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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 2.1911-1912

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Nr. 62 (Mai 1911)
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Döblin, Alfred: Die Helferin
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Stoessl, Otto: Balzac
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https://doi.org/10.11588/diglit.31771#0050

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sei. Sie habe vor achtzig Jahren dort geiebt; in ihrem zwan-
zigsten Jahre sei sie von der Schwindsucht befallen ge-
wesen und habe im Hospital gelegen. Sie wäre unsäglich
ungem vom Leben geschieden. Sie liabe mit dem Tode
gerungen, wie wenige Menschen, habe es nicht glauben
wollen, dass sie sterben müsse, weil eine Lunge krank sei
und sie selbst sei noch zum Springen gefüllt mit Lebens-
begier. Die unbekannte Macht, deren Namen sie nicht
nennen könne, stand da von ihrem Sessel auf und machte
sie zu einer Dienerin des Todes. Sie durfte wieder-
kehren, nicht aber zum Tanz. Sie durfte im Namen der
giitigen Macht töten, was gehen wollte; die törichte Angst
vor dem Sterben nehmen, sänftigen und rasch beenden.
Sie sei als Helferin unter die Menschen geschickt und
bringe den liebreichen Tod. Sie hätte Herrn Grasso lieb-
gewonnen, und es wäre gut, dass sie jetzt schieden, denn
sie müsste sonst bald für immer seinetwegen sterben.

Es bestätigte sich, dass eine Bessie Bennet vor etwa
hundert Jahren in Senn Fair lebte, dass sie im dortigen
Hospital in ihrem zwanzigsten Jahre starb; ihre Leiche
verschwand aber in auffälliger Weise auf dem Wege zur
Autopsie; zwei Krankenschwestem wurden wegen Dienst-
versäumnis trotz ihrer Beteuerungen entlassen; alle Nach-
forschungen blieben erfolglos.

Als die Richter bei dem zweiten Lokaltermin die
Feststellungen erwogen, erhoben sie gegen Bessie Bennet,
genannt Mike Bondi, die Anklage wegen Giftmordes in
zahllosen Fällen. Sie forderten sie auf, unverzüglich das
Pulver zu zeigen, dessen sie sich bedient habe, widrigen-
falls man sie auf das Spannbrett legen wolle, das man an-
gesichts der Scheusslichkeit ihrer Verbrechen werde her-
vorsuchen lassen. Auch befahl man ihr, endlich das be-
tuliche Wesen abzulegen und den Richtern frei ins Gesicht
zu sehen. Bessie, in dem schwarzen Anzug, den sie
sonst trug, lächelte, aber ihre niedrige Stirn wurde rot;
sie bat, man möchte ihr die Handfesseln abnehmen und
sie gehen lassen. Die Richter, in Wut über den Hohn,
schickten nach den beiden Schergen, um sie zu peitschen.
Auch der vielen Zuhörer bei der Vernehmung hatte sich
in Kürze eine unbezähmbare Erbitterung gegen die teuf-
iische Giftmischerin bemächtigt; sie schickten sich an, von
ihren Plätzen aufzustehen, gegen die Schamlose vorzu-
drängen; die Richter verloren die Zügel über die Menge.
Bessie trat noch einmal vor die Richter, sagte leise, ihre
gebundenen Hände zeigend, sie habe keine Zeit; man
möchte ihr doch die Stricke abnehmen und sie heraus-
lassen.

Ein wüster Bursche schlug ihr von hinten auf die
Schulter; der Pöbel tobte über die Beute weg. In diesem
Augenblick legte sich über alle Brüste eine plötzliche Be-
klemmung. Einer schlug keuchend das Fenster ein, die
frische Luft half ihm nicht. Ein Richter stürzte mit
blauen Lippen nach der Tür auf die Strasse und fiel hin.
Die zehn Richter sassen wie schlafend auf ihren Stühlen.
Die alte Stille herrschte für einen Augenblick in dem Ge-
wölbe, unterbrochen von dem widerhallenden Aufschlagen
von Körpern. Die Hörer stürzten nach vorn über die
Bänke weg. Die Schwarzhaarige liess die grossen ge-
öffneten Augen schweifen. Sie pfiff zornig und scharf
durch die Zähne. Ein Mann taumelte von draussen in
den Raum, packte ihren Arm. Sie berührte sein Haar,
blies gegen seine Füsse; das Feuer loderte an ihm auf;
unter heiserem Geschrei stolperte er zurück, krachte zu
Boden.

