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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 4.1913-1914

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Nummer 176/177 (September 1913)
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Götz: Charles-Louis Philippe übersetzt
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Charles-Louis Philippe
übersetzt

I / Der Roman

wird (über den Vorwand psychologischer und so-
zialer Studien hinaus) begriffen, als Lebensaus-
druck eines Schöpfers (meint Wiederschöpfers),
der Erlebnisse bekennt und erkennt. Vielleicht ist
das Erlebnis die einzig greifbare Wahrheit; einem
Menschen typische Wahrheit, der bestimmt und
bestimmend auswählt, worin Schicksal und Ord-
nung lebt. Die Kunst erfüllt als Lebensleiden-
schaft, die „nahe bei Gott lebt“ seinen wahren
Charakter. Der Romanschriftsteller fordert eine
gemessene Welt, Geschichte, in der er (un-einsäm
beschauend) vorläufig und unverwandelt Ereig-
nisse zu Schicksalen austreibt und übertreibt, ein
Teleskopist im Sinne von Chesterton. Er bedarf
der Situation und der Gemeinschaft in der Zeit,
ein Antipode des Mystikers.

II / Der Stil

Philippes Stil ist nicht das Dekor einer
Schwäche, die Manier eines Spiels. Spontan und
meditierend, einfach und komplex wie seine Natur
ist sein Stil. Sein intuitiv erworbener Besitz hat
Recht und Glaube. Die Vernunft drängt sich
nicht den einzelnen Dingen auf und dazwischen.
Hier liegt der Zwang seiner Gestalten, die uns
nahe sind wie Verwandte, und die wir nicht
gleichgültig abwehren können. „Un cerveau c’est
bien pour connaitre les maladies, mais un cer-
veau et un coeur, cela suggere les miracles.“

III / Zu den Problemen

kam Philippe nicht von außen wie ein neugieriger
Bohemien oder ein herablassender Philantrop,
mühsam und belohnt, oder wie etwa Zola als ein
ferner, fühlender Beobachter und Wissenschaft-
ler. Man kann diese Psychologie Illusion, Lange-
weile und Eigen-sinn: Irrtum nennen, und darf
die Tragik Mancher nicht in die Dinge hinein zu
wissen, nicht mit einem Trick entschuldigen. —
Philippe wußte wie Liebende um das Geheimnis
und die Zusammenhänge, die Notwendigkeit und
die Wunder der Gemeinsamkeit.

Im Rhythmus des Erlebens greifen Erscheinung
und Gleichnis über- und ineinander.

Die zerstreute Teilung findet sich in der Ein-
heit, die Schematisierung verliert sich in der
Sammlung, die Beziehung hat die Ordnung.

IV / Seine Geschichte

ist aufgegangen in seiner Kunst. — Balzac hat in
den „Zerstörten Illusionen“ den Jüngling gezeich-
net, der lebenglühend, ideenerfüllt nach Paris
kommt, so kam auch Philippe, bepackt mit Ge-
dichten, die unter dem Einfluß von Mallarme und
Gleil standen. Sein Lebenskraft erlahmte durch
die Armut, seine Liebeskraft durch die Verach-
tung. Frühreif und enttäuscht zwingt sich seine
gütige und sinnliche Natur in sich hinein zur De-
mut. Zorn, Güte, Mitleiden, das ist sein Rhyth-
mus, seine Gegenwart. „Ich hatte nicht den Mut
an Liebe zu denken. Liebe ist schön für Men-
schen, die zu leben haben. Unsere zwanzig Jahre
sind umso bitterer, weil ihr (ihr Reichen) sie be-
sungen habt.“ — Aus der stumpfen Kanzleiatmo-
sphäre, die auf „Croquignole“ lastet und an Go-
gols „Mantel“ erinnert, aus der mühsam eroberten
Stellung flieht er immer wieder in das Asyl der
Kunst, wo er Lust und Kraft der Arbeit spürt,
sehnt er sich in die stille Provinzstadt zurück (In
der „kleinen Stadt“), zu der Ruhe, „die unsere
Herzen erwärmt und unsere Gedanken ausbrütet
wie Küchlein.“

V / „Armut

ist ein großer Glanz aus Innen.“ Rilke

Je mehr Welt, Schönheit, Genüsse der Dichter
weiß, desto weher ist die gewisse Last der Ar-
mut und des Unrechts, desto inniger die Ehrung
der Verlorenen, Verstoßenen, die still wie Dinge,
argwöhnisch wie Hüter, sanft wie Freunde sind.

