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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 2.1911-1912

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Nr. 91 (Dezember 1911)
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Mahlberg, Paul: Lothar und Gertrud von Kunowski
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Hiller, Kurt: Lob der Zeit
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Walden, Herwarth: Theater
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https://doi.org/10.11588/diglit.31771#0285

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es ohne Akademien geworden seien und nur von
der Natur gelernt hätten, dem Dilettantismus ent-
gegengekommen und hat gesagt, Schule sei un-
r.ötig. Dabei vergaß man, daß Courbet solange
Velasquez studierte, bis er ihn auswendig konnte,
und daß Manet in Coutures Atelier lernte. Dann aber
gingen beide hin und riefen „Nur nach der Natur“.
Dadurch kam dann die künstlerische Anarchie in
die Welt statt der dm edelsten pythagoreischen
Sinne gemeinten Aristokratie. Heute sind wir so
weit, daß ein Schriftsteller nichts gilt, wenn er
nicht die Vokabel für jede Geste des Gehirns, für
jede Gebärde der Seele bereit hat, daß aber der
bildende Künstler die einfachsten Naturformen
nicht darstellen kann. Da setzen Kunowskis metho-
dische Sinnesiibungen vor der Natur ein. Die Natur
wird aufs genauste durchstuddert und aufgezeich-
net; mit Recht nennt der Lehrer diese sorgsamen
Untersuchungen und Uebungen das Sprungbrett zu
einem freien begeisterten Schaffen. Wer die For-
men der Erscheinungen in der Hand hat, braucht
■nur mehr den Anstoß in sich, um den beseligenden
Schwung einer Linie, die Ekstase eines Druckes
auf dem Papier auszugeben. Ohne die dilettan-
tische Ungeduld des Effekts hat der Schüler die
optische Erscheinung durchzutasten, bis er die Phy-
siognomien ihrer Elemente erfaßt hat" und sie wie-
derzugeben vermag. Der menschliche Körper
drückt seine Seele nicht nur aus im Antlitz, aus
jedem Muskel blickt sie uns an, und das Mienen-
spiel eines Riickens ist stets und immer frei von
taktischen Ueberlegungen. Dabei hat vor dem
Typischen und Individuellen das Einzelne keine Be-
rechtigung. Denn es ist weiter nichts als das All-
gemeine; das Besondere aber sind Millionen Fälle
des Alls. Ein Muskel kann an pflanzliche oder tie-
rische Motive erinnern, und der Schiiler hat der As-
soziation nachzugehen, wie er die Buglinie eines
erhobenen Unterarmes nachdriicklich auf sich wir-
ken Iassen muß und von einem Nasenfliigel das
freie Geschnörkel wie von einer Weinrebe. Wir
haben die Welt in uns. Die Linie unserer Augen
Mdet das Zeichen oo , (das Symbol der Unendlich-
keit) und zugleich mit den Pupillen als Brenn-
punkten die Ciparellische Kurve, in der im Raum
Planeten sich bewegen.

Bei einem Urteil iiber die Arbeiten der Ger-
trud von Kunowski wäre eine Betrachtung über die
Frau als Künstlerin auf Grund ihrer Stellung zum
Raum, ihrer Metaphysik, ihrer Rolle in der Kultur
notwendig. Hier will ich mich nur an die hervor-
gebrachten Erscheinungen halten. Wenn auch die
dem Buche „Unsere Kunstschule“ beigegebenen
Abbildungen lobenswert sind, so konnte man sich
umso mehr freuen, die Originale zu sehen. Sie
waren im Kunstgewerbemuseum zu Berlin ausoe-
stellt und verschafften einen besonderen Ein-
druck. Kleine Farbenskizzen von außeror-
dentlich starkem Ausdruck der Bewegung fie-
len auf; Bilder von prachtvoller dynamischer Or-
namentik; Menschen, diese wunderbaren Gewächse
in organischen Kristallen, waren da. Ein Körper,
mit wenigen Farben hingeschmiegt, ein Mann im
Stein, Blumen, wie Mimosen und Disteln in merk-
würdig kristallinisch erfüllter Form zusammen mit
Körpern, einzig in eine farbige Helligkeit gehüllt.
Stets ist die Farbe ein Ausdruck der Funktion, ein
Fleckchen kann zuweilen alles beibringen.

Eine Ausstellung der Seminararbeiten aus Düs-
seldorf zeigte, was alles sich in Kunowskis Kunst-
schule erreichen läßt. Hier hatte man die Probe
aufs Exempel. Sie ist gut ausgefallen.