Die Schwarzhaarige hatte sich selbst zusammen-
gebogen. Sie brannte, sich aufrichtend, ihre Schläfen be-
rührend, mitten im weiten Gewölbe stehend, gegen die
Decke in schwarzer Flamme auf, stieg in einer qualmen-
den Feuersäule über das Haus.

Der schwere Dampf erstickte die Menschen in ailen
Strassen der Nähe. Gerade zwei Stunden währte die un-
erhört entsetzliche Brunst; etwa sechshundert Menschen,
Kinder und Frauen, verbrannten.

Dann lag der ganze Sladtteil in Schutt. Tagelang
näherte sich niemand den giftigen Dämpfen. Richter und
Beschuldigte waren zugleich verschwunden. Den lieb-
reichen Tod sah man von Stund an nicht mehr durch die
Strassen gehen, gefolgt von seinem weissen, riesigen
Windhund, der lautlos wie er schritt, mit leereu Augen
um sich blickte. Sondern Kranke sollen in ihren
Delirien angegeben haben, dass das fessellos weisse Tier
sich auf ihre Brust schwang, mit seinen leeren Augen sie
ängstigte, mit seinen langen Fängen ihre Kehle eindrückte.

Die Fabel von dem liebreichen Tod, von der Ver-
treibung seiner Gehilfin blieb in dem Lande lebendig.

Balzac

Von Otto Stoessl

Indem uns das Kunstwerk sein „Dies bin ich“ oder
sein „So seid ihr“ enfgegenhält, erweckt es in uns jenes
Menschheitsgefühl, das unser höchstes Erlebnis, unser
eigentliches Schicksal, die Religiosität der geistigen Men-
schen einer entgötterten Erde bedeutet. Die Urformen
dieser subjektiven und objektiven dichterischen Offen-
barung sind Lyrik und Epik. Beide machen die Welt als
Ordnung und umfassende Einheit sichtbar mid Ieuchtend.
Das schöpferische Vermögen ist sonnenhaft wie das Sehen
selbst. Die allwissende Gerechtigkeit der Sprache nennt
darum den Dichter auch „Seher“. Der subjektive Schöpfer
blickt in sich und erschliesst aus der Unendlichkeit seines
Innern das Wesen der Welt, er ist „anschaulich“, der ob-
jektive sieht von sich ab, er „schaut an“.

Zu diesen objektiven, anschauenden Darstellem gehört
Balzac.

Der elementare, innerlich gehaltene, schon durch die
Mystik des Rhythmus zwingende Vers der alten epischen
Gesänge fällt mit der rhapsodischen Unmittelbarkeit des
poetischen Wirkens. Der „Seher“ legt das Purpurgewand
des Priesters ab, ohne auf den Gemütsreichtum seiner
Weihe zu verzichten. Aber es gibt freilich Schattierungen
dieser Herablassung zur Prosa, welche das notwendige
demokratische Uebel des modernen Erzählers bedeutet.
Balzacs Sprache gewinnt wie die Mimicry von Tieren das
Ansehen seiner Umwelt, sie passt sich ihrem Stoff an und
wird — seiner objektiven Natur gemäss — so sachlich
wie ein Gerät des Gebrauchs. In dieser Zweckgestaltung
der Sprache war Balzac wie in seinen Motiven der erste
neue Epiker der neuen Zeit. Wer aber den Herzschlag
einer Prosa als ihre poetische Rechtfertigung vornehmen
kann, wird auch in der seinen zuweilen jenes unsachliche
Wunder der elementaren persönlichen Notwendigkeit, jene
Urkraft erbrausen hören, die mit ihrer inneren Rhythmik,
ihrem auffliegenden Pathos den Dichter ausmacht, zwingt,
hervortreibt. Da scheint ein Haupt, das abgewandt in die
Weite sah, uns plötzlich anzuschauen. Im erzählenden
Stil gibt es unvergessliche Momente, wo der Erzähler all
das Warum des F.rzählens durch einen solchen Blick aufs
ergreifendste verständlich macht.

Inhalt und Wirkung seiner üestaltungen haben die
bleibeude Gemeingiiltigkeit der epischen Art.