Die Armen für die der Tod wie eine Schwan-
gerschaft, die sie sehr lange tragen, und die dann
geräuschlos sterben und für die das Leben Opfer
ist, als ob sie mehr ein Schicksal wären. Sie
stoßen nicht durch Enge, Heuchelei und Lüge;
einfach zurückgeworfen und verlassen sind sie ein-
ander Tröster, aus dem Bedürfnis einer großen
Liebe, die nicht handelt, so wie auch sie nur sind.
Doch sie sind wirklich, da Hingabe alles vertraut
und sicher weiß, da das Verlangen der Unendlich-
keit, das Leiden heißt, sich im Besitze auflöst und
erlöst. „Des Armen Haus ist wie ein Altarschrein.“
Rilke.

VI / „Pauvre, petite sainte!“

Die Dirne, die scheinbar Beute, wirklich Opfer
ist, gebiert sich aus der weiblichen Schwäche, die
gehören will und unterdrückt sein. Wir sind wie
Bettler, denn sie ist wohltätig, vertrauend, unbe-
irrt in ihrer Erhörung.

„Sie dämpft die Liebesgefühle ihrer Kunden,
weil sie darunter leidet.“ „In einer Welt, in der
die Nächstenliebe wenig gilt, denn die käufliche
Liebe ist einträglicher,“ gehören ihr die Routinier-
ten, die sie verwüsten wie ein Heer und wie der
Tod, die Zufluchtslosen, die sie wie eine Hoffnung
schüchtern umschleichen in diesem großen Wunsch
Paris. Paris, das Schauspiel, das groß tut und
laut antwortet, dessen anonyme Liebhaber
schwimmenden Auges in den Alleen flanieren, wo
die Begierde eitler Reichtum und lasterhafte Not
zusammenweht.

„Man muß die Frage nicht studieren. Ich weiß
geschlossenen Auges, daß die Armen Recht
haben.“ Philippe hat „Pere Perdrix“ und „Char-
les Blanchard“ gezeichnet.

Dostojewski konnte das Elend, das ins Dunkel
verschüttet wird, aufdecken. Tolstoi nannte es
Sünde, Armut zu vergessen. Philippe verzweifelt
nicht, daß die Guten zu schwach sind; er kennt
die Schwäche, die entsittlicht, aber er ist über den
Empörer und Empörten hinausgewachsen, der
streitet und zwingt und ohne Vertrauen ist und
Segen. Die Güte, die das eigene Wesen befruch-
tet und reift, verheißt Allen Sinn; sie ist Freiheit
und die große Liebe, weil sie wissend, antwortlos,
unerschöpflich, gänzlich ist.

VII ./ Philippe liebt Marie Donadieu, „dieses
äußerst intelligente, krankhaft verlogene Geschöpf,
eine Sentimentale die sich das Leben zu-
recht lügt; eine Hysterische, deren Sinne
wie Freibeuter irren um eine Illusion; die
wie schwache Männer einen Halt und Zwang
will. Einer, der erste Glücksschauer erfuhr, über-
wältigt ihre Macht, verwindet ihre Verführung,
einer der anders weiß, für das man seine Seele
verkauft, und der ein wenig müde war von dem
„toten Gewicht“, ein Kind und ein Erhabener. —
Philippe liebt Bertha Metenier, dieses gutmütige,
bescheidene, hin- und hergerissene Seelchen.
Einer gibt ihr ein wenig Vertrauen und Verwöh-
nung wie einer kleinen Frau, wie um sich einen
Freibrief für seine Tierheit zu erkaufen. Da hat
ihr Leben plötzlich den Geruch von Krankheit und
den Geschmack der Asche, sie vergißt, sie reinigt
sich; aber vielleicht war ihre Demut zu groß und
ihr Gehorsam zu schnell im Verzicht, wie hätte
sie sonst folgen müssen, als sie die rohen Hände
zurückholten? Die Wohltätigkeit ist machtlos für
die Gezeichneten, die Dulder, die Tiere. „Man

müßte mehr Kraft haben und nicht in der Gesell-
schaft leben, um Glück zu halten.“

