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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 2.1911-1912

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Nr. 69 (Juli 1911)
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Döblin, Alfred: Die Segelfahrt
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https://doi.org/10.11588/diglit.31771#0106

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Bordrand; erschüttert hörte er ihr Lachen, mit
bebenden Lippen, hochgezogener Stirn hielt er
ihren Kopf, als sie sich über seine Knieen legte
und ihn neugierig betrachtete. Seine steinharten
Hände stemmten ihre aufstrebenden Schultern ab;
er wiegte den Kopf verneinend hin und her. Die
Wellen krochen über Bord, sie schlüpften wie
kleine Hunde sacht an ihr herunter auf die Plan-
ken. Der Wind nalim an Stärke zu. Das Boot
legte sich stark über, das Kleid des Grosssegels
fing an zu flattern, sie schossen in den Wind.
Die schwarzen fast glasigen Augen des Brasi-
lianers sahen über ihr triefendes Haar weg, das
alte Mädchen suchte mit rückgebogenem Kopf
nach seinem Munde, seinen Hals, sie tastete sich
an seiner Brust hin. Sein schwammiges zerfal-
tetes Gesicht war gelöst, als ginge immer ein
feierliches glückerfülltes Wort um ihn herum. Das
Boot schwankte steuerlos, Welle auf Welle rollten
an. Copetta sass auf dem Bootsrand. Als eine
hohe Wand gegen das Boot ging, hob er weit
die Arme auf, legte sich wie auf ein Kissen mit
dem Rücken gegen die Welle. Das Polster glitt
zurück. Sie hörte, wie er etwas murmelte; sie
sah nach dem berauschten, verschlossenen Blick,
mit dem er verschwand. — Ein Sto6S des Boo-
tes warf sie gegen den Mast. Sie fühlte keinen
Schmerz in ihrem blutigen Arm. Sie schrie nach
der Stelle hin gellend gellend Hilfe, lange Rufe
stiess sie aus. Man fand sie bald in dem trei-
benden Boot liegen. An Land erwartete man
sie. Man wusste alles; Copetta hatte Telegramm
an die Behörde geschickt.

Sie blieb noch eine Woche bei der alten
Dame in der einstöckigen Villa. Dann sagte
man ihr, dass sie mehrmals mittags im Speise-
zimmer sich auf die Dielen geworfen habe vor
den andern und mit den Händen in die Luft ta
ste. Dass das Hausmädchen von aussen beob-
achtet hätte, wie sie am hellen Morgen mitten
in ihrem Zimmer stillstand und sich um sich
drehte. Am Nachmittag des Tageis, an dem man
ihr dies sagte, packte sie mit dem Hausdiener
ihre Koffer, legte ein schwarzes Kleid an, ver-
liess ihre Mutter, fuhr nach Paris. — Sie nahm
ein kleines Zimmer und ging auf die Strasse.
Sie trug ihr rotes Haar aufgetürmt; Wangen und
Lippen geschminkt. Sie kam tagelang nicht nach
Hause. Sie versagte sich niemandem. Es war
ihr eine Lust, sich jedem Rolijungen, Viehtrei-
ber in die Arme zu werfen. Sie machte sich
mit gleichgültigem Lachen und Kopfschütteln zur
Beute jeglicher Krankheit, die auf sie sprang
und trug sie mit Küssen, mit Gähnen und In-
brunst weiter. Sie schlich nach einigen Monaten
in schwarzen Seidenkleidern in die strahlenden
Ballsäle. Ihr Gesicht war voller geworden; die
kleinen Augen glänzten unter dem Atropin. Die
jungen Männer sagten von ihr, man nannte sie:
die Hyäne. Sie trug in die Ballsäle eine sonder-
bare Bewegungsweise. Der Tanz war ersichtlich
aus einer eigentümlichen Ungeschicklichkeit der
Tänzerin entstanden, die sich schon bei ihren
ersten Schritten auf dem Parkett zeigte. Sie stiess
jede berührende Hand zurück, wiegte sich in
den Hüften vor ihrem Partner nach rechts und
links, nur langsam wie ein Schiffer von einem
Bein taumelnd auf das andere. Dann umging
sie mit plumpen Füssen ihren Partner und jetzt
wiegten sie sich gemeinsam, Hüfte an Hüfte ge-
fasst, aber er sprang vor ihren aufgehobenen
Armen zurück, sie suchte ihn, sank über ihn
hin und schliesslich walzte sie nicht, sondern
liess sich von ihrem Partner halb tragen, wobei
ihre Füsse kaum über den Boden schleiften und
sie die Augen schloss. — Sie liess ein Jahr über

