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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 4.1913-1914

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Nummer 158/159 (Mai 1913)
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Friedlaender, Salomo: Die Mitte zwischen Extremen: Zur Verhütung eines Mißverständnisses
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Adler, Joseph: Vom andern Ufer: Der Untergang der "Titanic" auf der Berliner Sezession
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https://doi.org/10.11588/diglit.27574#0026

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man muß vor Wut und Spott jargonreden. Treu
nach dem alten Zarathustra (der neue ist ihnen
wohl zu neu?) soll's Licht auf ewig — siehst du!
— über die Finsternis — pfui Teufel. Gibt es
etwa ein noch abscheulicheres Mißverständnis als
das der Verwechslung, der plumpen Identifizierung
von -schmutziger Mitte mit reiner, neutraler?
Warum fahren diese berühmten Kulis immer gegen
die M i 11 n los, anstatt nur gegen deren Korrum-
pirung, Vergrauung, Versauung?

Ihr, die Ihr Euch nicht zwischen zwei Stühle
setzen wollt — habt Ihr so wenig Witz, zu ka-
pieren, daß die f a 1 s c h e Benutzung eines solchen
interim Euch die Anerkennung der Notwendig-
keit seiner Existenz nicht erspart? — Weil die
Mitte meistens zur ängstlichen Vermeidung
der Extreme gemißbraucht wird, verbietet Ihr
in Bausch und Bogen ihren Gebrauch? Im Gegen-
teil! Ihr solltet lernen und lehren, daß nur der rich-
tige, das heißt aber der . . , .magnetische,
disjungierende, antithetische Gebrauch der Mitte
zu aller Art Opposition erst befähigt! Neutra-
lität ist, wo sie sich rein erweist, immer eine
Mitte zwischen Bevorzugung und
Hintansetzung; und zwar gesetzlich hin-
durch durch alle Reiche der Natur. Dagegen ist
die primitive Tendenz, extrem zu sein, zum Beispiel
„Vorwärts“ zu streben, unter fanatischer
d. h. rücksichtslos absoluter Vertilgung des
Gegenextrems, trotz aller Wohlgemeintheit eben
blitzdumm: ein Rechts ohne Links und ähn-
liche Halb- und Hinseitigkeiten ohne Gegenseitig-
keit gehören zum logischen Kretinismus. Und die
Strenge dieser Gegenseitigkeit richtet sich nach
der St r e n g e ihrer Mitte. Aus dieser Mitte
blitzt Nein und Ja, Liebe und Haß: — aber mit
ebenbürtiger, ob auch gegensätzlicher Ge-
walt. Nein ist bei Liebe nicht Ja: aber ohne
Nein kein Ja. Versagt das berühmte Gehirn, wenn
es gilt, hieraus den Schluß zu ziehen: daß der
energische Bejaher sich genau in der Mitte
zwischen Ja und Nein aufhalten müsse, um
dadurch so energisch zu bejahen, daß er ebenso
energisch andrerseits verneint?

Hat sich was! Es versagt! Es will selbst-
verständlich das Nein, die Finsternis, das böse
Prinzip mit dem Licht, dem Ja des guten Prinzips
höchst eindeutig zermatschen, dekrezit machen.
Mein Herr, um zu verdauen, müssen Sie einnehmen
und ausscheiden und auf gewisses Gleichgewicht
bedacht sein. Sollten Sie höchst affirmativ eines
Tages Ihren berühmten Unterleib abschaffen —
dann Ade du lieber Oberleib! Denken Sie nach,
eifern Sie nicht so rühmlos gegen die Mitte zwischen
Extremen! Es dürfte Ihnen jdann nicht allzu lange
unbekannt bleiben, daß alles Erringen von Dingen
auf Gleichgewicht beruht, Gleichgewicht
aber auf Gegengewicht. Vergessen Sie über dem
Begriff des positiven Uebergewichts ja nicht den
des negativen. Sie lernen da Finessen von der
verflixten kühnen gelenken kleinen Schlange, für
die bereits Ihr Ahnherr, Evas einfältiger Mann,
ein sehr nettes Eselsohr hatte.

