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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 4.1913-1914

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Nummer 164/165 (Juni 1913)
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Essig, Hermann: Hippodrom
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Ehrenstein, Albert: Der Tod in Venedig
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Meyer, Alfred Richard: Gedicht: Großlichterfelde
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Babillotte, Arthur: Die Schwermut des Genießers, [5]: Roman
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https://doi.org/10.11588/diglit.27574#0047

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Als Schulmädchen war sie Seil gehopft! Und
wie! Diesen Sport vermochte sie wieder aufzu-
nehmen. Im Boarding-House begann eine Tur-
nerei, daß jedermann zu erraten glaubte, warum
die Dame „Hippodrom“ genannt wurde. Sie war
vom Zirkus und ihrer Dimensionen wegen wahr-
scheinlich entlassen worden.

Kleopatra-Hippodrom war aufs höchste befrie-
digt. Ihr Arzt begann sie schon weniger aus den
Augen zu verlieren, es eiöffneten sich Perspek-
tiven. denn er war Junggeselle. Sein Entfettungs-
objekt machte den Eindruck großer Fähigkeit zu
vollendeter Schönheit.

Nach sechs Wochen prüfte Hippodrom doch
einmal ihre Umrisse, ob sie eigentlich mit einigem
Glück ihrem Ideal zustrebte. Mit Skepsis be-
merkte sie, daß gerade dasjenige, was am un-
nötigsten War und unschönsten, am wenigsten ab-
schmolz, eine gewisse vordere verschwartete'
Lagerung, wo hingegen die hintere zu sehr in Ab-
nahme geriet.

Wohl oder übel mußte ihr neuer enger Freund,
der Arzt, konsultiert werden.

Er kam. „So, so. Ja, ja. Das wollen wir so
machen. —“

Der Inhaber einer Brunnenfirma überzeugte
sich auch selber von der windschiefen Bahn, auf
die man bei Verfolgung des Fetts gekommen war.

. Es galt, einen Brunnen zu finden, der Scho-
nung aller anderen Körperteile nur die vorderen
Lagerungen entfernte.

Aber, oh Jammer, es entstand eine überlappte
Hängung, daß Hippodrom wünschte: dann lieber
wieder fett!

. Der Arzt kam und wischte die Nase. Was
tun? Messer! Wegschneiden! „Geht das?“
Hippodrom zitterte um ihr Leben, sie hielt den
Freund für einen Schurken, der sie nur zu Studien-
zwecken ä la Clinique mißbrauchte.

Sie glaubte ihm nicht mehr. Eines Tages,
noch vor Abschluß der Kur, rannte sie stürmisch
aus dem Hause, sie wurde gesehen und eine Hetz-
jagd mit Auto begann nach ihr, die sich unter
dem Pseudonym bisher verborgen hatte.

In der medizinischen Klinik verlor man ihre
Spur. Man schüttelte die Köpfe. „Hippodrom
alias Kleopatra war übergeschnappt.“

Wenn nicht, so wußten die Freunde wenig-
stens, daß ihr Hippodrom noch existierte.

Die strategisch wichtigsten Appartements im
Boarding-House wurden gemietet, Hippodrom bei
Gelegenheit gemeinsam abzufangen.

In der Klinik, der Geheimrat meinte: „Weg-
Schneiden“.

„Ohne Lebensgefahr?“ wimmerte Hippodrom.

Am nächsten Tag lag ihr Bauch auf der Frei-
bank. Beinah.

Hippodrom, nein Kleopatra, kam nach Wochen
ins Boarding-House zurück, mit einer breiten Naht
über die Gefilde. Aber sie war brillant schlank.

Die Freunde monokelten! „Kaum zu glauben!“

Sie wetteten, wer zuerst in die renovierte
Burg Bresche schießen würde.

Dem Frechsten gelangs. Kleopatra schwor,
picht Hippodrom zu sein. Aber man glaubte ihr
nicht.

Sie trug einen Schleier über der Naht. Wenn
den einer lüften würde, den, würde sie zum Fen-
sder hinauswerfen.