sich ergehen. Als eines Abends der Postbote
zu einem riesigen Blumenstrauss einen Brief
brachte, drehte sie lange den mächtigen Bogen
in ihren gepflegten Händen hin und her. Sie
warf die Blumen in den Papierkorb, schlug den
citronengelben Kimono über die Brust zusam-
men, setzte sich an den Schreibtisch und spielte
mit dem stark parfümierten Bogen. Der Bote
stand noch an der Tür, seine Uniformmütze
setzte er sehon auf, als sie sich erhob und ihn
bat, eine Depesche zu besorgen. Sie schien wie
erleuchtet; sie nahm ein befehlerisches Wesen an.
Sie telegraphierte nach Ostende: „Herrn Copet-
ta, Ostende Hotel Estrada, erwarten Sie mich
morgen Mittag. Bitte Drahtantwort. —“ Eine
Stunde stand sie zitternd auf der Treppe, obdie
Antwort bald käme. Sie packte den Handkof-
fer. Nach drei Stunden schickte sie um einen
Wagen; zog einen dünnen Anzug aus gelber
Bastseide an, fuhr auf die Bahn. Der Zug rann-
te lange Stunden der Nacht, rannte überBrüssel,
Gent, Brügge; schliesslich Ostende frühmorgens.
Sie rasselte durch die engen bekannten Strassen
der Stadt. Mit einmal leuchtete zwischen den
Häusern das Meer auf, das graugrüne Meer.
Sie stand aufgerichtet in der rasselnden Droschke,
als der böige Wind sie mit einem Hagel von
Stiletten überschüttete. Sie schrie aufgerichtet im
Wagen vor Heimweh und Seligkeit, hob ihren
Sonnenschirm auf und winkte dem graugrünen
Meere zu. Sie betrat ihr altes Zimmer wieder,
hörte halb, dass ihre Mutter schon seit langen
Monaten in diesem Hause gestorben sei. Ihr
Gesicht war still; aber als die Pensions-Dame
sie entsetzt fragte, warum sie hier sitze und so
lache, antwortete sie: „doch vor Glück, liebe
Frau, wovor denn als vor Glück. Was erzählen
Sie?“

Und dann nahm sie, die sich sonst wie eine
schöne junge Frau bewegte, ihren weilssen Son-
nenschirm und ging an das Meer. Die Digue
lag in dem blitzenden Mittagslicht. Unter dem
Widerschein des unermesslichen Wassers funkel-
ten die Fenster der Strandhäuser zärtlich auf.
Unabläßsig brüllte das Meer, warf sich gegen
die Steindämme und legte sich platt hin. Sie
drängte sich gewandt durch die geschmückte
Menge, schlüpfte in das Vestibül des Hotels.
Der Portier gab ihr das Telegramm; er erzählte,
der Herr sei vor einem Jahr etwa verunglückt
auf einer Segelpartie. Sie fasste sich an die
Brust: „Auf diesem Meer?“ Und dann drückte
sie ihm ein Geldstück in die Hand, warf ein
paar Zeilen auf ein Blatt Papier mit seiner Adresse,
flüsterte ihm ins Ohr, er möchte doch dies Blatt
an sich nehmen; wenn der verunglückte Herr
heut Abend käme, möchte er es ihm sofort ge-
ben. Sie ging an dem Verblüfften lächelnd vor-
bei auf die Promenade, nahm einen jungen Herrn,
der ihr folgte, an, hörte mit ihm nachmittags an
der Kapelle eine Chokolade trinkend mit strah-
lendem Gesicht die freche leichte Musik des Kur-
konzerts.

Der Abend kam herauf. Der VoIImond hing
schlohweiss über dem ungeheuren Wasser.

