Overview
Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 4.1913-1914

DOI issue:
Nummer 170/171 (Juli 1913)
DOI article:
Hausenstein, Wilhelm: Vom Kubismus
DOI Page / Citation link:
https://doi.org/10.11588/diglit.27574#0071

DWork-Logo
Overview
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
begann für ihn die eigentliche Arbeit. Er sagt,
seine erste Periode sei mühelos gewesen im Ver-
gleich zur zweiten. Und das ist ohne weiteres
glaublich- Es ist einfach sachlich überzeugend. Es
ist das Mindeste, das man vor einer anständigen
und intelligenten kritischen Gesinnung verlangen
kann, daß sie den inneren und äußeren Aufwand
fühle, der zumal in den neuen Arbeiten Picassos
wahrnehmbar ist.

Apollinaire versucht eine Aufstellung der Ele-
mente des Kubismus. Er unterscheidet einen „ou-
bisme physique“ natürlichen, physischen Kubis-
mus, einen orphischen und einen intuitiven Ku-
bismus.

Vertreter des natürlichen oder physischen Ku-
bismus, dessen Elemente der Wirklichkeit der Ge-
sichtseindrücke entnommen sind, ist für Apollinaire
zum Beispiel Le Fauconnier. Sein Kubismus ist
noch am äußeren physischen Objekt beteiligt, ent-
hält noch Elemente visueller Anschauung. Apolli-
naire sieht in diesem Kubismus die gegebene Form
des modernen Historienbildes. Man denke an den
Chasseur von Le Fauconnier.

Der Hauptvertreter des wissenschaftlichen Ku-
bismus ist für Apollinaire Picasso. Er weiß die
Formen. Er hat sie erkannt. Er hat ihre Meta-
physik begrifflich inne. Sie haben sich ihm aus
optischen in cerebrale Vorstellungen umgesetzt.

Aber damit ist Picasso nicht erschöpft. Er ist
zugleich — denn seine Natur ist zusammengesetzt
— der wesentlichste Vertreter des orphischen Ku-
bismus- Lassen wir uns durch das Peinliche einer
pedantisch geistreichen Terminologie nicht stören
und nehmen wir das Wort der Bequemlichkeit
halber an. Orphisch ist der Kubismus, der seine
Objekte und Mittel weder mit dem äußeren Ge-
sichtssinn, noch gedanklich erfährt, sondern der Ku-
bismus, der gefühlsspekulativ, schöpferisch, durch
seine supranaturale Einbildungskraft konstruiert
oder dichtet: aus einem Enthusiasmus, der über die
gedanklichen, überhaupt über die menschlichen
Grenzen greift. Der instinktive oder intuitive Ku-
bismus endlich ist die undifferenzierte Vorstufe aller
dieser Möglichkeiten.

Im Ganzen handelt es sich nach Apollinaire beim
Kubismus um eine „unhumanistische religiöse
Kunst“. Die Ausdrücke sind wertvoll. Wertvoll
ist auch die allgemeine Definition, die Roger Allard
im „blauen Reiter“ gegeben hat. Sie lautet:

„Was ist der Kubismus?

In erster Linie der bewußte Wille, in der Ma-
lerei die Kenntnis von Maß, Volumen und Gewicht
wiederherzustellen.

Statt der impressionistischen Raumillusion, die
sich auf Luftperspektive und Farbennaturalismus
gründet, gibt der Kubismus die schlichten, abstrak-
ten Formen in bestimmten Beziehungen und Maß-
verhältnissen zueinander. Das erste Postulat des Ku-
bismus ist also die Ordnung der Dinge, und zwar
nicht naturalistischer Dinge, sondern abstrakter
Formen. Er fühlt den Raum als ein Zusammenge-
setztes von Linien, Raumeinheiten, quadratischen
und kubischen Gleichungen und Wagverhältnissen.

In dieses mathematische Chaos eine künstle-
rische Ordnung zu bringen, ist die Aufgabe des
Künstlers. Er will den latenten Rhythmus dieses
Chaos erwecken.

Für diese Anschauung ist jedes Weltbild ein
Zentrum, dem die verschiedenartigsten Kräfte
streitend zu streben- Der äußerliche Gegenstand
des Weltbildes ist nur der Vorwand oder besser
gesagt: Das Argument der Gleichung.
Er war gewiß von jeher nichts anderes in der
Kunst — nur lag dieser letze Sinn jahrhundertelang
in einem tiefen Verstecke, aus dem ihn heute die
moderne Kunst zu holen sucht.“

Genau so bezeichnet Salmon das Wesen des Ku-
bismus, wenn er bei Picasso von eine „peinture-
equitation“, das heißt von einer Gleichungsmalerei
spricht.

