Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 4.1913-1914

DOI issue:
Nummer 190/191 (Zweites Dezemberheft)
DOI article:
Hofman, Vlatislav: Der Geist der Umwandlung in der bildenden Kunst
DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.27574#0149

DWork-Logo
Overview
loading ...
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
Der Geist der Umwand-
lung in der bildenden
Kunst

Vlatislav Hof man

Organisch und entwicklungsmäßig in das mo-
derne Milieu hineinzuwachsen bedeutet bestimmte
zweckmäßige Notwendigkeiten spontan zu um-
fassen. Nach der Erschütterung von Taines evo-
lutionistischem Determinismus ist es allerdings
keine Gewohnheit mehr, dem Milieu eine solche
Macht beizulegen, als ob es mit gewisser Not-
wendigkeit die Richtung und den Charakter des
künstlerischen Schaffens bestimmen würde. Es
ist wahr, daß das Milieu an sich unbestimmt und
formlos ist, wie eine Nebelwolke, aus der nur
einige mehr charakteristische Emotionen des
Geistes wie scharfe Kanten und Strahlen empor-
steigen, die aber trotzdem nicht genügen, um inner-
halb des geistigen Milieus die Struktur zu bilden.
Aber gerade in dieser Indifferenz liegt es, daß das
künstlerische Milieu ein zweckmäßiges Stadium
für die Möglichkeit eines neuen Ausdrucks ist.
Denn die Kunst enthält in sich einen Drang nach
Organisierung dieses unbestimmten Stoffes, ähn-
lich wie wenn eine philosophische Idee entsteht,
die f ii r diesen Augenblick nützlich ist und
ihm eine überraschende und selbstverständliche
Ordnung einprägt. Durch einen zweckvollen ent-
wicklungsmäßigen Instinkt geführt, setzt sich der
Künstler in dieses Stadium ein und ruft in ihm eine
Art magnetischer Störungen hervor; seine Auf-
gabe ist es, das Milieu in der formalen Hinsicht
zu organisieren, während das Milieu wiederum
ihn in Inhalt und Eigenschaften umändert.

Die Wahrheit eben ist darin, daß alle Möglich-
keiten des neuen Ausdrucks in diesem bildungs-
fähigen, von Energien durchdrungenen Milieu sich
befinden, im Milieu erfüllt von Energien, die der
Künstler zu konsequenter Harmonie, System und
zur konstruktiven Vereinheitlichung benützen soll,
und daß hinter einer jeden künstlerischen Gebärde,
hinter einer jeden neuen Form ein Triebwerk und
eine Summe von Dingen ist, die die gegenwärtige
Welt bilden; für ein bewußtes Individuum ist aber
wohl die größte und umfassendste Sache der
Welt seine Anschauung.

Der Zusammenhang mit den Dingen des Mi-
lieus ist der erste charakteristische Zug der moder-
nen Kunst. Das neue Milieu ist wie eine neue
Region, die zum Durchforschen und Durchmessen
lockt. Sobald das Gefühl des veränderten Milieus
entsteht, stellt sich gleich eine lebendige Sehn-
sucht nach dem neuen Geschmack, nach bisher
verborgener Form und nach einer neuen gegen-
wärtigen und rein modernen Schönheit ein. Vor
allem konnte der moderne Geist mit seiner For-
schungslust, Schärfe und seinem Durchdringungs-
vermögen nicht vernachlässigen, die Veränderun-
gen und neuen Situationen auszunützen, die für ihn
entstanden sind. Das ganze neuen Leben ist durch-
sättigt von Sehnsucht nach dem Geheimen und von
dem Willen, es durchdringend zu erfassen, was in
der Wissenschaft auf einem mühevollen, kriege-
rischen Wege geschieht, in der Kunst aber, auf
dem Wege der Schönheit und der Emotion.

