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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 4.1913-1914

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Nummer 154/155 (April 1913)
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Seidel, Ernst Curt: Rosso-Rodin
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Blake, William: Sprüche aus den Werken
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Schwarz, Hugo Engelbert: Phantasie des totgeborenen Knaben Mukuro
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https://doi.org/10.11588/diglit.27574#0006

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Rosso-Rodin

L’oracle de la bourgeoisie: Rodin: Das Re-
sultat ungeistigen Intellektualismus: Misant und
Götzendiener, den ein brutales Verhältnis mit
Griechenland verbindet. J1 Cinquecento, Dona-
tello, Michelangelo-barocco nicht zu vergessen!
Axiome schlagen sich die Köpfe ein, so daß nichts
als ein btirgerlich-vergötterter, Bedeutung suchen-
der Irrtum gen Himmel bläkt! Mischmasch un-
lauterer Elemente: ethisch-wissenschaftlich-deko-
rativ-philosophisch. Rodin ist eben glücklicher
Fauteur de la Statuaire Style pompe femebre.
Jede Generation hat ihren Messias und ihren Ca-
nova. Auf deutsch: jede Generation besitzt ihr
Zusammendrängen unermeßlichen Weltgeschehens
und seiner unbedachten Torheiten. Darum be-
haupte ich, daß das Schaffen Rodins weit von dem
geheimnisvollen Ringen der Seele entfernt lebt.
Zola nackt ist noch lange keine künstlerische
Aeußerungsform. Schon dagewesen; Simulation
eines grandiosen, lyrischen Ungestüms. Unsach-
liche Behandlung und Variationen über äußerliche
Themen. Deshalb behaupte ich auch, daß Rodins
Schaffen, sonst nicht atemhemmend, in der latei-
nischen Rhetorik aufgeht. Schweinsblasen.

Setzt bei gutgemeinten, aber ganz dilettanti-
schen Versuchen ein — etwa bei Carrere —, um
seinen aktuellen Enthusiasmus zu betätigen;
kommt alsdann zu den alten Herren, bei denen er
sich vergißt; gelangt von ihnen zu den entschei-
denden Vorbildern eines großen Zeitkünstlers —
Rosso — ohne jedoch zu einer endgültigen Form
zu gelangen. Da eine große Individualität außer
seinem Bereiche liegt, lebt er einfach vom Profit.
Tm übrigen Selbstsucht ohne z. Selbstvoll mit
szenarischem Aufwand. Nichts rein abgeschlos-
senes; nichts Bedeutendes, Seelenerlebtes ist in
ihm. Kein Brückenzerstörer; auch kein Bedürf-
nis vorhanden, neue Brücken zu errichten. Die
Sache bleibt bei einem freundlichen: Möchte! —
Von aller Welt bewundert überschreitet er sämt-
liche Brücken. Selbstsucht ohne zet. Als reicher
Patron ahnt er jedoch die Größen anderer Zeit-
genossen. Sammelt Rosso, van Gogh, Cezanne,
Renoir. 1892 tauscht er in der Bodiniere, Rossos
„ R i e u s e “ mit einem Torso um. Sechs Jahre
lang kämpft Rodin der Prophet mit den neuen
Ausdrucksmitteln Rossos. 1898 entsteht sein
„Balzac“: später folgen Le bourgeois de
Calais. Elend zu Hause. Mann kann nicht
mehr. Rodin bleibt Bourgeois: Wiederkäuer.

Bitte, ein Billett nach Griechenland!

