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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 4.1913-1914

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Nummer 194/195 (Zweites Januarheft)
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Kohl, Aage von: Der Weg durch die Nacht, [2]: Roman
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Cendrars, Blaise: Contrastes
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Babillotte, Arthur: Die Schwermut des Genießers, [18]: Roman
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https://doi.org/10.11588/diglit.27574#0167

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auch, obwohl niemand als ihre beiden alten Eltern
an ihr Qrab zu kommen pflegen, der Bürger-
meister und seine Frau!

Aber sehen Sie, mein Herr —: Die Sache ist ja
so, daß niemals irgend jemand den Täter gefaßt
hat, daher ist das ganze insofern auch begreiflich
genug: so lange einem keine Gerechtigkeit wider-
fahren ist, kann man ja schwer Frieden finden, man
weiß nicht aus noch ein, man geht hier hinauf und
da hinab, und selbst die besten Freunde können
einem nicht nahe kommeu — das weiß man ja
selbst recht gut, wie die Sachen hier auf Erden
nun einmal zu sein pflegen! . . .

Na, und endlich, was ich absichtlich bis zuletzt
aufbewährt habe, weil es vielleicht das beste von
allem ist — und jedenfalls

„Ei, ist da noch mehr?! Sie sind offenbar sehr
wohl versehen, hier, habaha!“ sagte Morton, ohne
es zu wissen, und lachte ein wenig.

Er fühlte, daß seine Wangen schneeweiß waren,
merkte wie die Knie schlotterten, tief, tief unter
ihm, es war ihm einen Augenblick, als weiche die
Erde nach allen Seiten von ihm weg, als werde er
plötzlich meilenhoch oben in der Luft, ohne festen
Fuß fassen zu können, mit einer tosenden Finster-
nis um sich her . . . und da ward sein Ohr auf ein-
mal schmerzend von einem dröhnenden Glocken-
klang getroffen, ding dang, ding dang, eine Se-
kunde noch war es ihm, als befinde er sich auf ein-
mal an einem unbekannten Ort in einem erdfernen
Lande, ja, an der Pforte, die zu einem kohlschwar-
zen und ungeheuren Garten führte, wo er nie zu-
vor gewesen war, wo er läutete, um hineinzugelan-
gen, sehnsuchtsvoll an dem Gitter rüttelte, um hin-
einzugelangen, um Sie zu sehen, um mit ihr für
immer zusammen zu sein, ohne sie je wieder ver-
lieren zu können, ding, ding ding, ding dang . . .
aber da erkannte er auf einmal den Ton der Aus-
gangsglocke, es war spät, der Schweiß troff ihm
von der Stirn, er war todmüde, in einer Viertel-
stunde sollte die Friedhofspforte geschlossen wer-
den, ja, ja, nach Hause, fort von hier, was sollte er
hier auch — und was war das für ein wildfremder
Mann, der dastand und unaufhörlich dicht neben
seinem Ohr redete?

Er sah sich einen Augenblick verwirrt grübelnd
um.

Nickte dann unwillkürlich und erkannte die
Stimme des Alten, noch ohne seine Worte ver-
stehen zu können.

Begann nervös nach einem Vorwand zu suchen,
um fort zu kommen — unterschied von neuem
das Läuten da drüben, hinter sich —:

„Hailoh,“ — sagte er dann, sich auf einmal rät-
selhaft licht und leicht fühlend — „entschuldigen
Sie, daß ich Sie hier unterbreche: aber ich höre,
daß schon ausgeläutet wird! Nehmen Sie es mir
nicht übel, daß ich gehe!

Haben Sie Dank für ihre Mitteilungen — Sie
haben mir mehr Freude damit bereitet, als Sie
"ahnen!

Auf Wiedersehen!“ — Er lüftete seinen Hut,
nickte mit einem Lächeln, warf den kalten Zigaret-
tenstummel weg, drehte sich um und ging. —

Währenddessen hatte sich die Dämmerung her-
abgesenkt.

In weiter Ferne standen die Bäume kohl-
schwarz gegen den hellen Himmel.

Eine zwitschernde Schar von Vögeln fuhr in die
Höhe, ganz in der Nähe rechts von ihm.

Er fühlte sein Herz auf einmal sonderbar er-
füllt von Dankbarkeit frei — wandte deswegen den
Kopf über der Schulter um und nickte dem Mann
noch einmal zu, der dort stand, kreideweiß mitten
in all dem Grünen.

Fortsetzung folgt

Contrastes

Les fenetres de ma poesie sout grandouvertes
sur les Boulevards et dans ses vitrines
Brillent

Les pierreries de la lumiere
Ecoute les violons des limousines et les xylo-
phones des linotypes

Le pocheur se lave dans l’essuie-main du ciel

I out est taches de couleur

Et les chapeaux des femmes qui passent sont des

cometes dans l’incendie du soir.

*

L'unite

II n'y a plus d'unite

Toutes les horloges marquent maintenant 24 h.

apres avoir ete retardees de dix minutes
11 n’y a plus de temps.

11 n’y a plus d’argent.

A la Chambre

On gäche les elements merveilleux de la matiere
Premiere.

*

Chez le bistro

Les ouvriers en blouse bleue boivent du vin rouge
Tous les samedis poule au glbier
On joue
On parie

De temps en temps un bandit passe en automobile

Ou un enfant joue avec l’Arc de Triomphe-

Je conseille ä Mr. Cochon de loger ces protöges
ä la Tour Eiffel.