Es wagte keiner, denn sie fauchte dann
furchtbar.

Ihre Schönheit hatte sie gerettet, aber von den
alten Affen kam sie nicht los.'

Hippodrom wurde melancholisch. Sie bemühte
sich mit ihren Reizen nach neuen, solideren Män-
nern. Warum’ gelang es ihr nicht? '

Wenn sie tatsächlich auszog?

i

44

Es ging nicht weg von ihr. Wer war sie?
Warum blieb 'sie Hippodrom?

Der Tod in Venedig

Thomas M a n n , der Erbauer der „Budden-
brooks“, der Dichter des Tonio Kröger und der
zarten Novelletten „der kleine Herr Friedemann“
ließ (bei S. Fischer) ein neues Werk, die Erzäh-
lung „Der Tod in Venedig“ sichtbar .wer-
den. Wie in dem dauerhaftesten Prosabuch un-
serer, Zeit, in Rudyard Kiplings wahrhaft unsterb-
lichem „Dschungelbuch“ Geier, Fledermaus und
Stachelschwein jedes Wiegen und jeden Rüssel-
schwung Hathis, des Elefanten, beobachten, also
belauern seit Jahren Literaten und Besprecher
aller Kategorien aufmerksam jegliche Wesens-
äußerung der Brüder Mann, unserer interessan-
testen und repräsentativsten Prosaiker. Wieder
wird man aus einem (diesmal schmalen) Bande
Fortschritt oder Rückgang, weitere Entwicklungs-
fähigkeit oder absterbende Erstarrnis ableiten
wollen. Und nur der Einsichtige wird ahnen, daß
diese ethisch-epische Angelegenheit, diese gleich
dem „Tonio Kröger“ weniger eine Novelle als viel-
mehr ein platonischer Monolog zu heißende
Prosaarbeit vom Künstler gar nicht so gemeint
war. Nicht als ob Thomas Mann es hier ablehnte,
über sich Auskunft zu erteilen, über seine Arbeits-
weise und über den Anklang und die Wertung,
die seine Bücher bei ihm und uns finden. Aber
als entscheidend war dieses Zwischenwerk wohl
nie gedacht, wenn es auch, wie jeder Versuch
eines seiner Kunst mit Leib und Seele ausgeliefer-
ten Dichters notwendigerweise irgendwie psy-
chographischen Charakter tragen muß.

War Thomas Mann von Anbeginn einer fast
akademischen Zurückhaltung ergeben, einer stren-
gen Selbstzucht, die wundersam genug, tiefste Er-
kenntnisse und Bekenntnisse nicht ausschloß, so
mußte seine Gewohnheit, zwiespältige Dinge
durch Haltung zu erledigen, von einem heiklen
Thema anfangs irritiert werden. Das Problem
der Auflösung eines geradezu preußischen Willens
im Lande der Lust und der Hesperiden ist jedoch
bei ihm nicht neu, es ist nur wiedergekehrt wie
ein Leitmotiv, umgekrempelt ,amplifiziert und er-
weitert nach mancherlei Richtungen hin.

Bei Thomas Mann tut man gut daran, auf die
Namen seiner Personen zu achten, sie zu deu-
ten, sich ihrer als Wegweiser zu bedienen. Das
Ich, das Zentrum, der Raisonneur der Mannschen
Abhandlung heißt Georg Aschenbach: wir haben
es also sozusagen mit einer Äsche, graue Körper
mitführenden Flüssigkeit zu tun, die sich eine Be-
wegung abzwingt. Kurzum mit einem Willens-
menschen, der asketisch seinen Zielen lebt, bis
er sich einmal vom Leben nehmen lassen muß, er-
mattet, zusammenbrechend, todesreif.

