kennt keine Nebenfiguren und keine unentschiedenen Kon-
ilikte, sondern schliesst in ihrer ineinandergreiienden Glie-
derung die Probleme aller Berufe, Stände, Individuen zu-
sammen wie steineme Pfeilerbündel, die das Gewölbe
tragen. In eine Erzählungsreihe tritt der junge Provin-
ziale, der Paris erobern will, von einem Verbrecher ge-
fördert, von Frauengunst getragen, und von der eigenen
Haltlosigkeit endlich gestürzt wird. Gleich steht ihm der
ungeheure Missetäter zur Seite, welcher von der Einsicht
eines Gottes zum Weiberfeind bestimmt wird, denn wenn
das Genie des Verbrechens die endgiiltige Verneinung der
Gesellschaft bedeutet, muss es von der Natur selbst zur
Unfruchtbarkeit verdammt sein. Und auf die Spuren die-
ses erhabenen Ungeheuers tritt wieder der lauernde Spion,
auf ihn folgt der Richter und erlebt an seinem Objekte
seinen tragischen Konflikt, indem der Richter nicht Diener
einer absoluteii, sondern eiuer relativen Gerechtigkeit
bleibt, kein zwingendes, sondern ein letzten Endes will-
kürliches, relatives, bezwungenes Gesetz verwaltet, so dass
der Schutz der ihm anvertrauten Ordnung zuweilen die
Befreiung der Schuldigen, nicht die Strafe verlangt. Der
einzelne setzt das Recht des Stärkeren selbst gegen das
Gewissen des Gesetzes durch. Es gibt eine Legitimität
des solidarischen Unrechts. Und in der gleichen epischen
Reihe stehen die Verwickelungen der Politik und Ver-
schwörungen; Ehrgeiz und Habsucht liegen wie Spinnen
auf der Lauer; das Leben der Menschen vergegenwärtigt
die allgemeine furchtbare Friedlosigkeit der ganzen Natur,
die fortgesetzte Vernichtung zu ihrer Erneuerung verlangt.
So kehren auf wechselnden Schauplätzen verwandte Er-
eignisse wieder, kein Geschehen mündet ins Leere, kein
Faden verliert sich, vielmehr reicht jeder in die Ferne und
die Anschauung ist so vollkommen, dass sie im Keim
der Gegenwart den künfligen Bauinriesen der Entwickelung
vorherbestimmt und nichts Folgenloses auch nur denken
kann. Balzac spricht vom Journalismus, der aus einem
Beruf eine Eigenschaft geworden ist und durchdringt diese
Pest des Gedankens so ganz, dass uns heute ein Schauer
überläuft, da wir erleben, was er voraussah. Es ist, als
zeige eine Hand aus dem Grabe.
Und inmitten des gewaltigen Stromes von Handlung
und Erscheinung blitzt wie tausendfältige Sonnenbilder im
Wasser Erfahrung in unvergesslichen Worten auf. Nur
eines dieser unzählbaren Worte will ich wiederholen: „Die
Macht beweist sich selbst ilire Kraft nur durch den selt-
samen Missbrauch, dass sie irgend eine Absurdität mit
den Pahnen des Erfolges krönt, und zwar dem Genie zum
Spott, der einzigen Kraft, die die absolute Macht nie er-
reichen kann.“
Diese Erfahrung, in eiuem Satz eine Welt ergreifend,
war in diesem einzigen Manne einer Kraft gesellt, welche
der ungeheuren Organisation des Lebens eine künstlerische
des Abbildes entgegenhielt, deren Geist und Reichtum der
Wirklichkeit gewachsen war, ja sie zu übertreffen scheint.
Es ist die Erhabenheit der epischen Sendung: sie
kommt aus ihrem Tag, aber sie überholt ihn durch die
Macht ihrer Anschauung und ordnenden Erkeimtnis um
eine Ewigkeit. Die Dichtung ist dem Leben soweit voraus,
wie die Menschheit dein Mensch'en. Solcher Flug hat
Balzac über seine Zeit getragen.
DieVolksversaramlung
Von Max Brod
Schluss
Der Russe hatie zu redeu begonnen; wesentlich
anders als Nussbaum, fast schüchtern mit seinem Akzent.
