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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 4.1913-1914

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Nummer 170/171 (Juli 1913)
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Mynona: Idee vom Ferntaster
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Hausenstein, Wilhelm: Vom Kubismus
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https://doi.org/10.11588/diglit.27574#0070

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meilenweit, mein Geruch unglücklicherweise bis Ln
das W.C. des Lyrikers Expresber. Die kleine
Dirne Kleptomanopatra höre ich h i e r, wenn sie in
Kairo aus dem Beischlate spricht. Den eleganten
Novellisten Paul Juchheyse ahne .ich (selbstver-
ständlich mit dem Ahnungsvermögen), wenn ich
noch so fern von ihm an (nichts 'denke- Aber
schmecken und tasten kann ich alle d i e
Lieben nur, wenn ich sie ganz dicht bei mir
habe (wovor mich übrigens der liebe Gott noch
lange bewahren möge!) Immerhin doch! Es geht
aus allem hervor, wtenn einer fragt: wo bin ich?
daß er dann eigentlich meint: wo bin ich zu

tasten. Denn gesehen, gehört, gerochen könnte
er auch anderswo werden. Ja, dieses klobige Ge-
tast! Man muß es loseisen, auftauen, auf Drähte
ziiehn und schließlich drahtlos in alle Ferne
schicken. Wie einfach!

Sehen Sie, liebe Frau Scholz, ehe daß Sie nun
Ihre Strümpfe und Schuhe anziehen, sich pudern,
den Bahnhof aufsuchen, ins Coupe steigen und vier-
zehn Tage brauchen, bis Sie noch nicht einmal in
Japan sind, wo der Prinz Ten-tsim-pö Sie in seine
gebrechlichen Arme reißt — stellen Sie sich ein-
fach nackt, wie Sie, wo wir nicht fehlgehen, Gott
erschaffen hat, auf ne Art Wagschale, deren Zwil-
ling am Ziel ihrer Bestimmung schwankt: Im Hand-
umdrehen ist alles, was an Ihnen tastbar, wägbar
■ist, hindurchtelehaptiert! Man wird nächstens auch
die Kleider mitschicken können; vorläufig sträubt
sich der Ferntaster . . . schamhaft!!! . . . gegen
alles nicht Splinterfasernackte. Wahrscheinlich ist
das der Grund, weswegen er noch nicht recht
funktioniert ?

Wie dem auch sei, der Ferntaster, der ja selbst-
verständlich, wie Professor Abnossah Pschorr mir
mitzuteilen die Güte hatte, den Fernriecher, Fern-
schmecker, Fernwärmer resp. -Kälter usw., in sich
einbegreift, ist das Ideal aller Beförderungsmittel
■ . . und so gesund, so amüsant, so modern, daß er
in Sonderheit auf dem bisher etwas
umständlichen Gebiet der Erotik direkt erfrischend
zu wirken verspricht. Ja, Mutter Kobelke, haben
Sie denn gehört, daß ein Teletiktor, ein Ferngebär-
apparat in sichere Aussicht genommen worden ist?

Alles was wahr ist! Ein bischen Selbstüber-
windung kostet es schon, ein bischen momentane
Selbstpreisgebung, sich telehaptieren zu lassen.
Ach mein lieber Kolomalwarenhändler Schwach
aus Halle, reißen Sie sich von. dem Wahne los,
daß Sie nicht in Birma wären: Sie sind überall,
aber ohne den Telehaptor erleben Sie das schwer-
lich! Was soll Ihnen Halle? Wlie schön ist Birma!
Lassen Sie sich man blos telehaptieren, von wegen
Segnung Ihres Andenkens in Halle! Um daß man
Ihnen nachtrauere!

Und ganz entzückend wäre auch die (noch nicht
eingeführte) zwangsweise Telebaptierung! Da
könnte man ganze Regimenter von Widerwärtig-
keiten mit Eins ins Pfefferland feuern und rach den
Absendeapparat ruinieren. Menschenskinder, wäre
das erlösend! . . .

W i e meinten Sie, Sie Schafsnase? Sie halten
den Gedanken für phantastisch. Sie Urian? Wollen
Sie still sein. Sie Eber! Dichten Sie meinethalben
Festspiele auf 1813, Sie Jubelgreis! Glauben Sie
vielleicht. Sie wären hier unter sich? Sie Aas-
geier! Halten solche Ideen für Wind und Gaseier?
Was? Lichtwellen und solches Gelumpe sollten
sich rapide fortpflanzen — und haptische Vibratio-
nen nicht? Sind Sie verrückt? Oder sind Sie viel-
leicht zufällig die dumme Gans, die nur mit Offi-
zieren geht? Sie Unsal!

