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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 2.1911-1912

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Nr. 71 (August 1911)
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Stoessl, Otto: Der Skeptiker
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https://doi.org/10.11588/diglit.31771#0121

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deutet, nicht ohne dass ihre Grausamkeit ihn
immer wieder enttäuscht und abstösst. Er assi-
miliert sie in einem Prozess fortgesetzter Enttäu-
schungen. Die Masslosigkeit seiner Absichten,
die Idealität, die Leidenschaft, ja der Selbstbe-
trug, die Welt nach seinem Bilde formen zu
können, sie nur durch sich zu rechtfertigen, sind
ihm gemäss. Die tragischen Gestalten der ikari-
schen Jünglinge treten in jeder Generation von
neuem hervor, von den ergreifendsten Dichtun-
gen erfasst: ein Werther und Niels Lyhne. Das
Leben erzeugte die Tragödie Heinrich von Kleists.
Diese Jugend ist totgeweiht. Den Idealisten über-
lebt der Skeptiker.

Der Mann hat Qualen und Enttäuschungen
bestanden, deren jede eine Wunde geschlagen hat,
die langsam vernarbt ist, nicht ohne einen leisen
Schmerz, eine Frage statt einer Antwort, Zwei-
fel statt Verzweiflung zu hinterlassen. Er hat
die Schauer des Sterbens physisch und geistig
vorempfunden, den Untergang von Ueberzeugun-
gen, das Scheitern von Gefühlen, den Wechsel
von Neigungen, die Veränderungen des Urteils,
die Vieldeutigkeit sittlicher Begriffe erfahren.
Körper und Geist mussten sich an die verschie-
denen Klimate der menschlichen Zustände ge-
wöhnen und im fortwährenden Wechsel von Ge-
lingen, Ertragen, Sichverbergen und -offenbaren
bestehen. Die Beweglichkeit der Jugend verliert
sich, wie die geflügelten Pflanzensamen endlich
irgendwo ruhen. Es gilt, zu wurzeln. Durch
gesammelte Spannkraft wird der fühlbare Mangel
an äusserer Veränderung ersetzt. Standfestigkeit
ist das Kennzeichen dieses Charakters, der das
Erleben, die Ereignisse nicht mehr aufsucht, son-
dern erwartet, nicht mit ihnen davonjagt, son-
dern in ihrer Mitte verharrt. „En vivant, en
voyant les hommes, il faut, que le coeur se bri-
se, ou se bronze.“ (Champfort) Diese Verhärtung
bringt eine Art von Passivität mit sich. Wer
möchte die Bedeutung der Neigungen, die Macht
der Instinkte, die Herrschaft des Willens, alle
Veranlassungen der Aktivität noch herbeiwün-
schen, der immer wieder an ihre Grenzen ge-
mahnt wurde! Die Aktivität ist jetzt ganz auf
die Fähigkeit des inneren Erlebens, des Erken-
nens, nicht auf das Sagen, sondern auf das Er-
widern verwiesen, der Geist ist zu einer fein-
sten Wage der Erscheinungen geworden und be-
stimmt sie mit einer annähernden Objektivität.
Die Antwort auf jeden äusseren Anreiz erfolgt
lebhaft, doch ohne den Mann ausser sich selbst
zu bringen. Das Erlebnis gilt nur mehr als
ein Anschein. Der Mann erntet die Früchte
seiner einstigen Niederlagen. Ehemals bestand
seine Freiheit in Hingabe, jetzt in der Wahrung
seines Selbst. Das Pathos der Jugend lag dar-
in, dass sie die eigene Kraft und die der Ge-
samtheit verkehrt einschätzte. Das Pathos des
Mannes, des Skeptikers liegt in dem Wissen um
die letzte Ohnmacht aller selbstischen Energie,
die gleichwohl als die einzige Lebenswürdigkeit
empfunden wird. Die unbedingte Bewegung,
das vorwaltende Handeln der Jugend setzt eine
so sichere, wie falsche und einfältige Wertung
von Richtung und Ziel voraus, die verharrende,
beobachtende Ruhe der Skepsis ist durch einen
langsam erwachten, zähen Instinkt für das je-
weilige Gegenargument bedingt. An Stelle einer
Wahrheit treten vielfältige Gegenwahrheiten, die
Gesinnung in Dialektik verfeinern. Die Leiden-
schaft, das Temperament sind von der Gefolg-
schaft einer einzelnen Idee oder Handlung losge-
zählt und gehören in eine Freiheit, die be-
rauscht der eigenen Bestimmung inne wird, völ-
lig der Argumentation. Früher mochte man in
der Welt mitspielen und unterlag dem ganzen