Die moderne Zeit ist ihrem Charakter nach
antinaturalistisch: sie überwältigt die Natur, be-
mächtigt sich ihrer und bildet eine künstliche Welt,
die durch die gewaltigen Fähigkeiten des Men-
schen geleitet wird; mit allem, was bis jetzt er-
rungen wurde mit der Technik, dem Scharfsinn
und der Praxis, mit der Sicherheit und Selbstver-
ständlichkeit, mit Kenntnissen, mit Härte und Kraft,
mit all dem stellen sich die Menschen gegen die
angeblich bedrückende Macht des Schöpfers und

der Natur. So verändert sich auch in der Kunst
der rohe, naturalistische Charakter durch einen
wirksamen und unendlich tiefer arbeitenden Geist,
als es die bloße Umschreibung und Nachahmung
der Wirklichkeit in den vorigen Perioden war.
Hier herrscht ein mächtiger Druck der geistigen
Prinzipialität und Absichtlichkeit, der den deka-
denten Perioden ganz und egal fehlt. Der Natura-
lismus weiß sich der Gegenstände nicht anders zu
bemächtigen, als durch ihre Nachahmung, fast so
wie die australischen Wilden glauben, daß man
die Tiere nachaftmen müsse, damit sie sich fangen
lassen; dagegen ist die Prinzipialität wie Mathe-
matik, die sich der Größe und des Umfanges der
Körper bemächtigt, indem sie sie in Differentiale
zerteilt und dann in einen neu abstrahierten Um-
fang integriert.

Die moderne Kunst wird sich anderer Aufgaben
bewußt; ihr genügt es nicht, die Natur zu ver-
mehren, selbst wenn sie durch das Temperament
des Künstlers verschönert wäre, so wie die Photo-
graphie nicht ausreicht zur inneren Erkenntnis der
Sache und so wie die geistige Existenz und das
Wesen eines berühmten Mannes nich;t durch
Bronze- und Metallabgüsse seiner populären
Büste vermehrt werden. Die wesentliche Verän-
derung, die in unseren Zeiten die Kunst durchlebt,
ist bedingt durch die Sehnsucht nach dem Unbe-
kannten, nach neuen Eindrücken, nach einer neuen
Welt. Dieser innerliche Ursprung verleiht der
neuen Kunst einen eigentümlichen, besonders ge-
fühlsartigen Ausdruck.

Wir haben Malerei des Gefühls, Architekten
des Gefühls, und Gefühlsdichtung, in denen allen
das Gefühl sich nicht durch eine Stimmung aus-
drückt, sondern durch eine Unterbrechung der
Ruhe. Die moderne Kunst ist eine starke Sehn-
sucht nach der Ueberwindung der Rea-
lität. Schon dadurch, daß sie prinzipiell ist, reißt
sie sich von der lebendigen und rohen Wirklichkeit
los und ihr Streben liegt ganz in der Umwertung
der massiven Dynamik des Lebens in die Kon-
struktion und in eine abstrakte Oberfläche, die
durch das Durchfluten des Geistes beseelt wird.
Ihr schöpferischer Prozeß ist Vergeistigung und
Formgebung, die Umänderung der Welt in den Zu-
stand der Idealität, in eine Summe autonomer For-
men. Aber selbst das Wort „Form“ gewinnt eine
andere Bedeutung; es bedeutet nicht mehr eine
schmückende Form, denn darin wäre für den mo-
dernen Geist zu wenig des Praktischen, Reinlichen
und Fachmännischen; es bedeutet auch keine Na-
turform den Naturgegenständen nachgeahmt, der
physischen Welt abgelauscht. Die moderne Form
ist sachlich, sie ist weder eine Imitation der
Gegenstände, noch ein Symbol der Dinge, son-
dern sie selbst ist eine Sache, die davon un-
abhängig ist, ob sie irgendwelchen Naturgegen-
ständen ähnlich sieht oder nicht. Der besondere
Charakter der modernen Kunst ist also teilweise
das Gefühl, der Zustand der Emotion, teilweise ein
klares und sicheres Bewußtsein der Prinzipialität,
eine bestimmte bewußte rationelle Logik des künst-
lerischen Schaffens, und endlich ein Wagen, Er-
finden und Prüfen von neuen Ausdrücken, die ihrer
Neuheit wegen lockend sind. Diese drei Faktoren
sind die gegebenen und bestimmten Größen in der
unbestimmten Gleichung der gegenwärtigen
Kunst. Ein unbestimmter und veränderlicher Wert
ist die tiefe Originalität der ersten Vorstellung,
die geheime Wirkung des modernen Milieus, der
grundlegende Instinkt und die Gefühle einer poe-
tischen, sogar grübelnden Natur. Es ist klar, daß
die moderne Kunst ein Komplex menschlicher
geistiger Stärke von ungewohnter Kompliziertheit
ist, und daß der innerliche Vorgang, durch den
sie entsteht, sich sehr von dem leichten natura-
listischen Schaffen unterscheidet.