» . *

Rosso: eine glühende Empfindung, die mit
ihrem Ich direkt aus der Berührung der Welt
herauswächst; sich gegen die verschlumperte
Syntax der Griechen und somit der italienischen
Renaissance — der er nicht einmal seine Geburt
verdankte — hartnäckig aufbäumt und ihre Neu-
werte in der Plastik errichtet. Gegen Michel-
angelo und Nachfolger. Horizonterweiterung der
plastischen Lyrik: freies Aufatmen ohne den

klemmenden, geistesengen Simulationen von Dra-
matik und Mythologie. Nach Jahrtausenden
spricht endlich wieder einmal ein Bildhauer zu sei-
ner Epoche, mit einer Kraft und mit einem Feuer,
mit Inbrunst und mit Vehemenz, wie sie nur ein
Sohn des Italiens sprechen konnte, das einst der
Welt Paolo Uccello schenkte. Ein großes Welt-
geschehnis ging in der Skulptur vor sich. Nichts
mehr von den melancholischen Marmortriviali-
täten, nichts mehr von dem verrückten, nichts-
würdigen und nichtssagenden barocken Muskel-
spiel und sonstigen dekorativen Akrobatenexerzi-

tien, die absolut keine Beziehung zur Kunst bean-
spruchen können; nichts mehr von dem unred-
lichen Gequassel der Gipsfigurenbildner, die be-
kanntlich nicht alle aus Lucca stammen. (Einige
sind sogar Hofräte in Berlin!) Alles strebt in
Rossos Kunst zum harmonischen Vollklang von
Linien und Farben, (Chiarooscuri: nie violent zer-
setzt oder absichtlich zerrissen, sondern weich,
liebevoll, technisch vollendet abgetönt!) die etwa
nicht schroff unterbrochen, sondern wie im süßen
Echo die Erregung des Schaffenden in dich selbst
übertragen und in dir wiederklingen. Von allen
dekorativen, unlauteren Versuchen entfernt, lebt
er einsam in seiner großen reinen Kunst, die die
tieferen Seiten unseres Wesens beglückt. Sein
Stil ist eine reich modulierte Sprache. Seine Emp-
findungen sind unbeschränkt; deshalb findet man
bei ihm auch keine kümmerlichen Stilversuche.
Als Plastiker „malt“ er seine Köpfe ohne Zögern,
ohne Verirrung. Kein Kompromiß; keine flauen
Werte; keine Empfindungsweichlichkeiten: Die
Potenz des rein impressionistischen Instinktes ist
in keinem andern Zeitgenossen so stark ausge-
prägt wie bei Rosso. Eine große Seele schenkt
sich der Welt. Jedes zeitgemäße Subjekt wird
ihm zur Dichtung. Man denkt gern an Baude-
laire, wenn man seine Schöpfungen betrachtet
und wie bei dem Dichter, so erhebt sich auch bei
dem Bildhauer die Materie ins Reich des Immate-
riellen. Rien c’est material dans l’espace — lautet
die Parole Rossos. Hier liegt der wunderbare
Erfolg seiner Konsequenzen, die vor bald fünfund-
zwanzig Jahren als paradox verhöhnt wurden:
in der Wirkung Unerwartetes zu bilden ohne dem
Auge des Beschauers die Materie aufzudrängen:
in der Tiefe seiner künstlerischen Intuitionen durch
die geschickte Traduktion der Farben, Atmosphäre
und Perspektive: in der Sorgsamkeit, wie er das
plastische Werk in einer besonderen Beweglich-
keit, in einer Kontinuität wiedergibt; in der be-
wunderungswürdigen Sinnlichkeit seiner seeli-
schen Erlebnisse; in der lyrischen Schönheit und
dem Vollklang seiner ewig-kiinstlerischen Expres-
sionen. Rossos Jo hat nie einem anderen ange-
hört: von der „Concierge“ zum „Ecce
Puer“, vom „Enfant malade“ zum Portait
de Madame Noble t. Rosso: ein immenser
Horizont: Grundauffassung plastischer Neuwerte:
Abstraktion der Materie; frohes Sich-aus-leben-
lassen: ein stürmischer Kämpfer gegen altherge-
brachte Formen. Aus seinen Höhen fallen neue
Sterne auf die Erde.

Curt Seidel / Turin

Sprüche aus den
Werken

Von William Blake

Wenn der Beschauer in diese Bildwerke ein-
treten würde mit der Kraft seiner schöpferischen
Einbildung, um sich im Feuerwagen des betrach-
tenden Gedankens zu ihnen erheben ... so würde
er der Gefährte und Geliebte dieser Werke, die
voll Wunder zu ihm flehen, die sterblichen Dinge
zu lassen — welches er wissen muß — aus dem
Grabe aufzuerstehen . . . und glücklich zu sein.