Vom andern Ufer

Der Untergang der „Titanic“ auf der
Berliner Sezession

Max Beckmann plant für die nächste
Sezessionsausstellung ein Bild des
Unterganges der „T i t a n i c“. Beckmann, dessen
Kunst nach solchen stark dramatischen Szenen
verlangt, hat schon einmal eine sensationelle

Katastrophe gemalt: 1909 hing auf der Sezes-
sions-Ausstellung sein großes Bild, das eine Szene
aus dem Erdbeben von Messina darstellte.

Das ist die Kunst, die nach dramatischen Szenen
verlangt und banale Stücke wiedergibt. Ein Bild
der großen Schiffskatastrophe wird die „klein e“
Sensation der Ausstellung „bilden“. Ein Unglück
kommt immerhin allein, aber es geht nicht vorüber
ohne Hinterlassung jener Spuren, in denen die spe-
kulativen Geister den Weg zu neuen Erfolgen
suchen Doch: die Kunst verlangt. Was hat sie zu
verlangen? Zu geben hat sie. Verlangen dürfen
wir von ihr, und der Künstler von uns. Aber er
soll nicht Bilder für Ausstellungen planen. Er
soll sie malen. Viel verlangt.* Er plant sie, und
der Herr Präsident, der nicht schläft, weckt recht-
zeitig das Interesse. Der Künstler hat schon ein-
mal eine sensationelle Katastrophe gemalt. Eine
Szene aus dem Erdbeben von Messina. Die
schwache Erinnerung wirft noch um. Das Erd-
beben von Messina: eine sensationelle

Katastrophe, der „Untergang der Titanic“ ein Bluff,
der das sinkende Interesse an der Sezession wieder
heben soll. Das Schiff hat ein Leck, aber man sollte
dem Kapitän den Mund stopfen. Mehr noch. Man
sollte ihn über Bord werfen. Der Wind dreht sich.
Die Situation ist ernst, das Leben ist sensationell
und katastrophal ist die Kunst.

Ein Opfer verständnisinniger Würdigung

„230 Bilder legen hier Zeugnis ab von der im-
posanten Arbeit eines einzelnen während eines
Menschenalters.“

Das sind Bilder, die sich keinen Zwang antun.
Sie legen vor dem Kunstschmock das Zeugnis
ab, und bewunderungsbrünstig sieht er die Nackt-
heit der imposanten Arbeit vor sich.

„Die elementare, oft ans Brutale streifende
Kraft, die von jeder Schöpfung dieser Persön-
lichkeit ausgeht, wächst vor dieser gewaltigen
Reihe ins Kolossale.“

Das muß das Sehenswerteste in der Ausstel-
lung gewesen sein. Die elementare Kraft, wie sie
von jedem Bilde ausgehend vor der Gesamtheit ins
Kolossale wuchs:

„Der überwältigende Gruß eines Meisters der
Malerei, dem wahrhaft die Farbe Symbol und
Ausdruck einer leidenschaftlichen Weltanschau-
ung war und ist. Der aus der gesunden Sinn-
lichkeit seiner Natur diese leuchtenden Licht- und
Formspiele, diese wild bewegten Gruppen, diese
strotzenden Körper, fast als ein moderner Ru-
bens, auf die Leinwiand setzte. Von den Erst-
lingsbildern der Königsberger, Pariser, Münche-
ner Frühzeit bis in die Epoche der Berliner Voll-
reife geht ein saftig dahinflutender
Strom malerischer Entwicklung, in immer glän-
zenderer Ausbildung eines angeborenen Bildner-
triebes, eines mit eisernem Fleiß geschulten Kön-
nens, einer künstlerischen Energie, die in
schwächlichen Jahrzehnten eine volksmäßige Ur-
sprünglichkeit wahrte und zu bleibenden Leistun-
gen steigerte. Mit bewunderndem Dank stehen
wir vor solchem Lebenswerk.“

