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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 4.1913-1914

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Nummer 190/191 (Zweites Dezemberheft)
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Hofman, Vlatislav: Der Geist der Umwandlung in der bildenden Kunst
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Kohl, Aage von: Der tierische Augenblick
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https://doi.org/10.11588/diglit.27574#0150

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ung ausnützen, damit so eine neue Schönheit und
Künstlichkeit geschaffen werde. Wird diese Schön-
heit geboren, so hat sie noch keine allgemeine
Anerkennung; roh und grob erscheint sie den
Augen der Aesthetiker und Liebhaber des Alten,
die ohne ihr Mitwirken geschaffene Kunst auf-
wärmen und sie von einer Hand zur anderen rei-
chen. Aber das Faktum, das die Autonomie der
Form schon da ist. verwirklicht in der neuen
Kunst, kann nicht an seiner Wirksamkeit dadurch
verlieren, daß sie für Augen unbequem ist, die an
eklektische und naturalistische Kunst gewöhnt
sind.

Damit aber die neue Schönheit fruchtbar ent-
stehen kann, sollten wir voll Zutrauen zu unserer
Zeit sein: Moderne Zeit muß für uns die aller-
schönste sein. Wollen wir die moderne Schönheit
schaffen, ist vor allem nötig, sich von der senti-
mentalen Bewunderung für das Vergangene zu be-
freien. So fühlt auch der Soldat die neue Schön-
heit eines Schusses aus dem Maschinengewehr,
die Schönheit einer vollkommen Funktionsfähig-
keit, ein Gefühl, das sich sehr von der alten und
dummen Schönheit des Freischützen unterscheidet.
Der moderne Zuschauer soll auch solch ein naives
und selbstverständliches Gefühl A'or der Kunst
haben.

Also: Die moderne Kunst zielt zur Idealität der
Form, die von der Illusion befreit ist. So hatte auch
die frühe mittelalterliche Malerei nicht den ver-
dächtigen illusiven Zauber der späteren Stile; ihre
Ausdruckssprache war rätselhafter, weil sie
rein und ursprünglich ist.

Aber die neue Kunst ist keine Abwendung von
der Wirklichkeit und keine Flucht zum Ideale der
Schönheit außerhalb der Welt. Im Gegensatz, der
volle und lebendige Sinn der Zeit lehrt bis in das
Innere der Wirklichkeit, bis zum Skelett, das sie
trägt, einzudringen zu trachten. Unser realer Sinn
ist so verschärft, daß alles, was bloß Illusion ist,
auf dem Grund der Seele eines tieferen Menschen
eine quälende Unbefriedigung und ein Gefühl der
Unwahrscheinlichkeit hinterläßt. Der moderne
Geist klebt nicht an der Erde, sondern an der
Wirklichkeit, die den Menschen fortwährend auf-
fordert, sich ihrer durch die Tat zu bemächtigen.
Diese wahre Wirklichkeit, die für das aktive,
schaffende Menschenwerk ein beständiges Objekt
ist, enthält für unsere Sinne nichts Häßliches und
Gemeines. Wir brauchen sie nicht mehr zu ver-
schönern, mit Symbolen und Metaphern zu be-
decken, mit Bengalstimmungen zu färben und mit
dem Mantel des Göttlichen zu umhüllen. Die
Künste der vergangenen Zeiten schufen eher eine
ideale Welt als eine ideale Form. Ihr Inhalt waren
schöne, idealisierte Gegenstände, durch natura-
listische Imitation äusgedrückt. Die Würde der
Kunst wurde durch eine Illusion des Göttlichen,
durch vornehme aristokratische Schönheit, die
etwas besseres, als bloße Realität bedeutete, er-
setzt. Darin war die große Revolution Befreiung
und Reinigung, denn sie war rationell und zivil,
und machte mancher Prächtigkeit der vergange-
nen Zeiten ein Ende. Erst nach ihr konnte eine
neue Realität kommen, ein neues Einführen von
Vorstellungen in die Seelen, eine tiefere Sehnsucht
zur Erforschung und Vision als bisher! Jetzt ver-
langen wir von den Dichtern etwas mehr, als ele-
gante und philosophische Spazierritte auf dem
„Pegasus“, von den Musikern mehr als schöne
Melodien, von den Malern mehr als Galerie-
Meisterwerke; denn alles dies sind nur Schau-
bühnen, wo in anziehender Position die Illusion
der Schönheit liegt. Die moderne Zeit löst in sich
etwas weit mehr Prinzipielles und Elemen-
tares, und verlangt nicht Befriedigung und Täu-
schung, sondern eigene Konstruktion. Das In-
teresse der modernen Kunst zielt zu den Dingen,