Daß den mehr als fünfzigjährigen Helden eine
ünirdische Liebe zu einem zart-schönen Knaben
befällt, eine Leidenschaft, göttlich wie jede andere,
teuflisch, weil ihr der seelisch soignierte Schrift-
steller Georg von Aschenbach keine real-ästhe-
tisch denkbare Erfüllungsmöglichkeit abgewinnen
kann, ist symbolisch deutsam, biologisch erklär-
lich. Doch selbst dieser „Stoff“ scheint bei Tho-
mas Mann fast schon. Nebensache: er ward in ein
stellenweise langweiliges, motivisch durchsetztes
Wunder der Komposition.verwandelt. ..Vorzeichen
und Vorbedeutungen in München und auf der
vehedigwärts . planlos gerichteten^ .Fahrt, das
keusche, krasse lind verheerende Gewühl der. Ge-
fühle, das dumpfe, unvorsichtig-wehrlose Sich-

sterbenlasserv des Verzehrten, und vor allem die
irgendwie zwischen Homer, Plato, Goethe, Stifter
und — Auburtin befestigten Herrlichkeiten der
antikisierenden Sprache bleiben in dem Leser, un-
vergeßlich eingegraben. Eine vielleicht kleinliche
Marotte: Vorliebe für Repräsentation (nicht nur
der Hotels), verzeiht man solchem Meister gern.
Und doch, und doch! Manche von Thomas Manns
verstreut erschienenen, leider noch nicht zu einem
Band versammelten Skizzen ist frischer, stärker.
Mag er eine Periode, in der ihn wieder mehr die
Verfalls- und Untergangserscheinungen behelligen,
ruhig zu Ende genießen! Es sei aber gehofft,
daß nicht bloß sein lebhafterer Bruder Heinrich
Manu endgültige „Rückkehr vom Hades“ gehal-
ten hat, sondern auch Thomas Mann nur vor-
übergehend schwermütig-steifen „Tod in Venedig“
feierte!

Albert Ehrensteio

Gedicht

Großlichterfelde

Alle Häuser in der Boothstraße laufen heut vo*
Pfirsichbowle über.

Neben unserm Garten hat sich Heinrich Seidel
wie ein schwarzer Elefant auf den Tisch geduckt
und pappt aus Vögelein und Blümelein ein feines
Märchen klein.

Da wir nicht in der Leihbibliothek abonniert sind,
werden wir’s nicht zu lesen brauchen.

Dankbar spucken wir ihm unsre Pfirsichkerner in
das sogenannte Manuskript.

Diese schlagen schnell, wie das in Sommernächten
um Berlin so üblich ist,

Wurzel in dem fruchtbaren Papier und werden in
Sekunden schüttere Wälder,
durch die unsre Affen dionysisch heiter turnen,
unserm Beispiel nach sich Pfirsiche ergattern,
sich die Bowle diesbezüglich dazu denken,

Kerner aber wieder in die Manuskripter schmeißen
usw. usw. wie die ewige Schraube.

Julinächte. Erich! O ambrosisch! ,

Hoffentlich ist deine Schraube wie die meine noch
in Ordnung.

Alfred Richard Meyer

Die Schwermut des
Genießers

Roman

Von Artur Babillotte

Fortsetzung

Die Geliebte saß mit gebeugter Stirn und emp-
fand die Bewegung der weichen Hand.

Wie süß dies ist! sagte sie leise und lachte
in heimlicher Freude in sich hinein. Wie süß
dies ist!

Dann erhob sie die Stirn und lächelte ihn
dankbar an: '

Jetzt darfst du mir die Hand küssen, Liebling.

Indem er den leisen Duft dieser Hand ein-
atmete, erinnerte er sich wieder des Festes, das
er mit der Geliebten feiern wollte. Eine jähe
Freude wallte in ihm auf. Und schlug in großen
Wellen durch seinen Leib. Seine dunklen ver-
sonnenen Augen, die immer in eine weite Ferne
zu blicken schienen, begannen zu strahlen.

Wir wollen ein Fest feiern, öeliebte!" Ich kann
d|ch mir nur vorstellen, wie du Blpmep im Haar
trägst' und'mit’rhythmisch- gehobenen Füßen 'ein-
hergehst und ein stilles, rauschseliges Lied singst.
 
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