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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 2.1911-1912

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Nr. 97 (Februar 1912)
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Lasker-Schüler, Else: Briefe nach Norwegen
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Bethge, Hans: Der Verführer
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Fuchs, Richard: Wien
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https://doi.org/10.11588/diglit.31771#0332
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Revolution, es tiel am Abend meine letzte Hoff-
nung, die Aufführung meir.es Schauspiels unter der
künstlerischen Regie Reinhardts, die ich in so vie-
len Auffiihrungen bewunderte. Ich fordere mit
diesem Buch meine Nummer ein. Hat er sie schon
gelesen? Sie muB ihn imponiert haben.

Else Lasker-Schüler

Der Verführer

Naeh dem Arabisehen von Hans Bethge

Wie viele Frauen habe ich verfiihrt!

Zweilen waren säugende darunter
Und solche, die ein Kind erwarteten.

Und wieder andere, die bedenkenlos
Ihr Kindchen, das ein Jahr _alt war, alleine
Sich überließen, um an meinem Halse

Berauschten Sinnes zu hängen. Und wenn dann
Das Ktnd in seiner Angst zu weinen anhub,

So wendete die junge Mutter sich

%

Mit ihres schönen Körpers oberer Hälfte
Wohl nach ihm hin. Das andre ihres Körpers
Blieb bei mir, bei mir, ohne sich zu rühren!

Wien

Von Richard Fuchs

Von Dresden ab war es mit der Ruhe des
großen Verkehrs vorbei! Ich erwache aus einer
Nacht voll Aufregungen. Steigende Talnebel ver-
schleiern ein neues Land. Wir hatten Böhmen
umfahren und bewegten uns auf Wien zu. Mais,
Tabak und Weinfelder ziehen sich im Bogen.
Weiche Laubwälder, satte frische, streifen fast un-
sere Hand. Wir sind überrascht, daß wir schon
halten. Durch die Sonntagsstille folgen wir zum
Gottesdienst in den Dom.

Welches Altertum von innerer Kirche! Das
Grabesschweigen der Schönheit. Der Du, im Dun-
keln tastend, plötzlich erhellt wirst, — das Wort
plötzlich ist Deiner falschen Seele zum Irrlicht ge-
worden. Sinnliche Mittel sind auch die Anzeichen
der Religion. Der aufklärende Gegensatz, der in
sie hineingelegt wird, ist das Zersetzende für die
Kirche und den Staat. Es ist wohlfeil, sich gegen
das göttliche Dunkel zu wehren, um die moderne
rationalistische Gotik einzuschmuggeln. Wenn so
Einer in den Baustücken des siebzehnten und acht-
zehnten Jahrhunderts die italienische Barockkunst
sieht, so hat er gehört, daß sie technisch als guter
Stil gilt. Aber das Wissen um den Stil hebt
schon das Original auf. AIs das Gegcnteil jeder
Ansicht, wäre die Sache beinahe wahr. Die wahre
Kunstbegründung ist die Aufhebung jeder unsinn-
lichen Begründung.

Wien hat noch einige ältere Traditionen.
Physiognamie haben jene namenlosen Handels-
Iiäuser, die wie eine gesittete Front von Bürger-
wehren stehen. Des Abends erhöht sich noch
diese etwas hagestolze Düsternis klangloser
Reihen, wie die schmucklose Zeit, die, in Geschäft
und in Geschmack geschlossen, ohne Außenkunst
lebte. Sobald man Vergnügungssucht heucheln
tnußte, kamen die schlechten Zeiten. Im Interesse
der Erhaltung ihres Vermögens mußten sich die

Stände vom Geschäft zurückziehen. Jetzt wohnen
die Fremden in Palästen. Nicht Zweckformen, son-
dern Stilzwang sind die neuen offiziellen Gebäude.
Dadurch sind öffentliche Bauten überall ein Ver-
kehrshindernis. Wann wird man uns in den Bei-
blättern für Privatpersonen ihre Aufzähiung er-
sparen?