Wir wollen an dieser Stelle nicht auf die nuan-
cierenden Unterscheidungen eingehen, die Apolli-
naire gegenüber den einzelnen Kubisten versucht.
Ich gestehe, daß es mir bislang nicht gegeben ist.
bei Metzinger eine Linie von Seurat her zu sehen
oder Braque als einen „peintre angelique“ zu emp-
finden“. Es wird besser sein, wenn wir einstweilen
bei dem Grundsätzlichen bleiben, wenn ich auch
keineswegs bezweifle, daß man gegenüber dem ku-
bistischen Werk seine Organe in dem Sinn diffe-
renzieren kann, wie Apollinaire es getan hat.

Das allgemeine Gesetz chss Kubismus ist die
Vernichtung des Gegenstandes — des Gegenstan-
des insofern, als er eine visuelle Einheit, eine
optisch-natürliche Impression ist. Der Kubist will
den ganzen Gegenstand, nicht eine Teilimpression.
Er will die räumliche und zeitliche Totalität des
Objekts ins Bild bringen. Das kann nur gelingen,
wenn sich die Teilimpressionen als Teile verbin-
den. Hier waltet ein ähnliches Anschauungsgesetz
wie beim futuristischen Seh- und Darstellungs-
willen, der ebenfalls die Vielseitigkeit des Objekts
im Raum und in der Zeit zur Darstellung brin-
gen will. Es leuchtet ein, daß damit eine Erwei-
terung des überlieferten Sehwillens gegeben ist:
eine Erweiterung im Sinne einer gewissen Epik.
Wenn man will, kann man hier prinzipiell dasselbe
sehen wie in den polyhistorischen Bildern der Pri-
mitiven, auf denen zugleich Geburt, Anbetung und
Kreuzigung Christi zu sehen sind: das kubistische
und das futuristische Bild wollen etwas Analoges,
doch vom Stand je einer modernen Nerven-
kultur, einer lediglich inneren Anschauung, die sich
in sichtbare Aequivalente ergießen will-

Aber das physische Objekt, richtiger die op-
tische Impression spielt bei den Kubisten eine noch
reduziertere Rolle als bei den Futuristen. Und
selbst das psychische Objekt, in das sich bei den
modernen Schulen das physische Objekt ver-
wandelt, erscheint bei den Kubisten reduzierter.
Die „Kubistierung“ einer gegebenen natürlichen
Form oder einer gegebenen, irgendwie aus Sinnes-
eindrücken oder Ideen abgeleiteten seelischen Dis-
position bewirkt, daß das Bild des Kubisten die
Gleichungsverhältnisse stärker betont. Auf dies Pro-
blem kann nicht nachdrücklich genug hingewiesen
werden: es handelt sich beim Kubismus mehr als
irgendwo in der modernen Malerei um die bildne-
rische Herstellung eines Gleichungsverhältnisses
zwischen den Bildelementen. Das kubistische
Mittel hat die Wirkung, daß es zwischen das natu-
rale Erlebnis und die künstlerische Formulierung
zunächst die notwendigen Hemmungen einschiebt,
daß es die Dekomposition der Wirklichkeit voll-
zieht. Das kubistische Mittel bewirkt die Vernich-
tung des Naturalen radikal. Und das ist gut. Denn
das Naturale ist der Feind des Künstlerischen. Das
kubistische Netz bewirkt dasselbe wie die Grenzen
der musivischen Steine oder der Bleilinien der
Glasfenster. Aber hinaus über diese zunächst nega-
tive Funktion bewirkt das kubistische Mittel die
Ausgleichung der Bildelemente gegeneinander. Das
Bild wird eine unendliche Gleichung: ob es nun
Ruhe oder kinematische Bewegung der Dinge und
ihrer psychischen Reflexe enthält. Weiter wird
das Mittel der Gleichung, die kubistische Lineatur,
an sich selber bedeutsam. Die Gleichung ist das
eminenteste aller formalen Mittel. Es ist zum min-
desten kunstmethodisch wertvoll, wenn das Mittel
so rein, so abstrakt, so fanatisch zum Vortrag ge-
bracht wird: fast losgelöst von allen darstelleri-
schen Funktionen, fast losgelöst von allem repro-
duktiven Sinn.

