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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 4.1913-1914

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Nummer 176/177 (September 1913)
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Striepe, Kurt: Die Brücke
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Fuchs, Richard: Orient oder Occident
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https://doi.org/10.11588/diglit.27574#0094

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die Blicke Neugieriger zu reizen. Die Eitelkeit
geht ihr über den Leib.

„Seht, was ich kann!“ Sie protzt mit ihrer
Mutterschaft, ihrer Bestimmung. Es wäre genau
so, wie wenn die Sonne aufhören würde, zu schei-
nen oder uns ihr Scheinen und Strahlen vorhielte
um damit zu prahlen. Es gibt doch sonderbare
Menschen.

Die Straße ist grau, Asphalt. Der stinkt in der
Sonne. Die ganze Luft stinkt, es ist als ob Aas
in ihr schwebt und sie schwängert.

Drüben am anderen Ende der Straße, da stehen
Kioske mit roten Zetteln und blauen Streifen und
grünen Strichen. Wie schön das zu dem grauen
Pflaster und zu dem rieselnden Regen paßt.

Denn es regnet, ich merke es jetzt erst, wo ich
naß bin. Danach muß es schon lange regnen.

Und das ist gut. Mir hat das Milchmädchen
heute morgen gesagt, daß dann die Kartoffeln gut
zu stehen kämen.

Ich glaube, die würde ganze Nächte lang mit
mir schwatzen können. Ich will sie morgen mal
fragen, ob sie mir nicht einmal eine Nacht etwas
erzählen will, ich kann ihr ja etwas dafür geben.

Abwarten!

Ich lehne mich über das Gitter und schaue
über die Brücke. Unten sind Schienen und Men-
schen, Koffer und Wagen, Hunde, Dienstboten, ich
glaube, eine alte Jungfer hat auch ihren Papagei
bei sich.

Ich möchte ,Jacco‘ rufen und dann dem Vieh
den Hals abdrehen. Seitdem man diese Tiere er-
funden hat, haben die Menschen von ihnen gelernt,
plärren alles nach, was ihnen vorgekaut wird.

Der Himmel ist grau und schwer. Blei flüssig
und hart tropft langsam auf mein wundes Hirn.
Lange halte ich das nicht aus.

Von der anderen Seite der Straße ruft mir ein
Gassenjunge zu, ich sollte doch den Mund zu-
machen, damit die Luft hier nicht noch mehr ver-
pestet würde.

Die Leute lachen breit und schmierig über den
Witz. Ihre dicken, quammigen Gesichter sehen
aus, wie an die Wand gespritzter Kot.

Ich lache auch, über die Leute. Aber man
sieht nichts von meinem Lachen, denn mein Mund
ist geschlossen und meine beiden Augen trinken
müde Wein aus der scheidenden Sonne Strahlen.

Als ob man mir purpurnen Saft von gepreßten
roten Schnecken schenkt. Süß und duftend, wie
betäubende Vanille, wenn sie blüht.

Am andern Ende der Brücke drängen die
Leute. Erst nur ein Paar. Auf einmal ist die
ganze Brücke leer und alles rast dahin. Auch von
den anderen Seiten kommen sie.

Pa wird wohl ein Vogel auf dem Rücken lie-
gen. Schlimmstenfalls ist ein Hund überfahren.

Ich möchte an seiner Stelle sein.

Dort sind noch ein paar Bäume und Gebüsche.

Man kann vor Menschen nichts sehen. Es
wird ein Betrunkener sein, der lallend seine Liebe
singt.

Aber Schutzleute sind da, mehr fast, wie andere
Leute. Jetzt haben sie auch nichts zu befürchten.

Allmählich kommt Klarheit.

Es ist ein junges Mädchen, das sein Erstge-
bornes hat aussetzen wollen. Sie wollte es ins
Gebüsch legen, sich dann entfernen und zu Hause
ihre Liebe zu Grabe tragen.

Warum mußte sie das so öffentlich machen?

Ein Hund hatte sie bemerkt und beschnupperte
das Kind im Gebüsch. Da fing das natürlich an
zu weinen. Solch eine kalte Hundeschnauze auf
warmer, weicher Pfirsichhaut, wer würde da nicht
schreien?