Der Mund öffnete sich weit, und da sein Schnurrbart nur
gegen die Mundwinkel hin stand, unter der Nase eine
grosse Liicke freiliess, so sah man deutlich, wie er sich
bemühte und wie doch nur ein matter Ton vordrang.
Alles in allem war es ein ungewohnter Anblick. Nach
einer deutschen Einleitung sprach Pitroff russisch. Beim
Klang dieser fremden Stimme, die den ganzen Saal, die
Situation zu verändern schien, begann Hugo sich zu
schämen. Es war nicht mehr an der Zeit, Alfreds Frage
zu beantworten, also zeigte er wenigstens durch eine
Gegenfrage seine Teilnahme: „Was haben Sie gegen diesen
Pitroff? Kennen Sie ihn?“
Alfred hatte dies vielleicht erwartet, denn er ant-
wortete sehr bestimmt und vorsichtig: „Gestatten Sie zu-
nächst, kennen Sie ihn?“
„Nein, gar nicht . . .“
„Aber er ist doch . . . angeblich . . . Herrn Nuss-
baums Freund.“
„Was wollen Sie damit sagen,“ fuhr Hugo auf, un-
willkürlich Alfreds stramm studentisches Wesen nach-
ahmend. „Ich kenne aucli Herrn Nussbaum nicht. Mit
Ausnahme dessen, dass wir uns eiumal bei einer Kegel-
partie angegrobst haben, ist mir dieser Herr gänzlich
fremd und gleichgültig . . .“
„So, das freut mich. Dann kann ich es Ihnen ja
sagen . . . Dieser Nussbaum . . .“
„Warum spricht er eigentlich? Was für Zwecke ver-
folgt er mit dieser Versammlung? . . .“
„Ein Mandat natürlich.“
„Also nicht wegen seiner Verwandten . . .“
„Keine Spur.“
Hugo dachte daran, wie oft er über diesen einen
Menschen schon seine Meinung geändert hatte. Und wahr-
scheinlich war auch diese neue Idee falsch, einseitig. Es
ist wirklich nicht leicht, fiel ihm ein, über Leute zu ur-
teilen, besonders iür einen jungen Menschen nicht . . .
Vielleicht ist auch Irene ganz anders . . . Seine Gedanken
eilten wieder zu ihr.
„Aber davon wollte ich auch nicht reden . . . Kom-
men Sie wieder unter die Galerie, da sind wir ungestört
. . i. sondern dieser Pitroff interessiert mich nur . . . Also
ich habe herausgebracht, dass Nussbaum den Herrn Pi-
troff erst seit einiger Zeit kennt. Trotzdem stellte er ihn
iiberall als alten Freund vor. Das muss doch seine Gründe
haben . . . Sind Sie auch morgen in Eichwald?“
„Ja. Fräulein Irene hat mich eingeladen.“ Hugo
wunderte sich, wie er den Namen so gleichgültig von der
Zunge bringen konnte.
„Uud abends im Rathauskeller?“
„Nein . . . aber wie hängt das mit Pitroff zusammen,
ich bitte.“
„Was? Sie wissen also noch gar nicht, dass sich
meine Cousine Kamilla morgen abend mit Pitroff verloben
soll? Sie wissen nicht? . . . Mit Pauken und Trompeten.
. . . Aber das muss verhindert werden, ich mache ihm
heut einen Tanz, wenn's gelingt . . .“
Hugo begann zu versteheii. Also durch die politische
Gegnerschaft blickte eine Liebe durch. . . .
Alfred aber kam ihm zuvor: „Glauben Sie nicht, dass
es wegen des Mädchens ist. Ein Mädel, ich bitt’ Sie, ein
Stück Fleisch mit Augen ... Sie tut mir nur leid. Da
soll sie diesen wildfremden Menschen nehmen, einen an-
geblich guten Bekannten von Herrn Nussbaum . . . Diesen
Familien ist doch jeder Bräutigam recht. Man hat sich er-
kundigt, gut. Moneten hat er, irgend eine Zwirnfabrik
in Petersburg. Und da soll das Mädel, einfach mir nichts,
dir nichts, über die Grenze geschafft werden . . .“
„Sie will nicht? . . .“
Pitroff sprach wieder deutsch. Er lächelte höflich und
unbedeutend. Manchmal stiess er die Luft durch die
Nase aus, wenn er sich auf ein Wort nicht besann. Man
langweilte sich.