V

Vom Kubismus

Es ist unmöglich, das Problem des Kubismus,
so fertig es formuliert zu sein scheint, heute schon
ganz zu übersehen. Ueber den Kubismus ist zwar
viel geschrieben worden. Man kann schon
von einer kleinen Literatur sprechen. Zwei ku-
bistische Maler, Jean Metzinger und Albert Gleizes,
haben ein Buch des Titels „Du Cubisme“ heraus-
gebracht. Guillaume Apollinaire hat ein Buch des
Titels „Les peintres cubistes“ veröffentlicht, das
in einem allgemeinen Teil eine bemerkenswerte Er-
örterung der grundsätzlichen Fragen des Kubis-
mus und in einem speziellen Teil knappe, aber ge-
fühlte Profilierungen der einzelnen kubistischen
Künstler und Künstlerinnen gibt. (Beide Werke er-
schienen bei Figuiere in Paris und sind in Deutsch-
land vom Verlag „Der Sturm“ zu beziehen.) In
dem Buch von Andre Salmon über die moderne
französische Malerei („La jeune peinture fran-
caise“, Paris, Societe des Trente, Albert Messein,
19 Quai Saint Michel), das wohl die feinste Arbeit
über die jüngsten Kunstbewegungen ist, findet man
eine für die äußere Geschichte des Kubismus wie
für die stilpsychologische Erklärung gleich wert-
volle „histoire anecdotique du cubisme“. Im ersten
Heft des „blauen Reiters“ .findet sich ein gediegener
Aufsatz von Roger Allard über „die Kennzeichen
der Erneuerung der Malerei“, in dem das Problem
des Kubismus erörtert wird, und weiter ein beson-
ders wertvoller, durch konkrete Werkanalysen
lehrreicher Aufsatz von E. von Busse über „die
Kompositionsmittel bei Delaunay“. Auch das im
Ganzen — sagen wir kunstmodernistisch fatale
Buch von Fritz Burger über „Cezanne und Hodler“,
das im Münchener Delphinverlag erschien, gibt
beachtenswerte Aufschlüsse, insbesondere über
Picasso. Die Werke von Metzinger und Gleizes
und von Apollinaire bringen ein beträchtliches Bil-
dermaterial. Wenn man diese Literatur durchge-
arbeitet hat, fühlt man sich zunächst um wertvol-
les Material bereichert. Das Historische und
Persönliche, das man erfährt, gibt der Situation
eine gewisse Körperlichkeit, das Gewicht und die
Struktur historischer Tatsachen. Damit ist gegen-
über den kubistischen Tafeln, die zunächst anmuten
mochten wie die spiritistische Hieroglyphik imma-
terieller Wesen, eine psychische Hemmung besei-
tigt oder wenigstens ein psychisches Vakuum aus-
gefüllt. (Nebenbei: wir wollen die Schwierigkeiten
unbedenklich eingestehen und so sehr als unvor-
bereitete Laien erscheinen, wie wir es sind und in
dieser Zeit noch sein müssen.) Weiter gewinnt
man, weil hier prüfbare Gedanken über den Kubis-
mus klar ausgeformt sind. Aber freilich: auf die
Dauer fühlt man, daß alle diese literarischen Er-
örterungen nicht sehr wesentlich über das hinaus-
führen, was man halbbewußt schon selber an Ein-
drücken besessen hat. Man wird zu neuen Fragen
vorgetrieben: aber da geben weder die Bücher
noch die Bilder Antwort genug. Das beweist
nichts gegen die Bücher und erst recht nichts gegen
die Bilder und auch nichts gegen uns. Es beweist
vermutlich bloß, daß wir dem kubistischen Bild-
mittel nicht genug assimiliert sind- Das Nämliche
beweist es von den Büchern. Und vielleicht be-
weist es von der kubistischen Malerei, daß ihre In-
stinkte in einem problematischen Stadium sind, in
dem sich die Dinge weder für das Gefühl noch für
den Begriff restlos formulieren lassen. Das sind nun
bloß genetische Feststellungen, keine Werturteile.
Aber mehr können1 wir augenblicklich offenbar
nicht leisten, wenn wir gewissenhaft sein wollen.
Die unsäglich billigen Farcen, die den Kubismus
bürgerlich oder kunstkonservativ oder sonstwie
anöden, sind außerhalb jeder Debatte. Aber noch
verhängnisvoller wäre ein wirres künstliche Apo-