Gesetzt, daß die Seele Wiens, wie man sagt,
in seinen verschwiegenen Gassen mit Balken,
Gängen und Brückchen läge, ist sie damit dieses
ledige Fachwerk? Auch hier gehen innere SBege
bis zu mir. Diese Hütten, die, ehe sie die Bela-
gerung der Anderen einschloß, auch einmal die
Sonne sahen, ernährt Paris mit seinem ungeheuren
Leben noch viel mehr. Daß wir heute ihre Aerm-
lichkeit bewundern, läßt uns falsches arrogantes
Mitleid hineinlegen. Da ist ein empfindliches
Genie aus scheinbar kleiner Geburt. Aber in ihm
kommt wieder einmal eine alte selbsttätige Fa-
milie zum Vorschein. Das Besc’neidene ist also
nicht seine Genialität, sondern es ist der Scherz
Auswärtiger. Die angeborene Natur wurde einst
im Glück begonnen und wird heute mit häuslicher
Sorge vollendet. Aus den diskreten Verhältnissen
unserer Ueberlebender hat lärmende Unbedeutung
lomantische Idyllen gedichtet, die die Sensation
der Banausie erregen. Sie pflanzen in den Zei-
tungen den Aufschwung fort. Sie verwechseln
Geistesmacht mit Gel-dmasht und wenden sich ab,
wo sie Geist spüren.

Die ganze Stadt war früher so klein wie jetzt
mancher Platz, den keine Verkehrsnotwendigkeit
geschaffen hat. Der Ring umschloß sie. Wo also
heute die moderne Stadt beginnt, hörte die alte
schon auf.

Fast jeder Reisende macht Wien lächerlich,
aber er hät das Wien des Reisenden erst in Mode
gebracht. Dieses Vorbil-d spricht von Wiens an-
betepden W-eibern, die den Mann verhätscheln,
träumt noch im Bett von der kleinen Welt von
Mann und Frau, duzt aus gewohntem Wunsch
nach der Aufwartung die Fesche, bei der das
Fleisch Kind geworden ist, dies ganz reale Wesen,
-das halbe Manier geworden ist, und das dem
glücklichen Mann ewig die Pubertätserscheinungen
vormacht. Die wahre Welt des Weibes ist etwas
Imaginäres. Ein tüchtiges Weib, Deutsche oder
sonstwoher, glaubt nicht mehr an die Männer,
sondern behält die Freuden der Sinne für sich.

Da es von neuem mit Regen droht, machen
wir nur einen Ausflug auf den Kahlenberg. Unter-
halb alle literarischen Erfordernisse ewiger Ostern.
Bald verteilen sich die gemiitlichen Paare. Oben
schwebt -die wasserdunstige Ebene der Stadt in
einem Spiegel von Farben.

Wien liegt zu schön fiir eine Weltstadt.

Dem einen wird in Wien zu visl, dem andern
zu wenig gelebt. Nur der Handlungsreisende
schien glücklich. Aber daß ein Notstan-d erst
durch Quacksalber erzeugt wird, zeigt Hermann
Bahr, wie eine SBarnung vor jeder Kultur. Recht
kleinstädtisch ist d-ieser Typus, der durchaus etwas
t u n oder tun s e h n will, damit in O-esterreich,
Böhmen oder Deutschland etwas gesche-he.
Auf diese Art gehen die Menschheitsereignisse,
die nicht mit Taten berufener Männer zusammen-
fallen, ihrer sfngulären Pracht verlustig. Der Haß
gegen das Talent soll wienerisch sein. In der
ganzen Welt ist die Verbrüderung der Talente
augenfällig und der Haß gegen das Genie. Karl
Kraus hat in Wien Naturgeschaffnes mit Gewis-
senskraft gestaltet. AIs Jüngster, was beinah noch
schwerer ist, vertritt er mit dem Aeltesten in Wien
zugleich den Ruhm des Menschen, auf dem kein
einziger intellektueller Flecken liegt. Und dieser,
Josef Popper, hat die Theorie der Ethik für alle
Zeiten begründet.