Paul Mahlberg

Lob der Zeit

Daß es auf Kultivierung mehr ankommt als auf
Zivilisation, können natürlich zuletzt die begreifen,
denen vom Auseinander beider Begriffe überhaupt
nichts schwant. Einer von ihnen ist Vollmoeller,
der Georgiast mit Sportzügen; ein Weltmann. der
von jenen, so Breviere schreiben, durch einen sym-
pathischen Mangel an Zurückhaltung, durch Schil-
lerjuchhei, kurz kraft des Fakts, daß dem Smoking
immer noch der Sweater vorzuziehen ist, freund-
üch sich abhebt. Dieser Vollmoeller hat, für den
Inselalmanach, ein „Lob der Zeit“ gedichtet; Lob
der Zeit — von wegen der Aeroplane. Darinnen
„braust“ „die Schraube“, ,ydie straffen Drähte
singen“, und „Stahls“ reimt sich auf „Lilienthals“.
Sogar „Palos“ und „Karavellen“ müssen herhalten,
ziels Gehobenmachung der Sprache; und „Eiriks
Drache“ ist weit davon entfernt, unherbeigezogen
zu bleiben. Der „Urweltmorgen“, da „der stille
Werkmann einer ’blofiden Horde, nicht wissend
was er tat, den ersten Stamm gehöhlt“, wird als
Beginn der Geschichte des Menschengeists ange-
setzt; und als ihr glorreicher Abschluß: Bleriots
Kanalflug. Nein, was ein Denker, dieser Voll-
moeller; nein, was ein tiefer Problematiker! Wenn
nun die Zeppeline gar noch den Nordpol küßt . . .!
(Daß die Geschichte des Menschengeists nun direkt
sich überschlagen habe, umgekippt sei, werden wir
dann wohl zu hören bekommen) . . . „Fanfare“,
„Jagdruf“, „kriegerisches Erz“ —: als ob fünfzehn-
hundert Millionen Erdbekrabbler gar keine Sorgen
hätten und die fiinfzehnhundert besten Europäer
keine Gehirne voll Antinomien. Denn die Logik
des „volare necesse est, vivere non necesse“ ist
nicht für jederman so zwingend; es dürfte Per-
sonen geben, die sich zu der Behauptung verstei-
gen werden: Wenn es überflüssig ist, zu leben,
dann gewiß doch auch, luftzuschiffen; wenigstens
solange nicht beobachtet ward, daß Leichen ein
Flugzeug erklettern . . . Indes jene feschen Neu-
katholiken, taumelnd zwischen Muskelpflege und
Entsagung, Benzin und Weihrauch, meinen „tief“
zu sein und „Ueberwinder“ des „Rationalismus“,
wenn sie den Zustand der Lebendigkeit (diesen
herrlichen, unvergleichbaren und in allen Debatten
voraussetzungsweise zu postulierenden Zustand)
unter Phrasengetut verächtlich machen.

Kurt Hiller

Theater

Strindberg

Im nächsten Winter soll Berlin eine neue
Bühne, das Künstlerische Theater, unter der Lei-
tung von Adolf Lantz erhalten. Vorläufig werden
einzelne Abende in anderen Theatern veranstaltet.
Man begann im Lessingtheater mit einem unaufge-
führten Drama von August Strindberg:
Der Scheiterhaufen. Strindberg selbst hat
sein Drama richtiger und künstlerischer D e r P e -
1 i k a n genannt. Der Grund der Namensänderung
durch den Uebersetzer ist nicht einzusehen. Nur
grobe Sinne können das Drama naturalistisch ver-
stehen. Es wird sehr viel von Ernährung, Erzie-
hung, Erwerb gesprochen. Naive Kritiker
glauben, d i e s e r Dichter wolle etwa päda-
gogische Ansichten verbreiten. — Die Handlung:
Eine Mutter (der „Pelikan“) hat Mann und Kinder
schlecht ernährt und schlecht behandelt, ihren
Liebhaber mit der Tochter verheiratet und sich
selbst alle Genüsse gegönnt, die sie ihrer Familie
versagte. Nach dem Tod des Mannes erfahren
die benachteiligten Mitglieder auf sehr primitive
Weise durch einen Brief des Verstorbenen, die Art
und die Gesinnung der Frau. Der Gatte ist zu