stolat. Es kann in den Problemen des Kubismus,
und sollte er auch schon zur Neige gehen, jetzt
noch keine bedingungslose Empfindungssicherheit
geben. Ich selber habe gegenüber dem prinzipiellen
Mittel des Kubismus und gegenüber bestimmten
Werken, die er hervorgebracht hat, das Gefühl un-
endlich tiefdringender Anziehung. Ich denke an
Arbeiten von Le Fauconnier, an Arbeiten von Pi-
casso, an Arbeiten von Braque, von Derain, De-
launay, Fernand Leger, Duchamp und Metzinger.
Dies Gefühl quält; aber es gibt auch die Ahnung
unendlicher Lösung. Was -wir tun können und tun
müssen, ist dies: unsere Widerstände herausarbei-
ten und unsere Zuneigungen vertiefen, indem wir
bei jeder Gelegenheit Arbeiten von irgendwie fühl-
barer künstlerischer Gewalt wie die Picassos, Ar-
beiten, von denen wir instinktiv die Empfindung
irgendwiegearteter Bedeutung haben, auf uns
wirken lassen und indem wir einstweilen registrie-
ren, was sich von den Problemen des Kubismus
bis jetzt fassen läßt.

Das Aeußerlich-Historische mag man im einzel-
nen bei Apollinaire und Salmon nachlesen. Die
Priorität der Namen ist gleichgültig: wir notieren,
daß der Name Kubismus zum ersten. Male 1908 ge-
braucht wurde, und zwar von einem Gegner des
Kubismus, von Henri Matisse, der Delaunay und
Metzinger lächerlich machen wollte. (So sind vor-
dem die Schulbezeichnungen „Impressionismus“ und
„Pointillismus“ aus der Ironie der Konservativen
entstanden- Vermutlich sind alle diese Namen des-
wegen so wenig geschmackvoll. Gleichwohl: das
Neue akzeptiert den polemisch gemeinten Titel, der
sich einprägt, und die Gueusen triumphieren .immer
trotz ihrem Namens.) Apollinaire hält Derain für
den historisch ersten Kubisten. Im Ganzen sind
Derain, Braque und Picasso die gleichzeitigen Ini-
tiatoren des Kubismus, Allmählich haben sich die
anderen angeschlossen. Ausstellungsgelegenheiten
fanden die Kubisten bei den Independants und im
Herbstsalon. 1911 machten sie bei den Indepen-
dants ihre erste Kollektivausstellung. Außerhalb
Frankreichs fanden die Kubisten, unter denen einer
der Wichtigsten, wohl der am stärksten Begabte,
Picasso selber Spanier ist, namentlich in Spanien
freien Boden.

An kubistischer Intensität hat zweifellos Picasso
am meisten geleistet. Man kennt seine erste Pe-
riode, von der Salmon mit Recht sagt, sie schwinge
zwischen dem Greco und Toulouse-Lautrec. Diese
Kunst war nichts Geringes, wiewohl sie einzelnes
Schwache hervorgebracht hat und im Ganzen viel-
leicht überschätzt wird. Sie schien immerhin eine
feine künstlerische Zukunft zu verheißen. Picasso
gab diese Kunst preis, um ganz eigene Wege zu
suchen. Er wußte, daß die Mittel seiner ersten
Zeit nicht nur für ihn persönlich, sondern über-
haupt, objektiv, sachlich erschöpft waren- Keine
Geste eines verschwenderischen Verzichts auf vor-
handene Möglichkeiten. Keine Willkür und keine
Spekulation. Das Mittel der Tradition war er-
schöpft. Picasso mußte, wenn er nicht unproduktiv
werden wollte, neue Anschauungen suchen. Es
liegt alles daran, daß man diesen Fall, daß man die
Notwendigkeit des Abbruchs versteht. Picasso zer-
brach die Mittel der Naturillusion, auch der rela-
tiven, nun Stück um Stück. Er durfte das, denn er
hatte die Natur studiert, wie es nicht allzu viele
tun. Unter dem Einfluß polynesischer Plastiken
fing er an, die Nasen seiner Akte zu stereometri-
sieren, um die künstlerisch vorgestellte Form von
der natürlichen möglichst zu trennen. Von hier
ging er weiter. Die Perspektive, den „truc mise-
rable du trompe-roeil“, wie die jungen Franzosen
sagen, hatte er längst aufgegeben. Die Matisse-
schule war ihm darin voraus gegangen. Nun erst

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