zur Bewältigung der Dinge. Die neue Ausdrucks-
sprache teilt das geheime und wahre der Reali-
tät mit als neue Berührung des Geistes, und dringt
auf uns so stark, daß wir vor Realität fortwährend
beinahe erschrecken. Die moderne Malerei unter-
sucht die Gegenstände fast mit analytischer Prä-
zision, dreht sich um sie, läßt sich von ihnen über-
raschen; niemals ist die Kunst mit einer solchen
Präzision vorgegangen, wie jetzt.

So finden wir in der neuen Kunst einen be-
stimmten Dualismus; ein Streben nach voller
Gegenstandsrealität und auch nach voller Idealität
der Form. Das neue Gesetz der modernen Kunst
besteht in der Erlangung einer solchen Formidea-
lität, die völlig und synthetisch die Seele zu ver-
treten fähig wäre. Unsere Kunst, die auf solche
Weise zwischen zwei gleich mächtige, neue und
nötige Forderungen gestellt ist, wird zum Pro-
blem, das eine unendliche Zahl von Lösungen zu-
läßt.

Die hier ausgesprochenen Forderungen reali-
siert die zeitgenössische Kunst völlig und aus-
drucksvoll.

Vor allem — durch welche Form drückt sich
der moderne Künstler aus? Er spricht durch die
Linie, sie stenographiert am vollkommensten den
langen Weg, auf dem die Naturerscheinung umge-
ändert und in der Seele gebrochen wurde. Er
spricht durch die Fläche, die an den Grenzen der
natürlichen Oberfläche die Lim i tat ist, durch
eine sehr ausdrucksvolle Fläche, an der homogene
Moleküle zusammengetrieben wurden, damit sie
laut und bestimmt klingt; er spricht durch For-
men, die sich an der letzten Grenze zwischen Un-
möglichkeit und Wahrscheinlichkeit bewegen.
Hier werden die Oberflächen, die zum Beispiel
farbigen Bändern oder wunderbaren Streifen und
Tafeln ähnlich sind, zum künstlerischen Resultat,
das die wirkende dekorative Macht des Bildes von
Grund aus verjüngt, und das eine farbige Photo-
graphie nicht geben kann; und diese Abstraktion
von der natürlichen Gestalt geht so weit, daß die
formalen Urstoffe einen beinahe geometrischen
oder mechanistischen Charakter annehmen. Aber
auf welche Weise kann man gleichzeitig bei dem
Entstehen der idealen Form mit den Dingen real
fühlen?

Die Sachen müssen von dem Zauber der ver-
änderlichen Oberfläche befreit, entblößt werden.
Man muß aus ihrem Inneren die formale Konstruk-
tion zu fixieren trachten, die gleichzeitig auch Ver-
einfachung und Entfaltung der Seelen ist, zugleich
ihre zusammengefaßte und vielfache Vision. Aber
es gibt mehr Mittel und Systeme, als man hier
erwähnen kann. In ungewohnter Fülle finden Erup-
tionen und Drucke statt, sie müssen alle Dämme
durchbrechen, die von den eklektistischen Tra-
ditionisten erhalten werden. Und so wie diese Be-
wegung durch ihre Intensität manchen Begriff und
manches ästhetische Ganze, das für absolut und
fertig galt, zerstört hat, so zerlegt sie auch
schon die mechanistische Homogenität der Hand-
lung durch den freien Vers, der sich neu organi-
siert und seine gesetzliche Bindung sucht, so zer-
legt sie auch den Raum in der kubistischen Kunst
in malerische Substitutionen, und so zersetzt sie
auch die Melodie in ein disparates und autonom
fungierendes Tonsystem. Aber diese Zerlegung
ist keine Verstandsanalyse; sie bedeutet das Aus-
breiten der Flügel zum kühnsten Fluge, zu dem
sich das Jahrhundert bereitet hat.