„Aha, da sind sie schon!“ rief Alfred.
In der Türe zeigte sich eine Anzahl gleichgekleideter
junger Leute, alle in Touristenhemden, grüne Jägerhütchen
auf dem Kopf.
„Wer?“
„Der Turnverein, — meine Freunde.“
Die Neuangekommenen drängten in den Saal und stell-
ten sich längs der Hinterwand auf. Plötzlich rief einer
von ihnen laut: „Kellner, ein Bier . . .“
Pitroff stutzte, er glaubte, man frage ihn etwas, und
hielt ein.
„Ein Bier, ein Bier . . . Zwei Biere,“ schrien die
Turner und stampften mit ihren Stöcken auf. „Wirtschaft,
Wirtschaft . . .“
Einige im Publikum lachten. Man schickte den Kell-
ner zu den neuen Gästen. Jemand vom Komitee verstand
schon die ernstere Seite der Sache; mit seinem Arm, den
eine rote Binde schmückte, bahnte er sich von den ersten
Reihen aus schnell einen Weg zu den Fremden hin. Ein
Ausschussherr auf dem Podium drang in Pitroff, weiter-
zureden.
„Ein Bier . . .“ brüllte der Verein, eiuzeln abwech-
selnd und im Chor. Die Zuhörer platzten in lautes Lachen
aus. Der Ordner, endiich bei den Störern angelangt, be-
schwor sie: „Meine Herren . . .“ Die Eindringlinge
missverstanden ihn absichtlich und, als sei er der Kellner,
zankten sie mit ihm: „Nun, Biere, wird’s bald?“ . . .
Pitroff oben lehnte sich an den Tisch und nahm seine Rede
wieder auf, obwohl niemand mehr aufmerkte . . .
ln diesem Moinent beugte sich Alfred Popper weit
vor, hing förmlich über dem benachbarten Tisch, eine
Hand stützte er auf den Sessel, eine an die nächste Säule,
so dass er sich hoch emporhob und von hier aus, mit weit-
geöffneten Augen, liess er einen schrillen Pfiff ertönen.
Er schwenkte den Hut und rief, sich fallen lassend: „Ab-
zug!“
Dies war das Signal. Sofort stimmten die Turner
ein: „Abzug, Abzug Pitroff,“ und drängten in einem Keil
gegen die Tribüne vor. Der Ordner wurde zu Boden ge-
worfen. Gläser klirrten. Die Frauen kreischten entsetzt
auf. An allen Tischen waren die Leute aufgesprungen und
schon begannen die Arbeiter und die Turner einander zu
prügeln. Vergebens mahnte der Kommissär mit seiner
gleichmütigen Stimme, sie verhallte in dem Trubel. Da
uahm er seine Kappe und erklärte die Sitzung für auf-
gelöst. Die Ausschussmitglieder verliessen das Podium,
jeder um seine Familie besorgt. Der Wirt hetzte, laut
fluchend, seine Kellner ins Getümmel. Jemand zahlte,
andere flohen schreckensbleich. „Polizei“ wurde ge-
rufen. Man hatte zwei Nebentüren geöffnet und durch
diese ergoss sich der Strom der Aengstlichen, wenig neu-
gierig nach dem weiteren Verlauf. Zugluft entstand, kaite
Windstösse drangen ein und die Lampen begannen zu
flackern, zeitweise sich ganz zu verdunkeln, so dass es den
Anschein hatte, als setze sich die Verwirrung auch in die
oberen Regionen fort . . . In der Mitte des Saales aber,
um Pitroff, der, plötzlich lebendig geworden, gestikulierte,
um Nussbaum, dessen Stimme erdröhnte, um Alfred, der
wie wahnsinnig schrie und um sich stiess, war ein wil-
des Gemenge entstanden. Man sah Hüte davonfliegen,
erhitzte Gesichter, geschwungene Stöcke, stürzende Tische.
Die Parteien spieu einander alte Vorwürfe ins Gesicht.
