ser trinkt und vornübergebeugt ausharrt. Zeigt
eine Maske, fragte er, bezeugt sie nicht, daß es
Gesichter gibt? Er las die Masken und erkannte
den Soldaten, wie sich der Soldat im Spiegel er-
kennt, nicht mehr und nicht weniger, und das
Mädchen, wie sich das Mädchen im Spiegel er-
kennt. Er zur Wohltätigkeit ganz Unfähige, Un-
willige, Ungeeignete drang in die ihm entlegensten
Berufe, Zustände, Gefahren. Er wurde immer
weniger Einsiedler, immer mehr ein Vielsiedler,
ohne Zelle, ohne Eitelkeit. Der Mörder war ihm
so schön wie das Opfer. Er bewies es, indem er
sie beichtete; indem er sie wiederholte; indem
er seine Sätze, bevor er sie hinschrieb, lange wog
und wie ein Goldschmied seine Steine: sehr ge-
nau. Es waren, in den geatmeten Ausdruck ge-
zwungen, ein paar stürmische Lebensläufe, rasende
wie Wasserfälle, sprühendes, rollendes, wirbeln-
des, kosendes Wasser; W,asser, das ln der Rinne
durch eine scharfe Kante gehindert, wütend,
zischend, aufgebäumt, wie Panterrücken ge-
krümmt, in hohen Bogen hinschießt, hineinsiedet in
Röhren, hinausspringt in eine umfangreiche
Schale, und vom Riesenrund, tosend gebändigt,
über die Ränder in glatte Teiche quillt. Sie waren
nicht sein Spiegel und er nicht der Ihre. Diese
quellenden Leben, wie äus ihrem eignen Traum
herausgeholt, waren unmittelbar gewalttätig, un-
mittelbar besessen, unmittelbar bewegt, keines
dem andern ähnlich, nur hinter ihren Zügen vor-
erst eine Dunkelheit; diese war ihnen gemeinsam,
diese war ihr Hintergrund, ihr Abgrund, Tiefe,
goldgrün rot, und ausgebreitete Nacht. Gleich die
ersten Arbeiten öffneten ihm die Türe zu dem
Meister, der erklärt hat, die Welt sei geschaffen,
um zu einem guten Buch zu gelangen. Gut hieß
eines, daß sich neben einem Baum, einem Felsen,
einer Landschaft, ja gegen sie hielte und behaup-
tete. Dieser weltweise Schöpfer lud wöchentlich
seine Wahlbrüder zu sich, und wen er wählte, der
war ein gutes Buch. Als der neue Gast zum
erstenmal unter sie trat, befand er sich sogleich
vor der Schilderung eines Tisches. Ein Tintenfaß
aus rotem Lack und eine griechische Vase bezau-
berten ihn. Er hörte Ausrufe und eine verzückte
wohlgepflegte Rede: sie tönten ihm aus dem Tin-
tenfaß und stiegen aus der metallisch glitzernden
Vase. Leise, lautlos leise, warf er ihnen vor, daß
wir erst eine Meinung hätten und dann unsere
Gründe. Wer seine Meinung am besten vertei-
digt, hat recht. Aber nur von Verteidigern, o ihr
vorlauten Geräte. — Als er das nächstemal wie-
derkehrte, unterschied er zwischen Wissenschaft
und Kunst und sagte, daß die Wissenschaft ordne
und die Kunst jede solche Ordnung auflöse. Man
müsse als Künstler das völlig Eigentümliche be-
tonen, dieses Einmal und Nicht-Wieder, die ge-
äderte Zeichnung auf einem Pflanzenblatt, und
nicht hervorheben, daß es gekerbt, lang oder
spitz sei . . . Der Tür gegenüber, vor dem mäch-
tigen gedrechselten Schrank mit den Zinntellern
und Töpfen, wiegten im Halbschatten persönliche
Hände und persönliche Stirnen. Auf dem Heim-
weg erfand er ihnen jeden einen Roman, dem Mei-
ster den des Empedokles. Der war ihm nicht der
Weise, kaum ein Schwärmer. Seine priesterliche
Erscheinung, sein Purpurmantel mit den metallisch
schillernden Mäandern, sein unerhörter Tod, gar
die Sandale, die von ihm übrigblieb, waren ihm
wichtiger als die Lehre vom Haß und der Liebe,
die ausgesprochen nicht mehr dem Empedokles
allein, sondern allen Griechen gehörte.