In diesem Augenblick fiihle ich, wie das leben-
dige Wort eines gr-oßen Menschen mich in früher
Juger.d geho-ben hätte. Lange habe ich meine
moralische Probe nur -durch die Schönheit d-er
stummen Künste belastet. Ohne einen Laut habe
ich den Großen fremder Kunst mein geistiges Be-
wußtsein gegeben. . Seit meinem jungen Buche
„Der Rhythmus des Lebens und der Kunst“ (1904)
habe ich nicht mehr in dionysischer Musik, son-
dern nur noch in den mit dem Stoff ringenden
Künstlern die Tragik der Welterschaffung und ihre
Auflösung genossen. Das Alter der Malerei, das
ich bis in das schw-ingendste Atoim des Lebens
m-it Ehre fühlte, war mir Biirge, um vor jedem
schwachen Inhalt zu erröten. Aber nach dieser
langen Reife strebt mein Wissen instinktiv nach
d-en geistigen Schöpfungen der Kunst zurück.
Früher hätte ich mein Inneres nicht zäher als
gegen den Satz verteidigt, daß durch die bilden-
den Künste kein Fortschritt der Menschheit komme
Und doch haben kluge Kßpfe damit in der Tat
eben das logisch gedacht, was ich nach den my-
thischen Erfahrungen in meiner Zeit beweisen
möchte. M-ein Irrtum klärt sich mir in der Galerie
Czernin auf, vor dem Bilde Vermeers, genannt
,vdas Atelier“. Nur ein äußerer Umstan-d hält
mich hier, während jetzt Professo-r P. in Baden
bei Wien Herrn Popper besucht. Das kleine Ge-
fängnis wird zum inneren Dom und Schlangen
kriechen aus naiver Schönheit. Es gibt Gewis-
sensqualen, die n-icht neun Monate, sondern drei
Jahre martern. Jede Selbstlosigkeit in uns rächt
sich an Körper und Geist. Für eine vollendete
Anschauung des Auges kann dies Werk genügen
und muß genügen. Heute würde es mir wieder
leichter, aus den Farben Vermeers. ohne eine lden-
tische Phrase, die Geschicht-s der Kunst zu schrei-
ben. Doch muß ich diesen Traum vergessen, wenn
ich die Täuschung der Oeffentlich-keit nicht mittun
will. (Eduard Plietzsch hat eben die Entwicklung
Vermeers untersucht.)

Im Hofmuseum und im Schönbrunner Schloß-
garten habe ich mein-e tiefsten Wurzeln. Dieser
Park lst hochaufgewachsen und -doch nicht über-
wachsen wie das kleme Goethische Belvedere, das
seine entzückende Aussicht auf Wien verliert.
Diese Welt ist ganz geblisben, ja erst heute ge-
nießen wir ihre künstlerische Idee als Natur.
Denn das Original war anders, flach und kalt.
Zur Erklärung denke ich an die Vehemenz, mit
der die Sprache des Racine, im Theater der Sara
Bernhard gespielt wurde, eine Rapidität, die alles,
was das alte Rom odsr der Absolutismus sah,
überwältigte. Da verstand ich das Altertum in
der Leidenschaft. Nie trat ich entfremdeter in die
Pariser Straßen und spürte in ihnen dasselbe
zweitausendjährige Leben. Die strengste Gebun-
denheit ist selbst noch die Bedingung der ge-
schwindesten Bewegung.

Es gibt in Europa vielleicht drei Meister des
Positivismus. Aber anders als sie glaubten, be-
ginnt für mich die Kunst in ihrem Thron der Zeit
herabzusinken; sie gleitet zurück, sie rückt in
mich.

Mitunter kann die Kultur einer Stadt am An-
stand -männlicher Jugend gemessen werden. Im
Wandelhof der Universität sehe ich Studenten,
die nicht posieren, aber sie sind arm gekleidet,
schwarze und graue Männer. Wenn die Reichen
nicht stuidieren, so ist noch zu fragen, ob heute die
Armen in der Minderheit sind. Lange Geistes-
zucht ist nur dann, wenn sie im Interesse der Aus-
nahmen gehandhabt wird, eine hohe Schule.

Ich bin nun nicht dazu gekommen, den Zyklus
des Bauernbreughel, der mein erster hiesiger Ein-
druck war, nochmals zu sehen. Aber ich habe in
der Galerie das stärkste Publikum Wiens gesehen,
halbwüchsige Schulmädel. Ohne Kunde von der

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