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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 2.1911-1912

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Nr. 87 (November 1911)
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Tichauer, Grete: Mit Mutter
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https://doi.org/10.11588/diglit.31771#0253
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I

Otto Moeller / Am Nacbmiftag / Holzsehnitt

von all dem, vas sie im wirklichen Leben gehört
fcatte, Eindruck auf sic rnachte.

Doch ein nächstes Mal konnte sie es nicht
mehr auslialten; einen Augenblick lang l'üeb die
Besinnung, das Gefühl der Unreinheit, die Erinne-
rung an die Frau zu Hause, alles, alles fort, nur
die Sehnsucht nach der Mutter beherrschte sie
unaufhaltbar und fifilte sie ganz aus, bewegte
jeden Nerv Sie mußte etwas von ihr haben, und
so legte sie ihren Kopf tief in die Levkojen.

*

Dann pflückte sie eine Handvoll Blumen ab,
versteckte sie unter dem Kieid und rannte nach
Haus.

*

Beim Abendbrot war sie genau wie sonst.
Ebenso biaß und sommersprossig wie gewöhnlich
saß sie bei Tisch, sah auf ihren Teller wie immer
und aß schnell und ohne hochzublicken. „Warum
sie bloß stets so verbissen ist,“ dachte der Vater.
„AIs ob sie ständig ein schlechtes Gewissen hat.“
Und als sie ins Bett geschickt war, unterhielt man
sich darüber, ob es nicht vielleicht das beste wäre,
sie in eine Anst-alt oder ein Sanatorium für wil-
lensschwache Kinder zu schicken. Der Arzt hätte
auch einmal davon gesprochen.

Derweile iag sie in ihrem Bett und legte die
kühlen Blumen auf ihren Körper, der eiskalt war
vor Wonne und Sehnsucht. Was sie jetzt spiirte,
die Wärme, die von den Blumen auf ihren Körper
langsam iiberging, war nichts anderes als sie, die
jetzt bei ihr lag, ganz körperlich bei ihr und sie
berührte und streichelte. Und sie legte die weißen,
weichen, zarten Blumen auf den Hals und den
Rücken und auf beide Brüste. Alles sollte Anteil
haben an ihr.

* *

,*

Jede Nacht war Mutter jetzt bei ihr.

Am Morgen legte sie die welken Blumen in
ein Kommodenfach, das sie ausgeräumt hatte, und
in dem sie nun tote Blutnen aufnäuftc. jede war
ihr eine ganze Nacht von Liebe und Seligkeit und
ein Stück Mensch, der iebte und ihr, ihr gehörte.

Als die Levkojen verbliiht waren, fand sie
eines Nachmittags Astern auf das Grab gepflanzt,
dunkellila und weiße Astern. Dicht und voll,
ebenso wie vorher die Levkojen. Da konnte
keiner merken, daß sie jeden Tag ein paar nahm.
Als sie ein Kirchhofsgärtner einmal fragte, warum
sie jeden Tag hinkäme, sagte sie, ohne darüber
nachdenken zu müssen, ohne je darüber
t.achgedacht zu haben, daß eine Freundin von ihr
gestorben sei, und zu Haus merkte kein Mensch,
daß sie jeden Tag zum Rirchhof ging, denn sie
schlich sich imtner fort, wenn die Frau nach Tisch
schlief. Sonst kümmerte sich keiner um sie.

Sie war das glücklichste Menschenkind.

* *

*

Eines Abends iag sie im Bett, und Mutter war
bei ihr und streichelte sie und faßte sie bei der
Hand und erzählte sich mit ihr, und sie küßte
Mutter und sagte: „Du sollst nicht von mir fort-
gehen.“ Und sie merkte gar nicht, daß die Tür auf-
ging, und die Frau hereinkam.

„Schläfst du schon? Ich wollte nur nach dir
sehen. Nein, du mußt aber die Arme auf die Bett-
decke tun. — Was, du liegst ohne Nachthemd im
Bett? Und Blumen? Was willst du denn damit,
du bist wohl ganz verdreht?“

Licht wurde im Zimmer gemacht — es war so
schrecklich alles, und es tat ihr so weh. Jedes
Wort. Jede Sekunde.

*

Und nachher lag sie auf dem harten Bett —
wie sehnte sie sich nach weichen warmen Federn,

abet die gab ihr die Frau nicht, trotzdem sie so
oft schüchtern gebeten hatte, und trotzdem alle
andern warm und weich schliefen. — „Schämst
du dich nicht?“ hatte die Frau gesagt. Warum
sollte sie sich schämen? Weil jemand versucht
hatte, in ihr Reich zu sehen. Nur versucht. Und
dann war sie so grenzenlos traurig, denn die Frau
hatte, als sie hinausging, drei Astern in der Hand

mitgenommen, drei süße zerdrückte Astern-

und nun fühlte sie es so, als hätte man Mutter
weh getan, und ais wäre sie weit von ihr fort.

Die ganze Nacht fror sie und weinte, weinte
und fror, und wieder verschlangen sich halbwache
Traumbilder zu wüsten unerkennbaren Phanta-
sieen, zu rätselhaften Gebilden wie damals in
jener Nacht, als sie Mutter gefunden hatte. In
der gliicklichen Nacht. Und ebenso wie damals
sehnte sie sich unendlich, nur trostlos jetzt: denn
sie war es nicht mehr gewöhnt allein in dem kal-
ten, harten Bett zu schlafen, und zum ersten Mal
fühtte sie sich unheimlich und fürchtete sich in
dem dunklen Zimmer

* *

*

Nun sagte der Sanitätsrat auch, daß es höchste
Zeit wäre, sie in eine Anstalt zu schicken, wo sie
den ganzen Tag unter Aufsicht sei. Energische
Güte brauche sie. Mit dem Wecken des Scham-
gefühls allein wäre es nicht getan. Aber er wollte
gleich an den Leiter eines solchen Kindersanato-
riums telegraphieren, und dann könnte man sie
heute nachmittag vielleicht schon wegbringen.

Warum sie fortgeschickt wurde, darüber
dachte sie nicht nach. Sie hatte nur den einen
dumpfen Schmerz, daß sie fort sollte.

Und die Frau packte ihre Sachen zusammen
und räumte ihr Spind aus. In der Kommode blieben
nur alte Spielsachen und Kinderbücher.

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