*

Wenn wir uns fürchten, die Befehle unsrer
Engel auszuführen, wenn wir vor den Aufgaben
zittern, die uns gestellt werden, wenn wir uns
schließlich weigern, geistige Handlungen zu voll-
bringen aus „natürlicher“ Furcht und infolge

„natürlicher“ Begierden: wer kann die schreck-
lichen Qualen solchen Zustandes fassen. Solltest
du . . . gerüstet zu geistiger Sendung, dich ihrer
weigern, solltes du deine Gaben in der Erde ver-
graben — ja, vergräbst du sie, damit dir das
„natürliche“ Brot nicht mangelt -— dann werden
Gram und Verzweiflung dein Leben verfolgen,
Beschämung und Verwirrung werden dein Ange-
sicht nach dem Tode entstellen. In Ewigkeit wird
jede dich verlassen, erschrocken über den von
seinen Brüdern mit Ehre und Ruhm gekrönten
Menschen, der ihre Sache den Feinden verriet.

*

Wirst du einen Menschen lieben, der nie für
dich starb, wirst du je für einen sterben, der nie
für dich starb; jede Freundlichkeit gen einen An-
dern ist ein kleiner Tod, der Mensch kann nicht
anders, denn in Brüderlichkeit bestehen.

*

Der Mensch ändert durch Auferstehung, sei-
nem Willen gemäß die geschlechtlichen Gewän-
der: jede Dirne war einstmals Jungfrau, jeder
Verbrecher voll Kinderliebe.

deutsch Knoblauch

Phantasien des
totgeborenen Knaben
Mukuro

Von Hugo Engelbert Schwarz

Meine Mutter Wischihla war aus ihrer Ohn-
macht erwacht und; rief: Mukuro, bist Du von mir
gegangen? Der liebe, kleine Mukuro . . . Wird
er leben? . . . Der törichte Doktor schüttelte sein
Haupt und sagte, ich wäre nicht lebensfähig.
Brummend legte er mich in eine Schale aus Por-
zellan. Er war dick und rot und trug eine große,
runde Hornbrille. Durch die geschliffenen Glä-
ser funkelten seine Augen, als er mich mit einer
Zange anfaßte und bis vor sein Gesicht hob. Ich
schämte mich, wie eine Jungfrau, denn ich war
splittelnackt. Dann war ich auch nicht rein und
das beschämte mich noch viel mehr.

„Mit dem Mukuro ist nichts zu machen, den
nehme ich mit mir!“ Er legte mich vorsichtig in
ein Gefäß mit warmen Wasser, reinigte mich sorg-
fältig und verfuhr mit seinen klobigen Fingern
so zierlich, daß es zum Staunen war. Das warme
Wasser tat mir wohl. Aber es machte mich müde,
ich schlief ein, wie der Mönch in der Badewanne,
von dem meine Mutter Wischihla dem blonden
Papa erzählt hatte.

Als ich wieder zu mir kam, saß ich in einem
Kristallglase, das mit Spiritus gefüllt war. Ich hatte
eine gute Aussicht auf den Schreibtisch des Dok-
tors. Sehr töricht von ihm, mich in Spiritus zu
setzen. Er war noch dazu kaum siebzigprozentig,
denn der Apotheker hatte ihn betrogen. Gerade
der Alkohol wirkte belebend auf mich. Freilich
konnte er nicht wissen, wie ich an ihn gewöhnt
war. Unter meinen Papas gab es sicher sechs,
die Säufer waren .... Und einer war es ganz
besonders. Der mochte keinen Champagner. Er
haßte ihn. Aber er roch nach wirklichen Brannt-
wein. Ich spürte den Papa schon, wenn er vor der
Türe stäncf. Wie komisch er nur angezogen war!
Meine Mutter Wischihla empfing sonst nur Herren,
die Frack oder Smoking trugen. Er hatte aber
 
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