Wirklich, an zweihundert Einzelne griff er aus
dem Tag und der Nacht, sah ihre zweihundert
Mienen und vernahm, was sie vernahmen. Sie
wurden deutlich, verstummte Stimmen, in Ein-
banddecken verscharrte, und sie wurden durch-
sichtig, in das Gehäus ihrer Leiber vermummte
Stimmen. Er schrieb nicht lange, nur ein Knaben-
alter lang, fünfzehn Jahre; je mehr er schrieb,
desto sichtbarer waren die andern und desto un-
sichtbarer er selbst. War er bei seiner kleinen
Wilden aus der Pflanzenwelt, einem grünen Kind,
das in die Menschenwelt gezogen wieder zurück-
gewichen ist, mit einer kleinen Freundin, in das
unbekannte grüne Land, oder im Mittelalter, in
dem der Antike, dem Hellenismus, ein Mordbren-
ner, ein Salbenreiber? Als er hinter der Maske
das Gesicht und hinter den Stimmen die Stimme
fassen wollte griff er in seine zweihundert Ge-
schichten, in zweihundert Träume, in zweihundert
Gleichnisse. Die Augen schlossen sich, seine Mas-
kenaugen, und zwischen den Augensternen und
den Augenlidern belehrte ihn sein Gespenst: Wie
du dir fliehst, entfliehn sich die Unzähligen, zu
denen du flüchtest; sie fliehn in eine Tat, di© nicht
du tust, in ein Abenteuer, das nicht du bestehst,
zu einem Gotte, den nicht du anbetest. — Er griff
hinter der Maske die Verzweiflung und hinter den
Stimmen die Lüge. Diese neuen Masken, ein
wenig geschminkt, schenkten ihm ein neues Werk;
es war so schwermütig schön, daß ihm die jun-
gen Mädchen Briefe sandten und Blumen; es
stand drin, daß das Leben traurig sei und die Lüge
lustig. Er verkehrte heimlich in Winkelherbergen,
fuhr zu Rennen, besuchte Versammlungen, hei-
ratete eine Schauspielerin, die ihm eine vorzüg-
liche Desdemona, Ophelia, Phädra war, und
wurde sehr krank. Sein letztes Buch, das erste,
worin er Gericht hielt, betraf die Tagesschreiber
und die Tageszeitungen; er traf sie schwer; aber
er erschien unter einem Decknamen, und die we-
nigsten errieten den Verfasser.
Noch bevor er starb, kamen zwei Tagesschrei-
ber mit einer Rundfrage zu ihm. Sie wollten über
die Zukunft des Romanes Bescheid haben. Es
war Winter, er lehnte vor dem Kamin, fröstelnd,
abgezehrt, nah am Feuer. Sie erschraken vor
seinen fahlen, ausgehöhlten Wangen. Seine Hände
waren verknittert, sein Schädel blank, sein Bart
zerzaust. Er blickte sie an, während er sprach,
und sie folgten, ihm aufmerksam mit der Feder.
Sie haben nie geahnt, daß er damals gepriesen hat,
was ihm verhaßt war, und geschmäht hat, was
er am innigsten verehrte. Als sie draußen waren,
fiel er in einen Ledersessel, das rote Licht im Ka-
min malte ihm eine höllische Fratze, und er dachte
diesen furchtbaren Satz: Jeder Lebende ist ein
Sterbender; es gibt keine gemeinere Erfindung
als den Schwan, der im Sterben ringt: er ent-
weiht sein Singen, und er entweiht sein Sterben.
— Einen Monat drauf war er tot.
Er liegt auf dem Friedhof unter lauter Unbe-
kannten. Ein gelber Stein ist mit roten, zuweilen
etwas verwischten Zeilen bemalt, mit einer Grab-
schrift griechisch, etwa in der Weise des He-
rondas. Die Ueberschrift, erhaben und in Erz,
ov% ajiXcös 7ih]yi] äegos eouv t] cpcovr],
ist dem Platon entnommen.
Die Stimme ist nicht nur ein. Schlag in die Luft.
Steh, Wandrer, und erfahre, daß ich ein Dich-
ter war. Nichts Menschliches war mir fremd.
War ich kein Mensch? Ich bin mir fremd geblie-
ben. Ich hörte die Stimme des Waldes, die
Stimme der Herzen und die Stimme der Toten.
