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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 2.1911-1912

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Nr. 103 (März 1912)
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Boccioni, Boccioni: Manifest der Futuristen
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Adler, Joseph: Wintersaison
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Gemälde Ausstellung Der Sturm
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https://doi.org/10.11588/diglit.31771#0386

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genüber denen der Museen erglänzen, wie ein
bfendender Tag gegenüber einer nebligen Nacht.

Daraus schließen wir, daß heutzutage keine
Malerei ohne Divisionismus existieren kann. Cs
handelt sich nicht um einen Vorgang, den man er-
lernen und seinem Willen nach verändern kann.
Der Divisionismus muß für den modernen Maler
ein angeborener Komplemen tarismus
sein, den wir für wichtig und notwendig haiten.

Wahrscheinlich wird man unserer Kunst ge-
quäite, dekadente, iibertriebene Qeistesschärfe vor-
werfen. Wir aber werden einfach antworten, daß
wir der Stamm einer neuen. verhundertfachten
Empfindungsfähigkeit sind, und daß unsere Kunst
trunken von Eingebung und Macht ist.

Wir erklären:

1 Daß man alle nachgeäfften Formen ver-
achten, alle ursprünglichen Formen aber riihrnen

muß.

2 Daß inan sich gegen die Tyrannei der
Worte „Harmonie“ und „guter Geschmack“ em-
pören muß, gegen solche nur allzu dehnbaren Be-
griffe, mit denen man leicht die Werke von Rem-
brandt, von Qoya und von Rodin zerstören könnte.

3 Daß die Kunstkritiken unnütz und schädlich
sind.

4 Daß man alle schon benutzten Suiets weg-
kehren fnuß, um unser wirbelndes Leben von
Stahl, Stolz, Fieber und Schnelligkeit auszu-
driicken.

5 Daß man es als Ehre ansehen nruß, „ver-
rückt“ genannt zu werden; denn damit beinüht
man sich, die Neuerer zu knebeln;

6 Daß der angeborene Komplementarismus
eine absolute Notwendigkeit für die Malerei bedeu-
tet, wie der freie Vers für die Poesie und die
Polyphonie für die Musik.

7 Daß der allgemeine Dynamisnrus in der
Malerei als dynamische Empfindung gegeben wer-
den muß.

8 Daß in der Art. die Natur wiederzugeben,
vor allem Aufrichtigkeit und Reinheit liegen muß.

9 Daß die Bewegung und das Licht das
Stoffliche der Körper zerstörön.

W i r k ä m p f e n:

1 Gegen die erdharzige Färbung, durch die
rrran sich bemiiht die Patina der Zeit auf moder-
nen Bildern zu verlangen.

2 Qegen die veraltete und elementare, auf
flachen Färbungcn beruhende Oberflächlichkeit.
die den linearen Bau der Aegypter nachahmen und
die Malerei zu einer ohnmächtigen, kindischen und
grotesken Zusammensetzung gebracht hat.

3 Qegen die falsche Zukunftsmusik der Se-
zessionisten und der independants, die neue, eben-i
so schablonenhafte, gewohnheitsmäßige Akade-
mien eingeführt haben wie ihre Vorgänger.

4 Oegen das Nackte in der Malerei, das
ebenso ekeihaft und unerträglich ist wie das Ehe-
brecherische in der Literatur.

Erklären wir diesen letzten Punkt. Es gibt
nichts „Unmoralisches“ in unseren Augen; wir
bekämpfen nur das. Eintönige des Nackten. Man
erklärt, das Sujet sei nichts, hingegen die Art es
atifzufassen alles. Einverstanden. Das lassen wir
gelten. Aber diese vor fünfzig Jahren unuin-
stößliche Wahrheit ist es heute nicht mehr, was
das Nackte anbelangt, in einer Zeit, da unsere
Maler, von der Notwendigkeit den Körper ihrer
Qeliebten vor uns auszubreiten besessen, ihre Sa-
lons in ebenso viel Märkte verwesender Schinken
verwandelt haben!

Wir fordern für zehn Jahre die
absolute Unterdrückung des Nack-
ten in der Malerei!

Umberto Boccioni / Maler / Mailand
Carlo D. Carra / Maler / Mailaitd

Luigi Russolo / Maler / Mailand
Giacomo Balla / Maler / Rom
Gino Severini / Maler / Paris

Die Futuristen werden die zweite
Ausstellung der Zeitschrift Der
Sturm, Tiergartenstraße 34 a, kol-
lektiv beschicken.


Wintcrsaison

*

Nun ist die Brücke da

Der Theaterbusch hat mit einer neuen Panto-
mime festere Wurzeln get'aßt. Der Blätterwald
spendet ihnr rauschenden Beifall. Ein gut dressier-
ter Ullsteinreporter konstatiert,
daß die Rückentwicklung des Zirkus zuni 'i^he-
ater, die nrit Reinhardts „Oediptts“ machtvoll
einsetzte, auch die regulären Zirkusunterneh-
nrungen ergriffen hat. Die jüngste Prcmiere im
Zirkus Busch hat die letztc Briicke zurn J’he-
ater geschlagen.

Max Reinhardt hat die Rrickentwicklung des
Zirkus zunt Theater um mehr als ein griechisch
Stiick vorwärts geschleudert, er hat sie in Flnß
gebracht, und iiber diesen schlug jetzt die „Hexe“
die letzte Briicke. Die Theaterwelt wird ge-
stiirnrt und geplündert, sie w.ird hinabgerissen in
den geharkten Sand, in die Manege, in die Arena.
Das Theater soll in seine Wiege, der es seit Jahr-
hunderten entwachsen ist, zuriickverdräiigt wer-
den. und müßte es dabei alle Qlieder seiner We-
sensart zusetzen.