Sie stand an ihrem Fenster und wartete.
Es wurde Nacht; sie hatte schon ungeduldig
auf das rostrote Haar den wippenden weissen
Hut gesetzt. Sie lief auf den Zehen durch den
dunklen Korridor, sah die lange Strandprome-
nade herunter, die im blendendweissen Mond-
licht lag. Dann lief sie die lange Promenade
hin und her, hielt ihren Hut fest, den der Sturm
abhob, spielte mit ihrem Schatten, der schwarz
vor ihr herfiel, tanzte ihm pfeifend auf offenem
Weg etwas vor, machte ihm lange Nasen, Sie

lugte nach dem Hotel, ob sein Fenster noch
nicht hell wurde. Um 12 Uhr schlief sie auf
ihrem Bett sitzend ein; gegen vier fuhr sie ent-
setzt zusammen; es war schon ganz hell. „Er
ist voraus“. Sie huschte die Tür hinaus, warf
draussen johlend die Arme in die Luft, rief ih-
ren Namen, tutete dazu. Im Nu war sie die
schmale Steintreppe herunter. Sie suchte die
Abfahrtstelle, lief zu den Badehäusern. Da la-
gen kleine und grosse Ruderboote. Keine fri-
schen Männerschritte im Sand! Sie zog die
Schuhe und Strümpfe aus, warf ihren Hut an
den Strand, schürzte ihren Rock, zog keuchend
an dem Bootsseül. Jetzt sprang sie ein, zog die
Ruder. Nur wenig wurde sie von der Brandung
zurückgeworfen, dann fuhr sie sicheraus. Scharf
bliess der Wind über das offene Wasser; dicke
Regentropfen fielen; weit und breit kein Segel,
kein Boot. Ueber die hohen gebogenen Wellen-
wände kroch ihr Boot, stürzte metertief, kroch
unverdrossen weiter. Sie suchte nach allen Sei-
ten; die Angst überkam sie. Sie schrie auf den
Knieen kriechend, von jeder Wellenhöhe seinen
Namen kreischend über das brodelnde Wasser,
aber jetzt schlüpften nicht zahme Hündchen über
den Bord; wie der Steinschlag fielen die Wellen
auf die Brust der atemlosen, die sich die Augen
wischte. Eben legte sie, schon erlahmend, die
Ruder hin, brach in ein wütendes Schluchzen
aus, schlug sich verzwpifelt mit den Fäusten ge-
gen die Brust, als eine dunkle Gestalt sich ne-
ben dem Boot aus dem Wasser aufrichtete. Auf
dem Kamm einer Welle schwang sich die dunk-
leGestaltinsBoot! Der Brasilianer sass stumm
auf dem Bootsrand und liess die Beine auf die
Ruderbank hängen. Er war nur unförmig ge-
schwollen; seinen weissen Anzug trug er prall
auf dem Körper. Die weissgrauen Haare waren
dick inkrustiert mit Salz; schwarzgrüner Tang

hing in Büscheln über sein triefendes gelbbrau-
nes Gesicht, dessen Mund bebte. Dünner wei-
sser Sand und Muscheln rieselten von seinen brei-
ten Schultern, floss aus seinen Aermeln. Er bliess
laut die Luft von sich, dann atmete er stiller.
Langsam hob er den rechten Arm und wehrte
die Frau ab, die sich jubilierend von dem Bo-
den erhob. Seine tiefen schwarzen Augen sahen
sie fragend an, ihr volles frauenhaftes Gesicht,
ihre Lippen, dic reif waren, ihre kleinen leben-
digen Augen unter den roten Brauen, die jetzt
beseelt und süchtig strahlten. Dann blickte er
an ihr vorbei. Sie stürzten unter peitschendem
Regen zwischen Wellenbergen hinunter; sie hör-
te ihr eigenes entsetztes Rufen nicht unter dem
Singen und Flöten des Sturmes. Er senkte sei-
nen Arm, legte sich wie auf ein Kissen mit dem
Rücken gegen die Welle. Das Polster glitt zu-
rück. Sie sah wie er langsam den Kopf ihr
zuwandte, sah den berauschten, aufgeschlos-
senen Blick auf sich gerichtet, sprang ihm
nach, und nun umschlangen ßie die wul-
stig dicken Arme; jetzt lachte sie gurgelnd
und drückte ihren Kopf an seinen gedunsenen.
Und wie sie zusammen die nassen Wellen be-
rührten, wurde sein Gesicht jung; ihr Gesicht
wurde jung und jugendlich. Ihre Münder lie-
ssen nicht von einander; ihre Augen sahen sich
unter verhängten Lidern an. Eine Wassermasse,
stark wie Eisen, schickte das unermesslich grau-
grüne Meer heran. Die trug sie, mit der Hand-
bewegung eines Riesen an die jagenden Wolken
herauf. Die purpurne Finsternis schlug über sie.
Sie wirbelten hinunter in das lebende Meer.

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