Ich zeichnete auf, was ich schauend hörte und
starb mit siebenunddreißig Jahren. Hätte ich noch
drei Jahre gelebt, dann wäre mein Franziskus
vollendet gewesen. Er fehlt mir sehr. Denn
wisse (und hüte dich vor schlechten Gedichten):
im Reiche des Schatten ist den Dichtern ihre Welt
mitgegeben. Sie bewegen sich unter den Gestal-
ten ihrer Schöpfungen und haben keine andern
Freunde als sie. Ich werde mit Empedokles an
den goldnen Ufern des Akragas wandeln, zur
schönen Stadt Agrigent hin. Wenn ich aber wäh-
len dürfte und wieder atmen oben auf der geseg-
neten Erde, möchte ich ein Bauernjunge sein,
blond, und nicht lesen können und nicht schreiben
und selbst die Stimme sein des Waldes, des Her-
zens und der sommerlichen Getreidefelder.
Die Schwermut des
Genießers
Roman , ,
Von Artur Babillotte
Fortsetzung
Jetzt schien Johannes sein Werk nicht
mehr wertlos; so hatte es werden müssen;
dies sollte das Vorspiel sein zu einer Reihe von
Werken, in denen alle Sehnsucht, nicht seines ein-
zelnen kleinen Ichs allein, nein, die Sehnsucht der
Gegenwart, der Menschheit seiner Zeit wieder-
tönen und ihre Erhörung finden sollte. Nun war
das Leben der Wüste nicht mehr ein Traum, nun
hatte es die Wünsche und Gebärden und Worte
der Menschen seiner Zeit angenommen, war in das
wirkliche Leben getreten, war greifbare Gestalt
geworden.
Ein Seitenschrillen stob auf; wie kleine flinke
Raubtiere liefen die Töne aus den Instrumenten
hervor, kletterten an den gemalten Säulen rechts
und links empor,, bäumten sich in einem grandiosen
Schwung über die Köpfe der Menschen, die da
unten saßen, hinweg, verloren sich in den hin-
tersten Winkeln des Saales. Dann zitterten die
ersten Töne, als fürchteten sie sich vom Podium
herabzusteigen. Mild und gedämpft wie ein Grei-
senlächeln kamen und verschwanden sie. Wenn
einer einmal das Verlangen hatte, stark und fröh-
lich aufzujubeln und hinauszugehen in die präch-
tige Weite, dann sah er bald ein, daß er dazu nicht
geboren war und legte sich nieder und starb. Es
war sehr, sehr rührend, wie ergeben in ihr Schick-
sal diese Töne starben; sie waren so unendlich
zart, daß auch der unempfindlichste Mensch Mit-
leid mit ihnen haben mußte. Sie flehten, als sie
schon tot waren, noch um ein Lächeln, das ihren
Untergang verklären sollte. Sie waren ganz Seele
und konnten wohl in dem hingegebenen Zuhörer
die Täuschung erwecken, das Reich des Körper-
lichen sei zu Ende und das Reich der Seele habe
seinen Anfang genommen.
Alle Menschen säßen unter dem Bann dieser
hingehauchten Töne. In den Gesichtern zeigte
sich eine Hilflosigkeit, die verriet, daß die Men-
schen mit der Schönheit dieser Musik eigentlich
nichts anzufangen wußten. Die laute Art dieser
Kleinstadtbewohner erstaunte vor solcher vor-
nehmen Dämpfung und setzte einige Minuten aus.