Schreit nicht einer: Mord, moralischer Mord?
„Lorsque la Societe pervertit centaines ämes, on
sent qu’on est en presence d’un crime.“ Da ist
die Schuld Unser, die wir nicht retten können
(o Jugendgedanke!) weil wir diese nicht genug
lieben. Die Leidende ist in sich ausgestoßen und
abtrünnig; sie ist unterdrückt und völlig hinge-
geben, das ist ihre Gnade.

(Man denkt ein wenig an Villiers de l’Isle-
Adam, an J. V. Jensens „Louison“ Altenbergs
„Putain“, doch mehr an Hamsun.)

VIII / Bubu

ist ein wenig romantischer Apache, ein wenig sen-
sibler Zuhälter. Auch seine Hände zittern in
Angst und Qual, seine Augen sind hart und müde
vom Schicksal. Er begreift, daß die Leidenden
Narren und Ueberbürdete sind und hat doch in sei-
nem Schmerze Rechtfertigung und in seiner Liebe
Ausgleich. „Man ist nicht schlechter, weil das
Schicksal nicht für einen gesorgt hat.“ Die Rei-
chen, die Mächtigen bestimmen den Stand und die
Berufung, wir wählen nicht. Sie wollen Frauen
kaufen, denn alles hat einen Preis, darum muß es
Zutreiber und Verkäufer geben. Sie nehmen Ge-
winn und Streit ohne Reue und Scham auf sich,
wie einer der Bescheid weiß von seiner Notwen-
digkeit, der vornehm verächtlich und sorglos stark
tut, und „wie in seinem eigenen Besitze lustwan-
delt“, da er das Unrecht vergißt. Sie haben die
Wahl angenommen trotz Seuche und Zuchthaus.
Ihre Lebenskraft und Sicherheit ist ihr Erfolg und
ihre Ehre. Unsere neue Achtung ist die Energie.
— Die Schubfächer Gut und Böse, vertauscht,
herausgerissen und entleert, sind voll Kinderspiel-
zeug.

IX / Der Kritiker

ist ein wenig Liebender, so neugierig, staunend
und erlebend, aber verwöhnt und ungenügsam.
Erkennen heißt nicht anerkennen, loben nicht er-
füllt sein. Er ist ein wenig Schauspieler und Dra-
maturg, der in viele Rollen eingeht, und doch Zu-
schauer, der schließlich wie eine Kokette über-
wunden sein will. Er ist ein wenig Verräter, um
zu verkündigen, und wie ein Eingeweihter, der
eine Formel hat. — Der Gewinn der Seele ist die
Vervollkommnung ihrer Enthüllung. Die Gedan-
kenwelt will die vorgezogene Wahrheit, die den
Knäuel entwirrt. Der Wunsch ist fremd, Erleben
in Erkennen, Empfindung ins Wort zu bannen, und
ist voll Angst vor Verlust und Flucht vor Einsam-
keit.

„Une emotion nait — non eile est. Sa vie
mystique» est le besoin de se manifester. Le mani-
feste vaut l’emotion integralement.“ Andre Gide

Götz

Empfohlene Bücher

Die Schriftleitung behält sich Besprechung der hier
genannten Bücher vor. Die Aufführung bedeutet bereits
eine Empfehlung. Verleger erhalten hier nicht erwähnte
Bücher zurück, falls Rückporto beigefügt wurde.

Pierre Desclaux et Simone Brive

Les Encages / Piece en trois actes
Paris / Editions de „La Route“

Handbuch der Kunstwissenschaft
Herausgegeben von Dr. Fritz Burger / Soeben
erschienen: Lieferung 8: O. Wulff: Altchristliche
und byzantinische Kunst Heft 4
Berlin-Neubabelsberg / Akademische Verlags-
gesellschaft m. b. H. M. Koch

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