Schicksal des dargestellten Charakters. Jetzt er-
blickt man das Geschehen als Zuschauer und
lenkt es an den Drähten der zugleich imaginie-
renden und überraschten Dialektik. Dies gibt
einen Vorsprung des Skeptikers vor jeder Tat
durch die Vorwegnahme aller ihrer Unzuläng-
lichkeiten, vor jedem Abschluss durch die Vor-
wegnahme des Gegeneinfalls, vor der Leiden-
schaft durch die Antizipation ihrer Enttäuschung.
Der Skeptiker fiihrt mit lauter Enttäuschungen
seinen Haushalt. Nur glaube man ihn nicht vor
Verbitterung, Empörung, Zorn, Abscheu bewahrt.
Aber er macht aus diesen Notwendigkeiten seine
Freiheiten. Von der Bedingtheit alles Geschehens
tausendfach gefesselt, lernt er eben sie gebrau-
chen, in der Ohnmacht des Lebens die Kraft
seiner Anpchauungen geniessen. Die Macht, die
dem Tätigen in diesem kurzen Leben das einzige
sichtbare Mass seiner Persönlichkeit bietet, wird
verinnerlicht, durchgeistigt durch eine zugleich
entsagende und wieder grossartig ausschreitende
Bewusstheit, die ihr Erkennen mit keinem Tun
vertauschen möchte. Das heroische Pathos des
Skeptikers liegt darin, dass er seinem Erkennen
die Würde, Lust und Bedeutung der Handlung,
und zwar aus eigener Machtvollkommenheit ver-
leiht. Eine Illusion, die vor der Enttäuschung
geschützt ist, weil sie sich ihrer bedient und an
ihr immer wieder erneut wird. Dabei geht schliess-
lich selbst der Wille zu positiver Lebensgestal-
tung lächelnd unter. Eine Erkenntnis, die ihren
köstlichsten Anteil der Beute gerade aus derTor-
heit, den Irrtümern, der immer wiederkehrenden
Schuld erhält, möchte die schwersten Mängel
nicht missen, deren sie bedarf, um sich in Lei-
den und Lust zu erneuern. Sie würde die Tor-
heit erschaffen, wenn sie nicht bestünde, das
Schlechte erzeugen, um sich darüber zu erzür-
nen, das Unzulängliche aufziehen, um den Traum
der Vollkommenheit zu erleben. Sein Leiden un-
ter all der Widerwärtigkeit, Schwäche und Narr-
heit gibt dem Skeptiker das gute Recht, sie zu
bejahen, da er aus seinen Empörungen sein ein-
ziges Glück schöpft. Man hört oft die theore-
tisch gerichteten Aerzte anschuldigen, dass sie
über dem Erkennen des Uebels dessen Heilung
vergessen. Das ist ihre Skepsis. Die Krankheit
ist ewig, die Arzenei macht einen einzelnen Fall
gut Der Skeptiker hat an dem erledigten Ein-
zelfall weiter kein Interesse. So werden Tat,
Wirkung, Ruhm und Macht gegen den Genuss
des Erkennens, gegen den Reiz der sich stei-
gernden und am Widerspruch sich belebenden
Dialektik, gegen die weiten Ausblicke der Er-
fahrung, Freude wird gegen Trost, Glück gegen
Genügen, Sieg gegen Ruhe drangegeben. Eine
leidenschaftliche, unbegrenzte Betrachtung kennt
keinen Wunsch mehr, als sich selbst. Diese bei
gesammelter Kraft scheinbar um so widerspruchs-
vollere Ruhe, dieser eifrige Müssiggang (nach
Nietzsche aller Psychologie Anfang), dies stän-
dige Sichfreireden und Sichlosdenken, diese Stei-
gerung des geistigen Gehörs, des psychologischen
Gesichts, dieses gelassene Schauen in alle Ab-
gründe der Existenz bringt eine eigentümliche
Heiterkeit hervor. „Beim Anblick alles dessen,
was auf der Welt vorkommt, müsste schliesslich
auch der grösste Menschenfeind heiter werden
und Heraklit vor Lachen sterben.“ (Champfort).
Der Humor, die gute Laune des Scharfsinns,
das durch die treffende Dialektik befriedigte und
befreite Gemüt ist die Entschädigung des Skep-
tikers, wie denn der Humor im Grunde häufi-
ger ein Ergebnis, als eine Gabe ist.