ßalzac geht aus dem Fankreich der Restauration her-
vor, aus dem wilden Werden einer unbekannten Ordnung.
Neue soziale Kategorien werden durch Revolution und
Empire zusammengefasst und heraufgeführt. Das Ergeb-
nis: Kapital und Maschine erobern den Erdkreis ohne
Waterloo, ohne Napoleon. Der Zeiigeist ist kein Genie,
der Sieg der Masse sticht allen Einzelvvert aus. Es be-
ginnt die Epoche der papierenen Vertretbarkeit, des aus-
gleichenden Verkehres. Die Gesellschaft wird aus ihren
bisherigen Gruppierungen und Gebieten gerissen und zu
neuen Vereinigungen gedrängt, in neuen Existenzformen
erweisen sich neue Gaben der Anpassung, welche neue
Charaktere erzeugen, gleichsam eine neue psychologische
Flora uud Fauna in einem neuen geistigen Klima. Die
Umwandlung erfolgt unter der steten Gegeuwirkung der
vorhandenen Organisationen. So wird mit dem gegebenen
sozialen Material des monumentalen historischen Auf-
baues der neue errichtet, wie ntan irn alten Rom die
Marienkirche über deu Miuervatempel stellte und mit den
Säulen der antiken Heiligtümer die neuen stützte. Ma-
schine, Kapital, Verkehr, Demokratie, vier Namen für eine
Sache, schaffen in einem fieberhaften Unmass das nioderne
Stadtungeheuer Paris. Dort wird dieser Prozess einer
unwillkürlichen Neubildung wie in einern Reagenzglase
sichtbar. Das weite Land draussen kennt die unsterb-
lichen natürlichen Kategorieu der primitiven Ordnung: den
Bauer, Jäger, Hirten, den Handwerker, den grossen Grund-
herm, der die irdische, die Kirche, welche die geistige
Schutzhand über diese Gesellschaft hält. Das Land be-
hauptet mit der Zähigkeit des Naturgegebenen den wirken-
den fruchtbaren Widerspruch gegeu das fressende Un-
wesen Stadt. Innerhalb dieser Gegensätze rundet sich
alles Leben zum Schicksal. Die Stadt bedeutet Bewegung,
das Land Ruhe. Vermischung und Ausgleichung setzeu in
der städtischen Demokratie ein und schlagen gegen den
Konservatismus von draussen ihre Maschinenpranken, als
gelte es, seibst die Gewohnheiten der Jahreszeiten zu ver-
nichten, das Surrogat kniet sich dem Produkt wie ein Alp
auf die Brust.

Das sind die ungeheuren epischen Elemente des neuen
Dichters, des ersten und grössten der neuen Erde. Er

hat die Dämonie dieser Gegensätze mit jener schöpferischen
Anschauung durchdrungen, die den Dichter göttiich
macht und mit jenem ruhevollen Mitgefühl, dessen Lust
der Anschauuug und Notwendigkeit der Gestaltung das
höchste Mass von Macht bedeutet, das im Leben überhaupt
iv vergeben ist. Diese Fülle von Figur wird ihrem
irdischen Gefäss zum Schicksal, das Epos hat seine an-
gestammte Funktion einer umfassenden Erkenntnis und
darstellenden Schlichtung, es ist selbst eine soziale Auf-
gabe.