Aber weshalb gerade der Kubus? Die Logik ist
klar. Der Kubismus ist der Feind der kunstgewerb-
lichen Flächenarabeske. Er will den Raum nicht
verlieren. Ebenso wenig will er den naturellen
Raum, die Raumillusion, „les bassesses de la per-
spective“. Er will die einfachsten bildnerischen
Gleichungen des Raums: den Würfel, das Parallel-
epipedon, die pyramidalen Formen, auch die Kugel.
Kubus ist hier einfach der abstrakte Ausdruck der
dritten Potenz.

Schließlich läßt sich auch eine rein äußere Linie
sehen: die formgeschichtliche Tradition von Ce-
zanne her, der die „Kubistierung“ der gegebenen
(äußeren oder inneren) Naturform mit instinktiver
Genialität vorbereitet hat. Man sehe seine Land-
schaften.

Doch genug. Es ist nun die Frage, ob die hier
erörterten kubistischen Möglichkeiten weit tragen
können. Ob sie Werke von große Exekutive her-
vorbringen können oder ob sie bloß eine wertvolle
formmethodologische Krise bedeutet.

Die Kubisten, zum Beispiel Metzinger und Glei-
zes in ihrem lesenwerten Buch, wehren sich gegen
die Auffassung, sie wollten „Rebus“ geben. Daß
sie das nicht wollen, ist ohne weiteres zugegeben.
Die Frage ist nur, ob sie das, was sie vermeiden
wollen, objektiv auch wirklich [vermeiden. Sie
wehren sich gegen den Vorwurf des Okkultismus.
Ohne Zweifel — sie wollen keine Kabbalisten sein.
Salmon, ein feiner Kritiker, bestätigt das. Allein,
was wirken sie?

Vom Bilde fordern wir mit Recht die Ueber-
setzung unseres Lebens in Formen. Ich bekenne
mit Freude, daß ich vor den »Arbeiten Picassos
immer das Gefühl einer überschwenglich-innigen
Ausdeutung der Dinge habe. Ich fühle, wie hier
die Dinge des Lebens einer entschlossenen Dekom-
position unterworfen werden und wie dann wieder
rein aus formaler Logik Systeme der Anschauung
zusammenwachsen. Aber dafür, daß ich immer
die Empfindungsassoziationen hervorbringe, die
Picasso will, bürge ich nicht. Und darum glaube
ich, daß Worte wie Rebus und Okkultismus doch
etwas treffen. Allein wer weiß? Vielleicht be-
zeichnen diese Worte gar nichts Bedauernswertes.
Vielleicht liegt das Okkulte im Wesen der Zeit, die
eine neue Religiosität ahnt. Und am Ende assoziere
ich einem Leibibild von gegenständlicher Art
ebensowenig die spezifischen Formgefühle, die
Leibi gehabt hat, wie einem Picasso. Vielleicht
handelt es sich hier wirklich um unübertragbare
Imponderabilien.

Ist hier kein bedingungsloser Einwand, so
kommt er von anderer Seite. Kandinsky fragt in
einem Aufsatz des „blauen Reiters“, weshalb der
Kubismus definitiv alle Mittelformen, alle die zahl-
losen egalisierenden Formvarianten ausschließe,
die Erfahrung oder Uranschauung geben kann?
Hier ist ein Ansatz. Es wird abzuwarten sein,
wie sich der Kubismus mit diesen Fragen ausein-
andersetzt. Und weiter: der Kubismus malt nicht.
Die Palette Picassos ist seltsam metaphysisch,
seltsam okkult: Weiß, Schwarz, Grau, Sepia,
Ocker, Asphalt — dazwischen kommt wohl spärlich
Rosa, trübes Blau, trübes Grün. Von den spezifi-
schen Reizen der Oelmalerei und des Pinsels gar
nicht zu reden. Picassos Malerei und die seiner
Freunde wird zu einer zerebralen oder emotio-
nellen Graphik. Sie hat rein als Arabeske ihren
unwiderstehlichen Reiz. Sie ist von einer wunder-
vollen Rätselhaftigkeit. Aber sie ist positiv das
Ende der Farbe. Nicht umsonst treten Reaktionen
wie der Synchromismus auf: sie sind Zeichen der
Zeit. Picassos Kunst selber ist noch im Licht ge-
boren. Aber was werden seine Nachfolger tun?

Es wird gesagt, der Kubismus habe sich ver-
rannt. Ich weiß es nicht. Es ist möglich- Dieser

68
 
Annotationen