Und da erwachte die Mutter in dem Mäd-
chen und lief hin und weinte, und dann kamen die

Menschen und glotzten und dann die Schutzleute
und pöbelten und traten mit ihren Worten dem
Weib ins Gesicht.

Schwankend ging es davon. Abgehärmt. Arm.

Und hinter ihm her ging eine gröhlende Menge
Gaffer, Weiber, die auf ihr eignes Geschlecht,
auf sich selbst, zeigen und zischen.

Da ging ich hin und küßte das Mädchen.

Da gröhlte und juchzte die Menge.

Da ward ich des Kindes — Vater.

Da erwachte die Liebe zum Volke.

Und morgen steht alles in der Zeitung.

Und übermorgen kauen noch einige zahnlose
Hälse und Schlunde auf diesem, für sie unverdau-
lichen, Bissen.

Und in einer Woche, da weiß keiner mehr
etwas davon, außer uns beiden Glücklichen außer
dir und mir.

Für Li Feddersen

Orient oder Oeeident?

Von Richard Fuchs

Meinem Bruder

Unser Geschlecht ist durch den Geist, unser
Leben durch die Gesellschaft irre geleitet. Alles
Ursprüngliche ist zum Spiel heruntergezogen und
erscheint dem Bewußtsein dieser Menschen als
absolute Willkür. Der Geist ist ein Doppeltes:
Ursprung des Menschen und Wissen. Das von
seinem Ursprung getrennte Wissen kann nicht
über die Grundkraft herrschen. Die Gesellschaft
kann weder Gewalten bannen noch Spannungen
lösen; sie kann nur Kräfte ausspielen, um sie von
ihrem Objekt abzulenken.

Den Menschen der bürgerlichen Gesellschaft
verurteilt sowohl der Inhalt seiner Arbeit als die
Form seiner Muße: der heimliche Genuß brutaler
Geschlechtsordnung und das Vergnügen an sitt-
lich-unsittlicher Phrase. Die Witze über das Ge-
schlecht und die übernommne Oeffentlichkeit
haben den Mann und die Frau geschwächt, haben
die Naturbedingungen zerstört, durch welche das
Geschlecht seine Bestimmung erhält. Geschlecht
und Individualität sind Naturbestimmungen; auf
den Trieb gepflanzt, müssen sie aus dem Trieb
entwickelt werden. Die Individualität ist das Ge-
schlecht des Mannes; das Geschlecht ist die Indi-
vidualität der Frau. Ihre Freiheit ist das Spiel
der Natur. Denn Natur ist Triebkraft. Die Ver-
geistigung des Geschlechts hebt, als eine Verdop-
pelung des Geistes, die Freiheit auf, lähmt in Mann
und Frau den Geschlechts- und Schönheitssinn.
Die bürgerliche Freiheit wird noch die schönsten
Geschlechtsformen vernichten, die die Natur
allein auf dem Boden des reinen freien Lebens
züchtet.

Die Mütter, die ihre Töchter lehrten, gegen den
Mann ein eignes Leben im Widerspruch mit ihrer
Bestimmung zu führen, sind jetzt an den Folgen
schuld: Die Frauen brauchten nicht in die Ge-

schäfte und Aemter zu laufen. Es wären genügend
Ehen geschlossen und genügend Berufe aus dem
Trieb des Weibes beschafft worden. Kein Mäd-
chen ist sonst im Innern wählerisch, wenn ein
Mann die Natur des Mädchens wie sich selbst liebt.
Aber wer heute so gerade und männlich lebt, steht
im Lebenskampf isoliert. Das Militär und die
Schule hat die Stände, die weder dem Geist des
Krieges noch dem der Reife mehr gewachsen sind,
verwirrt. Der Offizier und der Erzieher, diese
ersten Bildner der Nation, wollten nicht, daß die
Interessen der Bürger bis an die Kaiserlichen Hof-