So verharrt der Skeptiker kräftig auf dem
tragenden Erdboden, durchaus geistig, aber nicht
eigentlich spekulativ — müssige Spekulation

hasst er als Tatsachengeist wie einen Urfeind.—
und hält sich von seinen nächsten Gefahren: dem
Zynismus und der Mystik in gutem Abstand.
Er wird unversehens ein Beispiel für getroste
Lebensführung, was allerdings ein Lächeln ab-
nötigt, denn das Genie des Erkennens ist nicht
lernbar und der unvertretbare Wert der Erfah-
rung liegt nur eben im Erleiden.

Bei der kleinen Auslese der Geister, die aus
dem unendlichen Erleiden diese geniale Erfah-
rung ziehen und das Erleiden der Wirklichkeit
zu ihrem Glück machen, ist das Werk der Skep-
tiker leicht zu überblicken. Intensität, nicht Aus'
dehnung, Verdichtung zu einer komplexen Es-
senz kommt ihm in allen seinen Aeusserungen
zu. Auf das reale Leben, Umgang mit Men-
schen, Beobachtung der Leidenschaften, Ergrün-
dung von Sitten und Gemütszuständen angewie-
sen, ist diese Art der Betrachtung eine glück-
liche und einzige Mischung von künstlerischer
Synthese und kritischer Analyse. Das „Als
Ganzes Sehen“, das den Künstler ausmacht, liegt
auch dem Schaffen des Skeptikers zugrunde, die
Analyse gibt nur die Methode der Verarbeitung.
Der darstellerische Impuls des Erkennenden, sei-
ne Fähigkeit, Analogien zu wittern, unerwartete
Verwandtschaft aufzuspüren, geheime Motive zu
entlocken, ein vieldeutiges Erlebnis zu vereinfa-
chen, ein scheinbar einfältiges, geistig zu durch-
leuchten, und von allen Seiten strahlend zu zei-
gen, macht jede Beobachtung des Skeptikers zu-
gleichgültig und überraschend; in der ungelösten
Verbindung mit dem täglichen Leben, in dem
unwillkürlichen Aufsuchen der Probleme, in al-
len realen Zuständen wird der unleugbare künst-
lerische Ursprung der seelischen Disposition
deutlich, die den Skeptiker bestimmt. Aber die
Auswertung dieses Materials geschieht beschrei-
bend, nicht gestaltend, indem das Unmittelbare
des Eindrucks gleichsam abgedämpft wird bis
auf seine Elemente. Diesem eigentümlichen Schwe-
bezustand zwischen aesthetischer Anschauung
und ethischer Formulierung, zwischen künstle-
rischer Intuition und gedanklicher Auflösung
verdankt die skeptische Aeusserung ihren un-
nachahmlichen Charakter einer treffenden Ant-
wort, die nach einem Goethischen Wort einem
lieblichen Kusse gleicht. So spotten selbst jene
Schöpfungen des skeptischen Geistes, die einen
rein künstlerischen Ausdruck gewählt, mit der
reizvollsten Willkür jeder geschlossenen Dar-
stellung, wie etwa Sternes „Empfindsame Reise“.
Auch die Werke der „Humoristen“ unterliegen
zumeist der formauflösenden skeptischen Laune,
wobei der Humor etwa als überwiegende Ge-
fühlsenergie zur Gestaltung und rein künstleri-
schen Zusammenfassung der Anschauung drängt,
bei einem endlichen Sieg des Erkennens und
Durchschauens aber sich zum Witz, zur launigen
und abstrakten Wendung des Wortes als hoch-
sten Restes verflüchtigt (bei Jean Paul). So er-
scheinen die Uebergänge vom Skeptiker zum Hu-
moristen, wie die vom betrachtenden zum ge-
staltenden Künstler, vom männlich irdischen zum
mystischen Geiste überaus zart abgestuft.

Die Form der treffenden Antwort, nicht in
der allzuknappen Fassung des Spruches, sondern
in der glücklichen momentanen Eingebung, in
welcher alle zuströmenden Erwägungen die Viel-
seitigkeit des erhellten Problems verraten, ein di-
alogischer, nahezu dramatischer Charakter einer
in ihrer Wesenheit verlautenden geistigen Situa-
tion macht die Aphorismen zu den hauptsächli-
chen Mittlern der skeptischen Darstellung und
gibt ihnen die zugleich klare und unheimlich weit-
tragenden Lebensstimmung, die über jedem Wort
einen ungeahnten Horizont eröffnet.

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