.31771#0385

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Harold BGnQCm Originalholzschnitt


Manifestation dessen, das vermittelt, schon erraten
hat? Warum sollen wir in unseren Schöpfungen
die verdoppelte Macht unserer Sehkraft ver-
gessen, die den X-Strahlen ähnliche Erfolge er-
zielen kann.

Einige Beispiele unter unzählig vielen geniigen,
um die Wahrheit unserer Behauptung zu zeigen.

Die sechzehn Personen, die man in einem in
Gang befindlichen Autobus vor sich sieht, sind
nacheinander und doch auf einmal eine, zehn, vier,
drei; sie sind unbeweglich und ändern ihre Lage;
sie kommen, gehen, hüpfen in diie Straße, ver-
schlungen von der Sonne, dann setzen sie sich
wieder hin wie ewige Symbole der allgemeinen
Vibration.

W5e oft sahen wir nicht an der Wange der
Person, mit der wir uns unterhielten, das Pferd,
das weit hinten am anderen Ende der Straße da-
herlief.

Unsere Körper dringen in das Sofa, auf das
wir uns setzen, ein, und' das Sofa dringt in uns ein.
Der Autobus stürzt sich in die Häuser, an denen
«r voriibersaust, und die Häuser stürzen sich auf
den Autobus und verschmelzen mit ihm in eins.

Die Anlage der Bilder war bisher geradezu
dämlich traditionell. Die Maler zeigten uns rue-
mals die Gegenstände und Personen vor uns. Von
nun an werden wir den Beschauer in die Mitte dcs
Bildes setzen.

Wie in allen Bezirken des menschlichen
Geistes ein hellseherisches, individuelles Suchen
die unbeweglichen Niedrigkeiten des Dogmas be-
seitigt hat, so muß der belebende Strom der
Wissenschaft bald die Malerei von der akademi-
schen Tradition befreien.

Wir wollen um jeden Preis in das Leben zu-
rückkehren. Die siegreiche Wissenschaft von heute
hat ihre Vergangenheit abgeschworen, um besser
den materiellen Nöten unserer Zeit zu entsprechen;
wir wollen, daß die Kunst, indem sie ihre Ver-
gangenheit abschiwört, endlich unserea intellek-
tuellen Bedürfnissen entsprechen, die uns be-
wegen.

Unser aufgefrischtes Gewissen hindert uns da-
ran, den Menschen als den Mittelpunkt des uni-
versellen Lebens zu betrachten. Der Schmerz
eines Menschen ist ebenso interessant für uns, wia
der Schmerz einer elektrischen Lampe, die unter
krampfhaften Zucken leidet und mit den herzzer-
relßendsten Ausdrücken der Farbe. Bie Harmonie
der Linien und Falten einer modernen Kleidung
üben auf unsere Empfindsamkeit dieselbe rührende
symbolische Macht aus, wie das Nackte auf die
der Alten.

Um dle neuartigen Schönheiten eines futuristi-
schen Gemäldes begreifen und erfassen zu können,
muß die Seele rein werden; das Auge muß sich

seines Schleiers von Atavismus und Kultur ent-
ledigen, um endlich die Natur als einzige Kontrolle
anzusehen und nicht das Museum.

Ist dies erreicht, so wiird man sehr bald mer-
ken, daß sich niemals braune Nüancen auf unserer
Haut spiegelten: Man wird merken, daß das Gelbe
in unserem Fleische erglänzt, daß das Rote strahlt,
und daß das Grüne, Blaue, Violette auf ihm in tau-
send wollüstigen und schmeichelnden Bewegungen
tanzt.

Wie kann man das menschliche Antlitz noch
so rosig sehen, wenn unser durch den Zustand
des Nachtwandelns geteiltes Leben unseren Far-
bensinn und die Fähigkeit, Farben wahrzunehmen,
vervielfacht hat? Das menschliche Antlitz ist
gelb, rot, grün, blau, violett. Die Blässe einer
Frau, die das Schaufenster eines Juweliers be-
trachtet, irisiert intensiver als das prismatische
Feuer der Edelsteine, die sie fasziniert betrachtet.

Unsere Empfindungen in der Malerei können
nicht mehr geflüstert werden. Wir wollen, daß sie
von nun an singen und auf unseren Bildern wie
betäubende, den Triumph verktindende Posaunen
tönen.

Eure an den Halbschatten gewöhnten Augen
werden sich bald strahlenderen Helligkeitserschei-
nungen öffnen. Die von uns gemalten Schatten
werden Kchter sein als die Flächen voller Licht
unserer Vorgänger, und unsere Bilder werden ge-

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