Autorisierte Übertragung aus dem Tschechischen von
GeorgFaustha / Der Verfasser ist Architekt in Prag

Der tierische Augen-
blick

Aage von Kohl

Denen, die den Krieg zu hassen noch nicht gelernt
haben

Und denen, die noch nicht die Menschen lieben

Im selben Augenblick merkte er es. Als er,
Leutnant und Fürst Bentai Fushimo, den Schein
des Bataillonsleuchters, der in dem Wind hin- und
herschaukelte, hinter sich hatte, merkte er das
Ganze.

Kapitän Hoksai, sein Kompagniechef, hob sei-
nen Kopf mit dem kurzen grauen Haar und kniff
die schmalen bartlosen Lippen zusammen. Pre-
mierleutnant Hatuse sah eine Sekunde auf, dann
senkte er wieder sein Gesicht über eine weiße
große Blume, die er in der linken Hand hielt. Und
die anderen Offiziere schwiegen alle mit einmal,
es sah aus, als suchten ihre Hände verlegen nach
einem neuen Gesprächsstoff.

Bentai stand einen Augenblick ganz still. Lang
und schlank. Der fleckige, karierte Lichtschein
des Papierleuchters machte den Staub auf seinen
Stiefeln grau und rostfarbig.

„Setzen Sie sich, Fürst Fushimo,“ sagte Ka-
pitän Hoksai schließlich ganz kurz und wie ge-
zwungen, fand Bentai. Der Kapitän bog seinen
Oberkörper zurück, er saß auf einem kleinen Erd-
hügel, und begrub seine Hände unter seinen
Schenkeln. Das Dunkel hinter ihm bewegte sich
wie eine weiche schwarze Decke, die manchmal
von dem Wind über Gesicht und Schulter gezogen
wurde.

Aus dem Ton des Kapitäns glaubte Bentai zu
verstehen, daß sie alle auf ihn heruntersahen, daß
sie ihn für einen Feigling hielten — hier war er
nur Fürst, nicht Soldat.

Einen Moment war er ganz ratlos.

„Danke, Kapitän, Sie sind zu liebenswürdig!“
sagte er dann mit kurzer überlegener Stimme; er
lächelte und machte eine Handbewegung, als
spräche er mit den Dienern zu Hause.

„Ich störe wohl,“ fügte er hinzu, und fühlte, daß
seine Stimme beinahe sank, unter den Hals.

Er machte Kehrt und ging von den Offizieren
fort.

Lange nachher konnte er das Schweigen hören,
das auf seine Worte unter den Kameraden folgte.
Er haßte diese Menschen und bettelte bei ihnen zu
gleicher Zeit. Er hatte Lust, sie zu schlagen, und
eine unmenschliche Sehnsucht, ihnen alles zu er-
klären. ' TV

Ja, es war kein Zweifel; sie glaubten, daß er
eine Bürde und Schande für das Bataillon sein
würde. Ein Hofoffizier! Ein Fürst, der launenvoll
teilnehmen zu dürfen wünschte! — Fürst Bentai
Fushimo war neunzehn Jahre alt. Aber sein
Vater hatte die Zeit gut ausgenutzt. Seitdem
Bentai acht Jahre alt war, wurde er eingeteilt,
Seele und Leib, in Tagen zu acht Stunden; jeder
Achtteil wurde einem bestimmten Lehrer ange-
wiesen. Der Knabe las Geschichte eine Stunde,
focht die nächste, dann kam Russisch, dann Fuß-
ball, dann Mathematik und endlich Gymnastik.
Auf diese Weise ging es, bis er vierzehn Jahre
alt war. Dann wurde er in eine Lehranstalt
nach Berlin gesandt, zwei Jahre blieb er dort,
nachher ein Jahr in Sankt Petersburg, und dann
in der Kriegsakademie zu London.

„Wenn du jetzt, mein Sohn und Herr, in Paris
ein Jahr — oder wenn du willst zwei — gewesen
bist, erwarte ich dich zu Hause. In meinem Alter
ist Sehnsucht der einzige Beweis für einen Mann,
daß er noch lebt. — An Dich, mein Sohn und
mein Fürst“! — hatte der Vater an ihn nach Lon-
don geschrieben.

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