Eine Ohrfeige knallte, einige rangen miteinander am
Boden. Das fortgesetzte Geschrei ballte sich zu einem
einzigen langen Ton zusammen . . . Hugo blickte be-
geistert in den Wirbel. Kampf also, Leidenschaft, und
war es auch Politik, nicht Liebe — hier fühlte er sich
wohl, hier war er zu Hause. Er hob die Fäuste. Und
Irene retten! Mit plötzlichem Entschluss warf er sich
mitten in die Raufenden, den Kopf voran, eine stählerne
Härte fühlte er in seiner Stirn, sprengte die feindlichen
Reihen, trat mit den Füssen auf andere Füsse, kletterte über
Beine hinauf und über Sessel hinunter. Jetzt war er da.
Er sah Irenens wehenderi Schal, den Hut, noch einen
Schritt . . . Irene stand zwischeii Dr. Taubelis und Nuss-
baum, die mit ihren hohen Gestalten, höher noch als sie,
ihr freien Weg machten. Auch sie ragte über das Ge-
menge, jedenfalls über Hugo hinaus, der wie ein Stöpsel
zu ihren Füssen anrollte. Sie beachtete ihn gar nicht.
Sie sah ihn vielleicht nicht einmal, von den zwei Türmen
an ihren Seiten mit fortgezogen. Er drehte sich unten
zwischen Bäuchen, an Westen und Rockknöpfen vorbei,
im Dunkel, im Lärm und Gewühl, Kniescheiben drückten
sich um seinen Schädel herum. Jetzt sah er es ein: er
war zu klein — einfach zu klein — . . . Er erstarrte vor
Schmerz über diese Erkenntnis, alle Tatkraft verliess ihn.
Eine Weile nachher war Irene mit ihren Begleitem ver-
schwunden und der geteilte Haufe schloss sich wieder um
Hugo zusammen.
Dymow
Der Verein für Kunst veranstaltete am Sonn-
abend nachmittag im Modernen Theater eine Urauf-
führung: Irrwege von Ossip Dymow. Der Autor ist
in Deutschland durch seine Novellen bekannt geworden.
Sein Drama Irrwege nennt er bescheiden fünf Szenen. Es
wird gegen das Werk vom sogenannten dramatischen Stand-
punkt aus vieles eingewendet werden. Ich bin aber der
Ansicht, dass für das Theater alles geeignet ist, was inter-
ilikte, sondern schliesst in ihrer ineinandergreiienden Glie-
derung die Probleme aller Berufe, Stände, Individuen zu-
sammen wie steineme Pfeilerbündel, die das Gewölbe
tragen. In eine Erzählungsreihe tritt der junge Provin-
ziale, der Paris erobern will, von einem Verbrecher ge-
fördert, von Frauengunst getragen, und von der eigenen
Haltlosigkeit endlich gestürzt wird. Gleich steht ihm der
ungeheure Missetäter zur Seite, welcher von der Einsicht
eines Gottes zum Weiberfeind bestimmt wird, denn wenn
das Genie des Verbrechens die endgiiltige Verneinung der
Gesellschaft bedeutet, muss es von der Natur selbst zur
Unfruchtbarkeit verdammt sein. Und auf die Spuren die-
ses erhabenen Ungeheuers tritt wieder der lauernde Spion,
auf ihn folgt der Richter und erlebt an seinem Objekte
seinen tragischen Konflikt, indem der Richter nicht Diener
einer absoluteii, sondern eiuer relativen Gerechtigkeit
bleibt, kein zwingendes, sondern ein letzten Endes will-
kürliches, relatives, bezwungenes Gesetz verwaltet, so dass
der Schutz der ihm anvertrauten Ordnung zuweilen die
Befreiung der Schuldigen, nicht die Strafe verlangt. Der
einzelne setzt das Recht des Stärkeren selbst gegen das
Gewissen des Gesetzes durch. Es gibt eine Legitimität
des solidarischen Unrechts. Und in der gleichen epischen
Reihe stehen die Verwickelungen der Politik und Ver-
schwörungen; Ehrgeiz und Habsucht liegen wie Spinnen
auf der Lauer; das Leben der Menschen vergegenwärtigt
die allgemeine furchtbare Friedlosigkeit der ganzen Natur,
die fortgesetzte Vernichtung zu ihrer Erneuerung verlangt.