Die Grundlage der modernen Kunst ist das
Streben nach einer Form von absoluter und prin-
zipieller Sicherheit; die Werkzeuge sind hier die
Mittel, wie Farbe, Raum und Schall. So hat zum
Beispiel der Kubismus seinen „astralen“ Raum
ohne Atmosphäre, der um den Zauber und die
Klebrigkeit der naturalistischen Säfte beraubt ist;
es ist nicht ein Raum, in dem sich Motive der ele-
mentaren und leidenschaftlichen Naturkräfte ab-
spielen. Es ist ein selbständiges und reines
Prinzip, das eine Art von l’art pour l’art in
dem besten Sinne des Wortes gründet, wie es zum
Beispiel (wohl in einem anderen Stile) das musi-
kalische Werk von Bach gegenüber dem von
Wagner darstellt.

Die Abwendung von Naturalismus, die tief die
moderne Kunst charakterisiert, kann man sich am
leichtesten auf folgende Weise vorstellen: Von der
Renaissance an versuchte die bildende europäische
Kunst das schöne Aeußere der Dinge nachzu-
ahmen. Diese Tendenz dauerte bis in das neun-
zehnte Jahrhundert hinein, und ihre Modifikationen
und Stile wurden mehr durch die Aenderungen der
„Moral-Temperatur“ der europäischen Mensch-
heit als durch prinzipielle Umwandlungen verur-
sacht. Aber der moderne Geist nahm schon zu
viel von wissenschaftlicher Erkenntnis ein, als daß
er nicht wüßte, daß das, was unter der Oberfläche
der Dinge, innerhalb ihrer Struktur und ihrer
Kräfte sich abspielt, viel geheimnisvoller und
auch schöner ist, als ihre äußere Ober-
fläche. Selbst die vollkommenste Illusion
des Gegenstandes bietet dem gegenwärtigen
Geiste keine volle und dauernde Befriedigung. Und
nun wird es die Aufgabe der Kunst sein, sich von
der Natur zu befreien und sie zu überwinden. Der
Impressionismus riß sich wenigstens von der Mate-
rialität der Natur los und gab ihr die Realität und
die Subtilität des psychologischen Werdens; aber
auch dadurch wurde nicht tiefer in den Charakter
der Kunst eingegriffen, es blieb noch immer übrig,
den entscheidenden Schritt zu machen, das heißt,
die Natur durch Künstlichkeit, durch autonome
menschliche Ordnung und Autorität der künst-
lichen Form so zu ersetzen, daß die Form, eine
geistige Formation, den Naturgegenstand ersetze.
Die moderne Kunst gibt den Seelen ein monumen-
tales Gewand, und so ist es möglich, statt der
Wirklichkeit diese monumentale Prinzipialität selb-
ständig und autonom zu setzen; die Form der
Kunst entsteht also durch einen anderen Vorgang,
nicht durch bloßes Uebertragen der Wirklichkeit.

Das, was ich als künstlerische Substitu-
tion der Gegenstände bezeichnen würde, ist eine
abstrakte Oberfläche und künstliche Gefühlsform,
von dem Naturalismus befreit. So war schon der
farbige Punkt des Neoimpressionismus eine der-
artige selbständige Seele, ein kleiner in der far-
bigen Berührung enthaltener Raum; schon da-
durch wurde im Neoimpressionismus die naturale
Gestalt einem bestimmten Prinzip unterordnet. In
der heutigen Kunst finden Aenderungen von weit
größerer Tragweite statt, ja Aenderungen, die
selbst den Kern der bildenden Auffassung treffen.
Die formelle Voreingenommenheit hatte sich ge-
läutert und befreite sich von groben Zusätzen.
Was die Kunst zu erreichen sucht, ist die Idea-
lität der Form, für die man unzählige Mittel
und Versuche erfindet. Denn die Realisierung
dieser Idealität ist durchaus nichts Leichtes; der
Künstler findet sie nirgend in der Welt fertig, er
muß sie vorbereiten; die moderne Kunst wird ge-
schaffen, nicht geträumt; sie muß ihren Gegenstand
auf den Wegen der Logik und der Ahnung ver-
folgen, sie muß mit den Sachen der Welt ein selt-
sames Spiel treiben, sie muß klug und klar die
Weltanschauung zum Nutzen der Formanschau-

146
 
Annotationen