*

Aujourd’hui

Changement de proprietaire
Le Saint Esprit se detaille chez les plus petits
boutiquiers

Je lis avec ravissement les bandes de calicot
De coquelicot

II n’y a que les pierres ponces de la Sorbonne
qui ne sont jamais fleuries
L'enseigne de la Samaritaine laboure par contre
la Seine

Et du cöte de Saint Severin
J’entends

Les sonnettes acharnees des tramways.

*

II pleut des globes electriques
Montrouge Gare de lTst Metro Nord-Sud ba-
teaux-mouches monde
Tout est halo
Profondcur

Rue de Bucy on crie l’Intransigeant et Paris-Sport
L’aerodrome du ciel est maintenant, embrasö, un
tableau de Cimabue
Quand par devant
Les hommes sont
Longs
Noirs
Tristes

Et fument, cheminöes d’usines.

Blaise Cendrars

Die Schwermut des
Genießers

Roman

Artur Babillotte

Schluß

Mein lieber Johannes! Vor etwa fünf Monaten
batest du mich, ich möchte dir auf deinen Brief
nicht antworten. Jeder geschriebene Einfluß wäre

die reine Pein. Jetzt, nach’ solanger Zeit, glaube
ich. dich nicht zu betrüben, wenn ich dir einige
Zeilen zugehen lasse. Es drängt mich, dir die Er-
füllung aller deiner künstlerischen Träume, besser
gesagt, deines Einen großen Traumes zu wün-
schen. Zufällig las ich gestern in der Zeitung, daß
dein Werk in Leipzig einen bedeutenden Erfolg
errungen hat. Ich hätte nicht geglaubt, daß die
Menschen dir so willig entgegenkommen würden.
Ich weiß, wie schwerfällig und bequem die meisten
Menschen sind. I)u wirst erkannt haben, daß
sie dies nicht im vollen Verständnis deiner Kunst
taten —, sie hat das Neuartige deines Werkes ge-
wonnen.

Du erinnerst mich in deinem Briefe an die
Kleinstadt, in der wir einmal einige Monate zusam-
men verlebten. Ich ärgerte mich oft über dich, weil
du verschlossen, abgekehrt, oft sogar grillig warst.
Das kannte ich nicht an dir. Hättest du ein ein-
ziges Wort davon gesagt, daß du dich mit dem
Plan eines großen Werkes trägst —: Aber dazu
warst du wohl zu stolz.

Stolz . . . schon in deiner Kindheit war er deine
Stärke. Du warst nicht beliebt — ich rede offen,
die Knaben, in denen nichts Außergewöhnliches
steckte, mieden dich. Ich glaube, du wußtest gar
nichts davon. So anders warst du.

Viele werden sich wundern, wenn du eines
Tages ein Großer im Reich der Musik sein wirst.
Hier wirst du leise lächeln. Denn dir ist alles Mu-
sik, das Sausen ungebärdiger Nachtstürine und
das ängstliche Winseln eines getretenen Tieres.

Im Vergleich zu dir bin ich ein unmusikalischer
Mensch. Ich empfinde diese Musik nur, wenn ich
sie höre. Sobald sie verstummt, hört mein Genie-
ßen auf. Ich bin nun hier in Amerika. In weiten
Ritten hab ich seine Prärien und Qebirge durch-
streift: ganze Nächte lang lag ich ausgestreckt im
Gras und starrte in den Himmel. Alle diese Er-
lebnisse haben keine musikalischen Empfindungen
in mir ausgelöst. Ich bin nicht fein genug orga-
nisiert. An mich hat die Natur zuviel Rohstoff ver-
schwendet, darüber ist die Seele ab Empfangs-
apparat zu kurz gekommen.

Wie ist es möglich, daß ich dir — dies fühle ich
aus deinem letzten Brief heraus —der teuerste
Freund sein kann, den du besitzest? Ich gönne dir
einen Menschen, der sich ganz in dich und deine
Welt einleben kann. Dieser Mensch kann ich nicht
sein. Dies wird dich schmerzen, aber ich glaube,
es ist edler und besser, wenn zwischen zwei Men-
schen alles klar ist. Ganz in dir aufgehen kann
ich nicht; dazu sind wir zu wesensungleich. Aber
mit Ehrfurcht deinem Schaffen folgen, dies kann
ich und will ich immer tun. Deine Briefe zeigen
mir, daß wir beide wenigstens in etwas dieselben
Glücklichen und zugleich Unglücklichen sind: In
der ewigen Ruhelosigkeit. Während deine Seele
von Erlebnis zu Erlebnis gehetzt wird, muß mein
Leib von Land zu Land wandern, unbefriedigt in
jedem, und doch sich immer zurücksehnend.

. . . Dein Werk hat gesiegt. Um dich mit den
Menschen einzulassen, dazu bist du viel zu
empfindlich, zu stolz und zu begabt. Und dies ist
am besten für deine künstlerische Entwicklung.

Noch einmal: Verzeih, wenn ich rnit meinen

Zeilen deine Ruhe störte, und kommt dich einmal
ein Entsetzen über die Ruhelosigkeit deiner Seele
an, dann erinnere dich meiner und denke, daß
mich, den Schwachen, diese Ruhelosigkeit oft
ebenso peinigt, wie dich, den Starken.

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