So kehren auf wechselnden Schauplätzen verwandte Er-
eignisse wieder, kein Geschehen mündet ins Leere, kein
Faden verliert sich, vielmehr reicht jeder in die Ferne und
die Anschauung ist so vollkommen, dass sie im Keim
der Gegenwart den künfligen Bauinriesen der Entwickelung
vorherbestimmt und nichts Folgenloses auch nur denken
kann. Balzac spricht vom Journalismus, der aus einem
Beruf eine Eigenschaft geworden ist und durchdringt diese
Pest des Gedankens so ganz, dass uns heute ein Schauer
überläuft, da wir erleben, was er voraussah. Es ist, als
zeige eine Hand aus dem Grabe.
Und inmitten des gewaltigen Stromes von Handlung
und Erscheinung blitzt wie tausendfältige Sonnenbilder im
Wasser Erfahrung in unvergesslichen Worten auf. Nur
eines dieser unzählbaren Worte will ich wiederholen: „Die
Macht beweist sich selbst ilire Kraft nur durch den selt-
samen Missbrauch, dass sie irgend eine Absurdität mit
den Pahnen des Erfolges krönt, und zwar dem Genie zum
Spott, der einzigen Kraft, die die absolute Macht nie er-
reichen kann.“
Diese Erfahrung, in eiuem Satz eine Welt ergreifend,
war in diesem einzigen Manne einer Kraft gesellt, welche
der ungeheuren Organisation des Lebens eine künstlerische
des Abbildes entgegenhielt, deren Geist und Reichtum der
Wirklichkeit gewachsen war, ja sie zu übertreffen scheint.
Es ist die Erhabenheit der epischen Sendung: sie
kommt aus ihrem Tag, aber sie überholt ihn durch die
Macht ihrer Anschauung und ordnenden Erkeimtnis um
eine Ewigkeit. Die Dichtung ist dem Leben soweit voraus,
wie die Menschheit dein Mensch'en. Solcher Flug hat
Balzac über seine Zeit getragen.
DieVolksversaramlung
Von Max Brod
Schluss
Der Russe hatie zu redeu begonnen; wesentlich
anders als Nussbaum, fast schüchtern mit seinem Akzent.
Der Mund öffnete sich weit, und da sein Schnurrbart nur
gegen die Mundwinkel hin stand, unter der Nase eine
grosse Liicke freiliess, so sah man deutlich, wie er sich
bemühte und wie doch nur ein matter Ton vordrang.
Alles in allem war es ein ungewohnter Anblick. Nach
einer deutschen Einleitung sprach Pitroff russisch. Beim
Klang dieser fremden Stimme, die den ganzen Saal, die
Situation zu verändern schien, begann Hugo sich zu
schämen. Es war nicht mehr an der Zeit, Alfreds Frage
zu beantworten, also zeigte er wenigstens durch eine
Gegenfrage seine Teilnahme: „Was haben Sie gegen diesen
Pitroff? Kennen Sie ihn?“
Alfred hatte dies vielleicht erwartet, denn er ant-
wortete sehr bestimmt und vorsichtig: „Gestatten Sie zu-
nächst, kennen Sie ihn?“
„Nein, gar nicht . . .“
„Aber er ist doch . . . angeblich . . . Herrn Nuss-
baums Freund.“
„Was wollen Sie damit sagen,“ fuhr Hugo auf, un-
willkürlich Alfreds stramm studentisches Wesen nach-
ahmend. „Ich kenne aucli Herrn Nussbaum nicht. Mit
Ausnahme dessen, dass wir uns eiumal bei einer Kegel-
partie angegrobst haben, ist mir dieser Herr gänzlich
fremd und gleichgültig . . .“
„So, das freut mich. Dann kann ich es Ihnen ja
sagen . . . Dieser Nussbaum . . .“
„Warum spricht er eigentlich? Was für Zwecke ver-
folgt er mit dieser Versammlung? . . .“
„Ein Mandat natürlich.“
„Also nicht wegen seiner Verwandten . . .“
„Keine Spur.“
Hugo dachte daran, wie oft er über diesen einen
Menschen schon seine Meinung geändert hatte. Und wahr-
scheinlich war auch diese neue Idee falsch, einseitig. Es
ist wirklich nicht leicht, fiel ihm ein, über Leute zu ur-
teilen, besonders iür einen jungen Menschen nicht . . .