So war die Stille keine Folge einer tiefen Andacht,
sondern einer großen Verwunderung. Eva, die
von Musik nichts verstand, saß mit gesenktem
Haupt, die Hände im Schoß gefaltet. Sie war zu-
frieden. Sie hatte mit dem Geliebten eine Stunde
toller Freude verbracht, er hatte ihr einen sehn-
lichen Wunsch erfüllt. Jetzt fühlte sie sich erst
auf dieselbe Stufe gehoben, auf der die Bevorzug-
ten standen. Die Stunde war der feierliche Akt,
durch, den sie aus einer Bürgerin in’ eine Frau ver-
wandelt wurde. Sie hatte bis zu dieser Stunde
immer die Empfindung gehabt, der Geliebte stehe
über ihr, sei vornehmer und edler als sie. Wie
dankbar war sie jener Stunde. Wie stolz war sie
102
eine Maske, fragte er, bezeugt sie nicht, daß es
Gesichter gibt? Er las die Masken und erkannte
den Soldaten, wie sich der Soldat im Spiegel er-
kennt, nicht mehr und nicht weniger, und das
Mädchen, wie sich das Mädchen im Spiegel er-
kennt. Er zur Wohltätigkeit ganz Unfähige, Un-
willige, Ungeeignete drang in die ihm entlegensten
Berufe, Zustände, Gefahren. Er wurde immer
weniger Einsiedler, immer mehr ein Vielsiedler,
ohne Zelle, ohne Eitelkeit. Der Mörder war ihm
so schön wie das Opfer. Er bewies es, indem er
sie beichtete; indem er sie wiederholte; indem
er seine Sätze, bevor er sie hinschrieb, lange wog
und wie ein Goldschmied seine Steine: sehr ge-
nau. Es waren, in den geatmeten Ausdruck ge-
zwungen, ein paar stürmische Lebensläufe, rasende
wie Wasserfälle, sprühendes, rollendes, wirbeln-
des, kosendes Wasser; W,asser, das ln der Rinne
durch eine scharfe Kante gehindert, wütend,
zischend, aufgebäumt, wie Panterrücken ge-
krümmt, in hohen Bogen hinschießt, hineinsiedet in
Röhren, hinausspringt in eine umfangreiche
Schale, und vom Riesenrund, tosend gebändigt,
über die Ränder in glatte Teiche quillt. Sie waren
nicht sein Spiegel und er nicht der Ihre. Diese
quellenden Leben, wie äus ihrem eignen Traum
herausgeholt, waren unmittelbar gewalttätig, un-
mittelbar besessen, unmittelbar bewegt, keines
dem andern ähnlich, nur hinter ihren Zügen vor-
erst eine Dunkelheit; diese war ihnen gemeinsam,
diese war ihr Hintergrund, ihr Abgrund, Tiefe,
goldgrün rot, und ausgebreitete Nacht. Gleich die
ersten Arbeiten öffneten ihm die Türe zu dem
Meister, der erklärt hat, die Welt sei geschaffen,
um zu einem guten Buch zu gelangen. Gut hieß
eines, daß sich neben einem Baum, einem Felsen,
einer Landschaft, ja gegen sie hielte und behaup-
tete. Dieser weltweise Schöpfer lud wöchentlich
seine Wahlbrüder zu sich, und wen er wählte, der
war ein gutes Buch. Als der neue Gast zum
erstenmal unter sie trat, befand er sich sogleich
vor der Schilderung eines Tisches. Ein Tintenfaß
aus rotem Lack und eine griechische Vase bezau-
berten ihn. Er hörte Ausrufe und eine verzückte
wohlgepflegte Rede: sie tönten ihm aus dem Tin-
tenfaß und stiegen aus der metallisch glitzernden
Vase. Leise, lautlos leise, warf er ihnen vor, daß
wir erst eine Meinung hätten und dann unsere
Gründe. Wer seine Meinung am besten vertei-
digt, hat recht. Aber nur von Verteidigern, o ihr
vorlauten Geräte. — Als er das nächstemal wie-
derkehrte, unterschied er zwischen Wissenschaft
und Kunst und sagte, daß die Wissenschaft ordne
und die Kunst jede solche Ordnung auflöse. Man
müsse als Künstler das völlig Eigentümliche be-
tonen, dieses Einmal und Nicht-Wieder, die ge-
äderte Zeichnung auf einem Pflanzenblatt, und
nicht hervorheben, daß es gekerbt, lang oder
spitz sei . . . Der Tür gegenüber, vor dem mäch-
tigen gedrechselten Schrank mit den Zinntellern
und Töpfen, wiegten im Halbschatten persönliche
Hände und persönliche Stirnen. Auf dem Heim-
weg erfand er ihnen jeden einen Roman, dem Mei-
ster den des Empedokles. Der war ihm nicht der
Weise, kaum ein Schwärmer. Seine priesterliche
Erscheinung, sein Purpurmantel mit den metallisch
schillernden Mäandern, sein unerhörter Tod, gar
die Sandale, die von ihm übrigblieb, waren ihm
wichtiger als die Lehre vom Haß und der Liebe,
die ausgesprochen nicht mehr dem Empedokles
allein, sondern allen Griechen gehörte.