Grunde gegangen, er nahm die Frau schweigend als
Schicksal hin. Die Kinder und der ehemalige Lieb-
haber, der jetzige Gatte der Tochter, empören sich
und wollen diese Frau durch rohe Gewalt zu den
Handlungen bringen, die ihnen für sie selbst gut
und nützlich scheinen. Sie können es nicht er-
zwingen. Der Liebhaber verläßt das Haus, der
Sohn legt Feuer an, um mit der Schwester gemein-
sam das unerträgliche Leben zu beenden. Die
Mutter stürzt sich zum Fenster hinaus, um wenig-
stens dem Tod durch das Feuer zu entgehen. Alle
Personen des Dramas leben und sterben ihrer An-
lage gemäß. Das Drama ist nicht roh und gemein,
wie die Zeitungen schreiben, sondern von einer
übergroßen Liebe und einem verzweifelten Mitleid
erfüllt. Strindberg beschuldigt nicht, er entschul-
digt. Strindberg richtet nicht, aber er „erlöst“ auch
nicht. Das beweist die Echtheit seines Dichtertums.
Ist es nicht traumhaft, daß man noch heute das
Genie Strindbergs verteidigen muß! Daß sein un-
geheures Lebenswerk nicht jeden vor Ehrfurcht
in die Knie beugt. Gibt es etwas Gewaltigeres, als
die Aussprache zwischen Mutter und Sohn. Mit
diesem Gipfel:

Die Mutter: Geh nicht.

D e r S o h n: Erwachst du ?

Die Mutter: Wie aus einem langen Schlaf.
Es ist schrecklich. Warum weckte man mich nicht
früher?

D e r S o h n: Was niemand konnte, war un-
möglich. Und deshalb bist du vielleicht nicht so
schuldig.

D i e M u 11 e r: Sag es noch einmal.

Der Sohn: Du konntest wohl nicht an-
ders sein.

D i e M u 11 e r: (küßt ihm die Hand) Sag noch
etwas.

D e r S o h n: Arme Mama!

Die Mutter: Hast du Mitleid mit mir?

D e r S o h n: Wie oft hab ich nieht von dir
gesagt: Sie ist so böse, daß es schade um sie ist.

Die Mutter: Ich danke dir.

Der Sohn: Ist es nicht zu heilen?

Die Mutter: Nein.

D e r S o h n: (geht).

Der Stil des Dramas ist von einer pantomimen-
haften Sachlichkeit. Von zeichnerischer Linien-
führung und daher ohne Farben. Eine homophone
Musik, die ein Kontrapunktiker schrieb. Aber das
Publ'ikum und die Kritik meint noch immer, daß
nur Geflügel und Blümchen dichterische Eigen-
schaften bcsitzen. Und daß eine Milchflasche und
rote Grütze „unpoetisch“ ist. Wer sich von der
Botanik nicht trennen kann, soll auf die Kunst ver-
zichten. — Ich weiß nicht, welche Absichten Adolf
Lantz mit seinem künstlerischen Theater verfolgt.
Vorläufig muß man ihm auf jeden Fall danken, daß
er den Mut hatte — es gehört noch Mut dazu —
Strindberg zu spielen. Ueber seine Begabung als
Regisseur läßt sich nur sagen, daß er nicht gegen
den Sinn des Dramas verstieß. Mehr kann kein
Regisseur mit Schauspielern erreichen, die zu einem
besonderen Zweck zusammengeholt werden.
RosaBertens stellte die Mutter dar, etwas zu
alt in der Erscheinung, aber mit sinnlicher Kraft.
Sie gehört zu den wenigen Persönlichkeiten, über
die deutsche Bühnen verfiigen. Vielleicht ist auch
Helene Ritcher eine Persönlichkeit. Vor-
läufig arbeitet sie noch auf bewußte Theaterwiri
kungen, statt bewußt zu gestalten. Herr Alfred Abel
ist nocti immer talentlos und ein Herr Theodor
Loos kopierte Bassermann.

Karl May vor Gerieht und Presse

Karl May hat endlich sein Recht vor Gericht
bekommen. Sein Gegner, der sehr anrüchige Herr
Lebius, ist zu einer Geldstrafe wegen Beleidigung
des Herrn May verurteilt worden. Herr Lebius
hat mit Detektivenergie das siebzigjährige Leben
von Karl May durchforscht und dabei die berühm-
ten „dunklen Punkte“ gefunden. Aber zugleich

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