Vielleicht ist auch Irene ganz anders . . . Seine Gedanken
eilten wieder zu ihr.
„Aber davon wollte ich auch nicht reden . . . Kom-
men Sie wieder unter die Galerie, da sind wir ungestört
. . i. sondern dieser Pitroff interessiert mich nur . . . Also
ich habe herausgebracht, dass Nussbaum den Herrn Pi-
troff erst seit einiger Zeit kennt. Trotzdem stellte er ihn
iiberall als alten Freund vor. Das muss doch seine Gründe
haben . . . Sind Sie auch morgen in Eichwald?“
„Ja. Fräulein Irene hat mich eingeladen.“ Hugo
wunderte sich, wie er den Namen so gleichgültig von der
Zunge bringen konnte.
„Uud abends im Rathauskeller?“
„Nein . . . aber wie hängt das mit Pitroff zusammen,
ich bitte.“
„Was? Sie wissen also noch gar nicht, dass sich
meine Cousine Kamilla morgen abend mit Pitroff verloben
soll? Sie wissen nicht? . . . Mit Pauken und Trompeten.
. . . Aber das muss verhindert werden, ich mache ihm
heut einen Tanz, wenn's gelingt . . .“
Hugo begann zu versteheii. Also durch die politische
Gegnerschaft blickte eine Liebe durch. . . .
Alfred aber kam ihm zuvor: „Glauben Sie nicht, dass
es wegen des Mädchens ist. Ein Mädel, ich bitt’ Sie, ein
Stück Fleisch mit Augen ... Sie tut mir nur leid. Da
soll sie diesen wildfremden Menschen nehmen, einen an-
geblich guten Bekannten von Herrn Nussbaum . . . Diesen
Familien ist doch jeder Bräutigam recht. Man hat sich er-
kundigt, gut. Moneten hat er, irgend eine Zwirnfabrik
in Petersburg. Und da soll das Mädel, einfach mir nichts,
dir nichts, über die Grenze geschafft werden . . .“
„Sie will nicht? . . .“
Pitroff sprach wieder deutsch. Er lächelte höflich und
unbedeutend. Manchmal stiess er die Luft durch die
Nase aus, wenn er sich auf ein Wort nicht besann. Man
langweilte sich.
„Aha, da sind sie schon!“ rief Alfred.
In der Türe zeigte sich eine Anzahl gleichgekleideter
junger Leute, alle in Touristenhemden, grüne Jägerhütchen
auf dem Kopf.
„Wer?“
„Der Turnverein, — meine Freunde.“
Die Neuangekommenen drängten in den Saal und stell-
ten sich längs der Hinterwand auf. Plötzlich rief einer
von ihnen laut: „Kellner, ein Bier . . .“
Pitroff stutzte, er glaubte, man frage ihn etwas, und
hielt ein.
„Ein Bier, ein Bier . . . Zwei Biere,“ schrien die
Turner und stampften mit ihren Stöcken auf. „Wirtschaft,
Wirtschaft . . .“
Einige im Publikum lachten. Man schickte den Kell-
ner zu den neuen Gästen. Jemand vom Komitee verstand
schon die ernstere Seite der Sache; mit seinem Arm, den
eine rote Binde schmückte, bahnte er sich von den ersten
Reihen aus schnell einen Weg zu den Fremden hin. Ein
Ausschussherr auf dem Podium drang in Pitroff, weiter-
zureden.
„Ein Bier . . .“ brüllte der Verein, eiuzeln abwech-
selnd und im Chor. Die Zuhörer platzten in lautes Lachen
aus. Der Ordner, endiich bei den Störern angelangt, be-
schwor sie: „Meine Herren . . .“ Die Eindringlinge
missverstanden ihn absichtlich und, als sei er der Kellner,
zankten sie mit ihm: „Nun, Biere, wird’s bald?“ . . .
Pitroff oben lehnte sich an den Tisch und nahm seine Rede
wieder auf, obwohl niemand mehr aufmerkte . . .
ln diesem Moinent beugte sich Alfred Popper weit
vor, hing förmlich über dem benachbarten Tisch, eine
Hand stützte er auf den Sessel, eine an die nächste Säule,
so dass er sich hoch emporhob und von hier aus, mit weit-
geöffneten Augen, liess er einen schrillen Pfiff ertönen.