Wirklich, an zweihundert Einzelne griff er aus
dem Tag und der Nacht, sah ihre zweihundert
Mienen und vernahm, was sie vernahmen. Sie
wurden deutlich, verstummte Stimmen, in Ein-
banddecken verscharrte, und sie wurden durch-
sichtig, in das Gehäus ihrer Leiber vermummte
Stimmen. Er schrieb nicht lange, nur ein Knaben-
alter lang, fünfzehn Jahre; je mehr er schrieb,
desto sichtbarer waren die andern und desto un-
sichtbarer er selbst. War er bei seiner kleinen
Wilden aus der Pflanzenwelt, einem grünen Kind,
das in die Menschenwelt gezogen wieder zurück-
gewichen ist, mit einer kleinen Freundin, in das
unbekannte grüne Land, oder im Mittelalter, in
dem der Antike, dem Hellenismus, ein Mordbren-
ner, ein Salbenreiber? Als er hinter der Maske
das Gesicht und hinter den Stimmen die Stimme
fassen wollte griff er in seine zweihundert Ge-
schichten, in zweihundert Träume, in zweihundert
Gleichnisse. Die Augen schlossen sich, seine Mas-
kenaugen, und zwischen den Augensternen und
den Augenlidern belehrte ihn sein Gespenst: Wie
du dir fliehst, entfliehn sich die Unzähligen, zu
denen du flüchtest; sie fliehn in eine Tat, di© nicht
du tust, in ein Abenteuer, das nicht du bestehst,
zu einem Gotte, den nicht du anbetest. — Er griff
hinter der Maske die Verzweiflung und hinter den
Stimmen die Lüge. Diese neuen Masken, ein
wenig geschminkt, schenkten ihm ein neues Werk;
es war so schwermütig schön, daß ihm die jun-
gen Mädchen Briefe sandten und Blumen; es
stand drin, daß das Leben traurig sei und die Lüge
lustig. Er verkehrte heimlich in Winkelherbergen,
fuhr zu Rennen, besuchte Versammlungen, hei-
ratete eine Schauspielerin, die ihm eine vorzüg-
liche Desdemona, Ophelia, Phädra war, und
wurde sehr krank. Sein letztes Buch, das erste,
worin er Gericht hielt, betraf die Tagesschreiber
und die Tageszeitungen; er traf sie schwer; aber
er erschien unter einem Decknamen, und die we-
nigsten errieten den Verfasser.
Noch bevor er starb, kamen zwei Tagesschrei-
ber mit einer Rundfrage zu ihm. Sie wollten über
die Zukunft des Romanes Bescheid haben. Es
war Winter, er lehnte vor dem Kamin, fröstelnd,
abgezehrt, nah am Feuer. Sie erschraken vor
seinen fahlen, ausgehöhlten Wangen. Seine Hände
waren verknittert, sein Schädel blank, sein Bart
zerzaust. Er blickte sie an, während er sprach,
und sie folgten, ihm aufmerksam mit der Feder.
Sie haben nie geahnt, daß er damals gepriesen hat,
was ihm verhaßt war, und geschmäht hat, was
er am innigsten verehrte. Als sie draußen waren,
fiel er in einen Ledersessel, das rote Licht im Ka-
min malte ihm eine höllische Fratze, und er dachte
diesen furchtbaren Satz: Jeder Lebende ist ein
Sterbender; es gibt keine gemeinere Erfindung
als den Schwan, der im Sterben ringt: er ent-
weiht sein Singen, und er entweiht sein Sterben.
— Einen Monat drauf war er tot.
Er liegt auf dem Friedhof unter lauter Unbe-
kannten. Ein gelber Stein ist mit roten, zuweilen
etwas verwischten Zeilen bemalt, mit einer Grab-
schrift griechisch, etwa in der Weise des He-
rondas. Die Ueberschrift, erhaben und in Erz,
ov% ajiXcös 7ih]yi] äegos eouv t] cpcovr],
ist dem Platon entnommen.
Die Stimme ist nicht nur ein. Schlag in die Luft.
Steh, Wandrer, und erfahre, daß ich ein Dich-
ter war. Nichts Menschliches war mir fremd.
War ich kein Mensch? Ich bin mir fremd geblie-
ben. Ich hörte die Stimme des Waldes, die
Stimme der Herzen und die Stimme der Toten.