Die Phrase von dem saftig dahinflutenden
Strom fische ich heraus. Sie tropft von gesuchtem
Schwung und in sich verlorenem Reiz. Sie schreit.
Ihr süßes Maul hat die Breite des saftig dahin-
flutenden Stromes malerischer Entwicklung. Sie
stammt, wie jede andere auch, aus der Pariser
Frühzeit des Feuilletonismus, ist aber erst in der
Berliner Vollreife des Schmocktums voll erblüht.
Einem Lebenswerk haucht sie den gemeinen Ton-
fall eines Schlagers an. den eine Saison lang alles
im Munde führt. Sie ist überall zu Flause und ent-

fremdet uns alles. Sie will immer etwas näher
bringen und legt sich als Verkehrshindernis zwi-
schen die Dinge. Sie verwässert die geistigen Zu-
düsse und in den schönen Kampf der aufeinander
platzenden Geister stürzt sie sich mit der blutigen
Frage: Nichts zu handeln?

Die Kriegsmalerei rüstet auch

„Der Künstler, der bisher als Militärmaler be-
kannt war, bringt eine neue Erkenntnis aus diesen
lagen des Schreckens mit. „Nein, für mich ist es
mit dem geschniegelten, sauberen Soldaten
vorbei, mit dem schönen Kriege, mit dem schönen
Schlachtenbilde und dem militärischen Genrebild.
Zu lange hat die Kriegsmalerei diesen schönen
Konventionen angehangen. Sie muß sich die
grauenhafte Wirklichkeit erobern.“

Der schönen Konvention nachhängend, malten
sie Bilder von bestrickendem Reiz. Aber das soll
jetzt anders werden. Der Knoten irriger Anschau-
ungen soll gelöst werden. Ein Künstler, der
bisher als Militärmaler bekannt
war, hat am Balkan eine neue Erkenntnis ge-
wonnen, er hat sie heimgebracht. Die Aeltesten der
Zunft betrachten sie mit Staunen. Alle haben
schlechte Kriegsbilder in dem guten Glauben ge-
malt: daß die Wirklichkeit schön sei. Die neue Er-
kenntnis wird den alten Brauch verabschieden. Sie
ruft, und schon reißt sich der feurige Kriegsmaler
aus den Armen der schönen Konvention. Die
Wirklichkeit ist in Gefahr. Die himmlischen Mächte
müssen hier rettend eingreifen, das Werk der
Kriegskunst darf nicht ein Raub des blutigen Hand-
werks werden.

Joseph Adler

Empfohlene Bücher

Die Schriftleitung behält sich Besprechung der hier
genannten Bücher vor. Die Aufführung bedeutet bereits
eine Empfehlung. Verleger erhalten hier nicht erwähnte
Bücher zurück, falls Rückporto beigefügt wurde.

Dr. Wilhelm Hausenstein
Der nackte Mensch in der Kunst
aller Zeiten und Völker / Mit mehr als sieben-
hundert Abbildungen
München / R. Piper und Co.

Erstes bis fünftes Tausend

Alfred Döblin

Die Ermordung einer Butterblume / und andere
Erzählungen

München / Verlag Georg Müller

Handbuch der Kunstwissenschaft
Herausgegeben von Dr. Fritz Burger / Soeben
erschienen: Lieferung 1 und 2: Die deutsche
Malerei / Mit zahlreichen Abbildungen

Akademische Verlagsgesellschaft m. b. H.
M. Koch Berlin-Neubabelsberg

Jaques Treve

Du Röle de la Femme dans la Vie des Heros
Paris / Verlag Eugene Figuiere et Cie und
Berlin / Verlag Der Sturm

Fritz Burger

Cezanne und Hodler / Einführung in die Pro-
bleme der Malerei der Gegenwart
Mit 171 Abbildungen und zwei Farbtafeln
Delphin-Verlag / München

Verantwortlich für die Schriftleitung:
Herwarth Waiden / Berlin W 9

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