Er schwenkte den Hut und rief, sich fallen lassend: „Ab-
zug!“
Dies war das Signal. Sofort stimmten die Turner
ein: „Abzug, Abzug Pitroff,“ und drängten in einem Keil
gegen die Tribüne vor. Der Ordner wurde zu Boden ge-
worfen. Gläser klirrten. Die Frauen kreischten entsetzt
auf. An allen Tischen waren die Leute aufgesprungen und
schon begannen die Arbeiter und die Turner einander zu
prügeln. Vergebens mahnte der Kommissär mit seiner
gleichmütigen Stimme, sie verhallte in dem Trubel. Da
uahm er seine Kappe und erklärte die Sitzung für auf-
gelöst. Die Ausschussmitglieder verliessen das Podium,
jeder um seine Familie besorgt. Der Wirt hetzte, laut
fluchend, seine Kellner ins Getümmel. Jemand zahlte,
andere flohen schreckensbleich. „Polizei“ wurde ge-
rufen. Man hatte zwei Nebentüren geöffnet und durch
diese ergoss sich der Strom der Aengstlichen, wenig neu-
gierig nach dem weiteren Verlauf. Zugluft entstand, kaite
Windstösse drangen ein und die Lampen begannen zu
flackern, zeitweise sich ganz zu verdunkeln, so dass es den
Anschein hatte, als setze sich die Verwirrung auch in die
oberen Regionen fort . . . In der Mitte des Saales aber,
um Pitroff, der, plötzlich lebendig geworden, gestikulierte,
um Nussbaum, dessen Stimme erdröhnte, um Alfred, der
wie wahnsinnig schrie und um sich stiess, war ein wil-
des Gemenge entstanden. Man sah Hüte davonfliegen,
erhitzte Gesichter, geschwungene Stöcke, stürzende Tische.
Die Parteien spieu einander alte Vorwürfe ins Gesicht.
Eine Ohrfeige knallte, einige rangen miteinander am
Boden. Das fortgesetzte Geschrei ballte sich zu einem
einzigen langen Ton zusammen . . . Hugo blickte be-
geistert in den Wirbel. Kampf also, Leidenschaft, und
war es auch Politik, nicht Liebe — hier fühlte er sich
wohl, hier war er zu Hause. Er hob die Fäuste. Und
Irene retten! Mit plötzlichem Entschluss warf er sich
mitten in die Raufenden, den Kopf voran, eine stählerne
Härte fühlte er in seiner Stirn, sprengte die feindlichen
Reihen, trat mit den Füssen auf andere Füsse, kletterte über
Beine hinauf und über Sessel hinunter. Jetzt war er da.
Er sah Irenens wehenderi Schal, den Hut, noch einen
Schritt . . . Irene stand zwischeii Dr. Taubelis und Nuss-
baum, die mit ihren hohen Gestalten, höher noch als sie,
ihr freien Weg machten. Auch sie ragte über das Ge-
menge, jedenfalls über Hugo hinaus, der wie ein Stöpsel
zu ihren Füssen anrollte. Sie beachtete ihn gar nicht.
Sie sah ihn vielleicht nicht einmal, von den zwei Türmen
an ihren Seiten mit fortgezogen. Er drehte sich unten
zwischen Bäuchen, an Westen und Rockknöpfen vorbei,
im Dunkel, im Lärm und Gewühl, Kniescheiben drückten
sich um seinen Schädel herum. Jetzt sah er es ein: er
war zu klein — einfach zu klein — . . . Er erstarrte vor
Schmerz über diese Erkenntnis, alle Tatkraft verliess ihn.
Eine Weile nachher war Irene mit ihren Begleitem ver-
schwunden und der geteilte Haufe schloss sich wieder um
Hugo zusammen.
Dymow
Der Verein für Kunst veranstaltete am Sonn-
abend nachmittag im Modernen Theater eine Urauf-
führung: Irrwege von Ossip Dymow. Der Autor ist
in Deutschland durch seine Novellen bekannt geworden.
Sein Drama Irrwege nennt er bescheiden fünf Szenen. Es
wird gegen das Werk vom sogenannten dramatischen Stand-
punkt aus vieles eingewendet werden. Ich bin aber der
Ansicht, dass für das Theater alles geeignet ist, was inter-