Balzac hat sie vollendet, er war, wie nur einer der
wenigen Erzähler, der Herr der Dinge; er gab dem Chaos
Ordnung, iudem er es als Ordnung wahrnahm, er erhellte
es und schied Tag von Nacht, Feste von Wasser. Und
alles dies mit der schlichten, sachlichen, freilich romanisch
durchdringenden Kiarheit der Prosa. In seinem Gehirn
dünkt uns die gauze Erfahrung der Menschheit bis in die
inikroskopischen Einzelheiten versammelt, das gehorsamste
Gedächtnis bietet sie dem fordernden Augenblick und sie
erscheinen selbstverständlich und wunderbar, wie am
ersten Tag. Er kennt zum Beispiel die Finten eines Wech-
selprotestkreislaufes, eines Zivilprozessverfahrens, einer
Börsenspekulation bis in ihre äussersten Möglichkeiten
ebenso genau, wie die Schliche der Spionage und die
Methoden der Gauner. Er weiss, dass, wer einmal im
Bagno die Kette geschleift, auch in der Freiheit, wenn auch
unmerklich, das ehedem gefesselte Bein nachzieht. Er
setzt das Veriahren des Buchdrucks und die Arten der
Papiergewinnung auseinander. Die Wirksamkeit einer
komplizierten technischen Arbeit ist ihm gleich deutlich
wie der Mechanismus des Denkens und Fühlens, und er
sieht das Ineinandergreifen der menschlichen Regungen,
welche sich vor sich selber verbergen wie das offene
Räderwerk einer Maschine. Immer wieder machen über-
raschende, doch selbstverständliche Einzelheiten für die
untrügliche Wahrheit des Ganzen Beweis und dies mit
einer Einfalt, die über ihre Genialität gleichsam zu lächeln
scheint, wie dem schöpferisch Erhabenen eben Bewusst-
sein und unwillkürliches Walten des Gefühls in eine
Lebenskraft zusamnienfliesst. Seine Helden sehen wir noch
heute in unseren Städten uni Troja und Helena kämpfen,
trotz einem Odysseus und Achill. Politik, Kunst, Lebens-
genuss, Spielerleidenschaft, Weiberlist, Intrige, Ver-
brechen, Karriere, Adel, Schönheit, Ehrgeiz, Leichtsiun,
Habsucht sind in einer Reihe ewig typischer Gestalteu
verkörpert, deren Erlebnisse ineinander verschlungen, doch
deutlich heraustreten, wie das Muster in einem Gewebe.
Eine Einsicht, die viel wunderbarer erscheint als die Er-
findung, fasst mit der zartesten Sicherheit das wesentliche
Problem jedes Charakters.

Die Schicksale der Männer schreiten durch Reihen von
Weibern hin, der Glanz von Schönheit, von lustvoilem
Weiberfleisch, von sinnlicher Freude und Freiheit macht
einen verwirrenden Vordergrund aus, von dessen Pracht
die schroffen Geschehnisse sich unheimlich absetzen. Die
Fülle dieser Weiberwelt unter, neben, über der männlichen
wird gleichwohl aufs deutlichste umrissen durch die
genial vereinfachende Ueberzeugung: das Weib ist in
allem Tun, Wollen und Denken durchaus vom Gesdilecht
bedingt, von jenem Schosse, der zur Lust und zur Mutter-
schaft gemacht, seinen ewigen Funktionen zustrebt. Alles
Erlebnis der Frau ist ihrer Natur, ihrer Lebensquelle zu-
gewandt und es gibt nur mannigfache Verschwisterungen
zweier Schicksale: der Mutter und der Geliebten. Aber
welcher Blick für diese Abschattungen! Er zeigt einmal
die Mutter zweier Söhne. Der eine ist ein kindlich reiner
Künstler, der andere ein ruchloser Schurke. Die Mutter
hängt ihr ganzes Herz an den missratenen, eben weil er
ihrer mehr bedarf, und der um ihre Liebe verkürzte Sohn
versteht als schöpferischer Mensch auch aufs innigste die-
ses schmerzliche Muss der Mutterschaft. Auf der anderen
Seite die Kurtisane, dazwischen alle Lebensstufen der weib-
lichen Natur und überall der Heroismus des Geschlechtes
als die reine Blüte des Instinkts. Er zeigt ein andermal
das Martyriuni einer verdorbenen Kurtisane, die ein zwei-
tes, wahreres, weil willentliches Magdtum gewinnt, um
es zu opfern, einer raffinierten Weltdame letzte Lust der
erfundenen und darum höheren zweiten Unschuld. Er
sagt gelegentlich über ihren Blick: „es war einer jener
Blicke, die eine blonde Frau brünett erscheinen lassen“,
und in einern Scherze formulicrt er, was den Frauen-
zimmem das Genie des Mannes bedeutet, indem er eben
diese Weltdame, da sie den scheuen Handkuss eines Dich-
ters empfängt, sich nach dieser Probe „von der Literatur
sehr viel versprechen“ lässt.

Alles Männliche aber nimmt gleichsam vom Haupte
seinen Ausgang und ist vielfältig wie das Denken selbst.

Er fesselt jeden Mann an sein typisches Schicksai
und die Zahl der ewig sinnbildlichen Ereignisse lässt sich
nicht einmal beiläufig angeben, denn seine Komposition
 
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