interessen getragen würden. Im Verkäuferstand
genügt schon der Einjährige, um eine Tochter fürs
Leben untauglich zu machen. Man weiß von
allen Rassekreuzungen aus der Literatur, wie ein
Kind zustande kommt, und weiß nicht, was
Schwangerschaft und Kindschaft ist. An den
Frauen zeigen sich vortrefflich die Verschroben-
heiten der Zeit. Die normale Geschlechtsliebe,
die durch den Stand, dies Mannigfaltige bedingt
ist, gebiert noch normale Kinder. Der Athlet aber
erzeugt mit der Frau von Geist die Degeneration.
Die physische Kraft bewirkt überhaupt nur Be-
griffe, nicht Instinkte. Vielleicht hat hier und da
ein ganz vollkommnes Weib Instinkte, denen man
Züchtung zusprechen kann. Aber oft möchte der
Teufel mit Leidenschaft dreinspringen, um der
Schönheit die Folgen zu ersparen Die klassischen
Frauen sind die besonnensten, weil sie seltner be-
gehrt werden. Das Mädchen soll gar nichts vom
Mann wissen, auch nicht körperlich; kann doch
selbst die verwöhnteste Frau vom Körper des
Mannes wieder nur die Schönheit als ihre beson-
dere Natur ausdrücken. Der Mann, den die Frau
in der Liebe zu spüren bekommt, liegt in den
Newen, welche die Sehnen und Muskeln bilden.
Die Schönheit des Mannes ist Nervenkraft. Die
Frau ist nervös empfindlich auf den Mann. Der
Mangel an Mann wird in ihr der Wunsch nach
tausend Wünschen, auch der Wunsch, die Myste-
rien zu führen, auch der Wunsch, die Leidenschaf-
ten zu entfesseln. Der Mann erstaune nun nicht,
wenn ihn heute eine höhere Tochter fragt: sage,
wie dus willst. Es gibt gebildete Bälger, die sogar
ihre dürren Partien vor uns auslegen wollen: ein
Haar, das viel zu schwach ist, wird aufgewickelt;
eine Büste senkt sich, die sich nicht wieder hebt.
Die Annäherung ist ein obszöner und verwerf-
licher wirtschaftlicher Aufwand. Man weiß den
Mann weder zu empfangen noch im Hause zu
fesseln. Auf der Straße werden sechs neue Klei-
der und im Zimmer eine alte Sache ausgetragen.
Es besteht keine Form zwischen Geschlecht und
Geschlecht. Ein Herr sucht Bekenntnisse von
einer Dame zu erlangen, die ihren ganzen Lebens-
plan nur vom geredeten Verstand der Mutter hat.
Die Dame wird ihm gute und sogar noch bessere
Worte zu verstehen geben. So geht das bißchen
Verstand von Mutter und Tochter, die ihre Männer
sich immer ähnlicher machen, in die Brüche. Die
Liebe des Mannes wird an der Erfüllung von tau-
send kleinlichen Konvenienzen geprüft. Daß ein
Fünfundfünfzigjähriger eine Zwanzigjährige heira-
tet, ist kein Skandal, solange der Mann bis übers
siebzigste Jahr ein Weib ausfüllen kann, aber
wird empörend, wenn sie beide vor Jugend ver-
lebt sind. Die Liebe wird einfach vorausgesetzt,
damit man sich von vornherein auf einander ab-
stimmt. Die echte Liebe ist innerhalb der ge-
schlechtlichen Treue eine seltene Erscheinung;
aber dann ist in einem Augenblick Vertrauen ge-
worden, was vorher, nur einzelne Achtung, Zärt-
lichkeit, Verliebtheit war, und dadurch der Zwang
aufgehoben, der dem Geschlechtstrieb folgt. Denn
der Geschlechtsdruck erhöht bloß den Rausch des
Herrentums. Wo die offne Pforte der Lust zu so
enger Seligkeit führt, wird Treue oder Treulosig-
keit eine Frage von wertloser Allgemeinheit. Statt
dieses abstrakten Scherzes, Wetten über Ehrgeiz
oder Liebe auszuspielen, soll doch die Frau mit
dem Mann ihr eignes Leben führen.

Zwei dumme Dinge freilich machen die euro-
päische Ehe gegen die orientalische, die absterben
will, untergeordnet: die Bockigkeit des Mannes
und die Unklugheit der Frau. Eine bessere Erzie-
hung lasse also die Frau wissen, daß sie nicht die
einzige ist, oder der Mann muß für bessere Dar-
stellung seiner Natur sorgen. Die Immoralität der

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