Der Judas heißt Reinhardt, der, als fast kein
Hahn mehr nach den „Oedipus“ krähte, das The-
ater an den Zirkus verraten hat.

Er entfesselte die Qeister, uud nun haben sie
eine „Hexe“ geboren, mit Hilfe des „gelehrten
F r ä u 1 e i n Buscti“. Sie hat den Stoff zu ihr
aus der Geschichte geschöpft, und sie Iiat ihn
a u c h e i n f a c h g e m e i s t e r t.

„Zum ersten Male ist es hier gelungen. wirk-
liciie Biihnenkunst mit der zirzensischen
A u s s t e 11 u n g zu vereinen, so daß diese
dramatische Arbeit in keiner Weise rnit den ge-
wöhnlichen Pantomimen auf ,eine Stufe zu stel-
len ist.

Jahrelang stand im Mittelpunkt der Panto-
ininie eine akrobatische Attraktion, ein hals-
brecherischer Trick, ein atemraubender Sturz
oder Flug. Fiir die Novität hat man sich die
Attraktion aus der Kulissenwelt gehoit.“

Man wird ganz dumnr gemacht.

Wie konnte sich der Zirkus die Attraktion für
die Pantomime aus der Kulissenwelt lrolen, wenn
erst die Premiere die letzte Brricke zum Theater
schlug? Ueber eine. vorletzte? Hier stelle ich
euch, elende Phrasenwälzer. Zwischen Zirkus und
Theater liegt ein Meer, das sie. nicht iiberbrücken
läßt. Freilich hat es auch ein seichtes Qebiet,
nnd Moses Reinlrardt hat den „Oedipus“ aus der
Qefangenschaft der Vergessenheit geführt. ln
eine Wüste. Er selbst fiihrte den Tanz ums gol-
dene Kalb anf, und den „Eiinrtausend“ gab er un-
gesäuerte Brode, die unter dern kalten Licht er-
loschener Sonnen nicht braun geworden sind.

Ein literarisches Bankett oder „Scköne Aussichten“

„Zu Eliren Felix Lehnranns, des langjährigen
Berliner Direktors der .1. Q. Cottaschen Verlags-
buchhandlung, der jetzt als Teilhaber in die Firma
Wilhelm Borngräber, Verlag „Neues Leben“, ein-
getreten ist. fand inr Hotel Bristol ein Festmahl
statt, zu dem sich viele hervorragende Persöulich-
keiten auf dem Qebiete der Literatur tind Krmst
eingefunden hatten.“

Das „Neuc Leben“ sucht Anschluß an die Ru-
incn der nrodernen Literatur.

Der junge Verlag, ari dessen Spitze auch noch
dn Teilhaber getreten ist, hat Reverenz vor der
alten Literaturgarde gemacht, die sich nicht er-
gebcn will, trotzdem sie schon gestorben ist.

Die Firma Borngräber und Lehmann will sie
unter ihrer Fahne sanrmeln und sie in diesem
kampfreichen Leben treuen Siegen zufiihren. Sie
lud sie fürs erste zu einem Festmahl und machte
ihr zn guter Letzt nrit Sekt die Mäuler aui hohe
Honorare wässerig. So niedrig rrniß ich den W'ert
des „literarischen Banketts“ einschätzen, denn
sein Abgianz wird ba!d arn deutschen Büchermarkt
aufieuchten. Man vergesse nicht, daß die Literatur
ciurclr diese Sterne vertreten war:

Hermann Sudermann, den langjährigen
Freund Felix Lehrnanns, durch Lndwig Fulda,
Rudolf Stratz, Felix Philippi, Paui Schlenther,
Qeorg Engei, Hanns Heinz Ewers, Professor
Ludwig Stein, Heinz Tovote u. a.

Die „m u s i'k a 1 i s c h e W e 11“ hatte Hein-
riclr Qrfmfeld und Siegfried Ochs entschickt, und
die Maler Meyerheim, Hugo Vogel und Langham-
mer vervollständigten das glänzende Bild.

Im Verlauf des außerordentlich animierten
Banketts ergriff Hermann Suderrnann das Wort
zu einer geistreich pointierten Rede, in der er
die verlegerischeri Vorziige Direktor Lehmanns
feierte, dessen scharfer Blick so viele schrift-
stellerische Talente entdecken half, und dem
auch er, Sudermann, seine Einführung in die
Literatur zu verdanken habe.

Wider den scharfen Biick des Herrn Lehmann
werden bald voii neuenr viele Bände Stumpfsinns
sprechen. Und das ist so gewiß, ais es verlorene
Miihe bleibt, unter den Meyerheims sich zurecht-
zufinden. Der' Paul ist der b e r ü h m t e Löwen-
maler. Aber die andern?

Wer mir gesagt hat, daß der Meyerheim, der
die Raubtiere so entzückend schön malt, mit dem
Vornamen Paul heißt? Diese Pojente: Für die
»msikalischen Qeniisse des Abends sorgte Pro-
fessor Panl Meyerheim, der beriihmte Löwen-
maier, durch den Vortrag einiger Balladen von —■
Löwe.

B r a y g e b r ii 111, k u n d i g e r S c h m o c k.

Joseph Adier

Verantwortiich für die Schriftleitung
HERWARTH WALDEN / BERLIN-HALENSEE

Qemälde -Ausstellung
Zeitschrift Der Sturm

Der Blaue Reiter
Franz Flaum
Oskar Kokoschka
Fxpressionisten

Tiergartenstraße 34 a

Die Ausstellung ist tägiicii von

10 bis 5 Uhr (auch Sonntags) geöffnet

Karte 1 Mark / Dauerkarte 2 Mark

Schiuß der Aussteilung am ü. M«i

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