Ich zeichnete auf, was ich schauend hörte und
starb mit siebenunddreißig Jahren. Hätte ich noch
drei Jahre gelebt, dann wäre mein Franziskus
vollendet gewesen. Er fehlt mir sehr. Denn
wisse (und hüte dich vor schlechten Gedichten):
im Reiche des Schatten ist den Dichtern ihre Welt
mitgegeben. Sie bewegen sich unter den Gestal-
ten ihrer Schöpfungen und haben keine andern
Freunde als sie. Ich werde mit Empedokles an
den goldnen Ufern des Akragas wandeln, zur
schönen Stadt Agrigent hin. Wenn ich aber wäh-
len dürfte und wieder atmen oben auf der geseg-
neten Erde, möchte ich ein Bauernjunge sein,
blond, und nicht lesen können und nicht schreiben
und selbst die Stimme sein des Waldes, des Her-
zens und der sommerlichen Getreidefelder.
Die Schwermut des
Genießers
Roman , ,
Von Artur Babillotte
Fortsetzung
Jetzt schien Johannes sein Werk nicht
mehr wertlos; so hatte es werden müssen;
dies sollte das Vorspiel sein zu einer Reihe von
Werken, in denen alle Sehnsucht, nicht seines ein-
zelnen kleinen Ichs allein, nein, die Sehnsucht der
Gegenwart, der Menschheit seiner Zeit wieder-
tönen und ihre Erhörung finden sollte. Nun war
das Leben der Wüste nicht mehr ein Traum, nun
hatte es die Wünsche und Gebärden und Worte
der Menschen seiner Zeit angenommen, war in das
wirkliche Leben getreten, war greifbare Gestalt
geworden.
Ein Seitenschrillen stob auf; wie kleine flinke
Raubtiere liefen die Töne aus den Instrumenten
hervor, kletterten an den gemalten Säulen rechts
und links empor,, bäumten sich in einem grandiosen
Schwung über die Köpfe der Menschen, die da
unten saßen, hinweg, verloren sich in den hin-
tersten Winkeln des Saales. Dann zitterten die
ersten Töne, als fürchteten sie sich vom Podium
herabzusteigen. Mild und gedämpft wie ein Grei-
senlächeln kamen und verschwanden sie. Wenn
einer einmal das Verlangen hatte, stark und fröh-
lich aufzujubeln und hinauszugehen in die präch-
tige Weite, dann sah er bald ein, daß er dazu nicht
geboren war und legte sich nieder und starb. Es
war sehr, sehr rührend, wie ergeben in ihr Schick-
sal diese Töne starben; sie waren so unendlich
zart, daß auch der unempfindlichste Mensch Mit-
leid mit ihnen haben mußte. Sie flehten, als sie
schon tot waren, noch um ein Lächeln, das ihren
Untergang verklären sollte. Sie waren ganz Seele
und konnten wohl in dem hingegebenen Zuhörer
die Täuschung erwecken, das Reich des Körper-
lichen sei zu Ende und das Reich der Seele habe
seinen Anfang genommen.
Alle Menschen säßen unter dem Bann dieser
hingehauchten Töne. In den Gesichtern zeigte
sich eine Hilflosigkeit, die verriet, daß die Men-
schen mit der Schönheit dieser Musik eigentlich
nichts anzufangen wußten. Die laute Art dieser
Kleinstadtbewohner erstaunte vor solcher vor-
nehmen Dämpfung und setzte einige Minuten aus.
So war die Stille keine Folge einer tiefen Andacht,
sondern einer großen Verwunderung. Eva, die
von Musik nichts verstand, saß mit gesenktem
Haupt, die Hände im Schoß gefaltet. Sie war zu-
frieden. Sie hatte mit dem Geliebten eine Stunde
toller Freude verbracht, er hatte ihr einen sehn-
lichen Wunsch erfüllt. Jetzt fühlte sie sich erst
auf dieselbe Stufe gehoben, auf der die Bevorzug-
ten standen. Die Stunde war der feierliche Akt,
durch, den sie aus einer Bürgerin in’ eine Frau ver-
wandelt wurde. Sie hatte bis zu dieser Stunde
immer die Empfindung gehabt, der Geliebte stehe
über ihr, sei vornehmer und edler als sie. Wie
dankbar war sie jener Stunde. Wie stolz war sie
102