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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 4.1913-1914

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Nummer 192/193 (Erstes Januarheft)
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Kohl, Aage von: Der Weg durch die Nacht: Roman
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Tress, Josef: Mein Ursprung ist
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Reichenberger, Hugo: Der Kinematograf
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https://doi.org/10.11588/diglit.27574#0159

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haben, was noch von ihm übrig ist — dann erst
tut sie sich auf, dann öffnet sie ihre Brust ganz
weit, und dann kommt ihr richtiges Gesicht wie
aus einer Tür hervor — ihr eigenes, weinendes
Gesicht, sozusagen mit jedem Zug, der darin ist,
der Erde zugewendet!

Und wissen Sie auch warum?

Oder wissen Sie, warum wir alle zusammen
hier drinnen im voraus sagen können, daß das
Grab auch schon für sie bereit steht?

Ja, denn sein Tod, der ging auf folgende Weise
vor sich: Es war also ganz im Anfang des Früh-
lings — die ganze Geschichte stand damals in den
Zeitungen, Sie haben vielleicht auch davon ge-
hört — daß sie und er auf einem Spazierritt waren,
und da kommt da ganz einfach eines von diesen
Automobilen vorbeigejagt, sein Pferd, das scheut,
es springt zur Seite, er wird herunter geworfen,
hängt mit dem einen Fuß im Steigbügel fest, das
Tier stürzt, ganz kollerig vor Angst, weiter, und
die Frau mit schlaffen Zügeln hinterher, jedesmal,
wenn sein Kopf wie ein Ball in die Höhe springt,
stößt sie einen gräßlichen Schrei aus —- und jedes-
mal, wenn sie den Ton hört mit dem der Nacken
wieder auf einen Pflasterstein heruntergedonnert
wird, dann ist es ihr, als ob ihr Herz brechen
müsse!

Nicht wahr? Sie verstehen mich, mein Herr —:

Das ist wieder das Unglück, das ist all das
Gräßliche, das ruft! Haben wir nur ein einziges
Mal in das hineingestarrt, was man die blutige
Grausamkeit der Welt nennt — dann ist es, als
wenn wir nie wieder etwas anderes, als das
sehen könnten!

Und dieser Kirchhof hier ist gewiß nicht der
einzige in der Welt, wo es so zugeht — habe ich
mir erzählen lassen!

Da drüben, wo ich zuletzt war, da war es zur
Abwechslung ein Mann —: der hatte dagestanden
und mit leibhaftigen Augen mit ansehen müssen,
wie seine Frau verbrannte! Sie hatten ihn mit
Gewalt da draußen zurückhalten müssen, während
sie da drinnen im Feuer zu Tode versengt wurde
und so gottserbärmlich schrie: sie sagten, es wäre
gewesen, als wenn ihre Schreie sich geantwortet
hätten, seine und ihre, ganz so wie in dem Zoolo-
gischen Garten; ich kenne selbst Leute, die noch
am ganzen Leib zu zittern anfangen, wenn sie da-
von sprechen!

Und ähnlich soll es ja überall zugehen!

Wo Sie auch hinkommen, immer und überall,
ringsumher auf den großen Kirchhöfen ist wenig-
stens immer einer, der da herumgeht — und sozu-
sagen nur noch da hingehört!“

„Freilich,“ — erwiderte Morton mit einem
Ruck, als der andere schwieg.

Er hatte längst aufgehört, mit Bewußtsein dem
Wortstrom des Mannes zuzuhören.

Aber tief in sich empfand er es jetzt noch stär-
ker als vorhin, als wüchse irgendeine Frage in
ihm auf —: etwas, das ihm zugleich schwer auf
der Seele lag und ihn diese beiden Jahre heimlich
mehr und mehr bedrückt hatte — und doch etwas,
was ganz sinnlos war, etwas Oberflächliches und
Lächerliches, das nichts bedeutete — weder für
ihn noch für Sie!

Er spürte plötzlich die Hitze, die erdrückend
über seiner Brust lag, fühlte gleich darauf in sei-
nem Handgelenk den Puls mit kurzen, harten, un-
regelmäßigen Stößen hämmern, als habe er Fie-
ber vor Erwartung —:

„Es mag etwas daran sein, was Sie sagen!“ —
entgegnete er, und ohne zu wissen warum, wieder-
holte er grübelnd einen Satz, der noch in seinem
Ohr klang — „daß wir das Glück vergessen, uns

aber an das Unglück anklammern, als gäbe es
nichts weiter in der Welt als das!“

Sie standen einen Augenblick beide schweigend
da.

Von drüben aus der Richtung her, wo die Ka-
pelle lag, rot und massig mit ihrem bläulichen
Schieferdach und dem plumpen Sandsteinkreuz
auf dem Giebel — kam auf einmal ein leiser, küh-
lender Windhauch.

Die Luft ward jäh angefüllt von sonderbaren,
flüsternden Lauten, Blatt das sich gegen Blatt be-
wegte, das Wogen der Blumen zwischen ihrem
Laub. Aus der Erde schien plötzlich für einen
Augenblick sich der feuchte, blasse Atem all des
wimmelnden Lebens da unten bei den Toten zu
erheben. Fortsetzung folgt

Mein Ursprung ist . . .

Als Totenkopfschmetterling

Schwebe ich schwirrend, tiefen Blaus trunken,

Wo die Teppiche prangen im Brautgeschmeide.

Mein Ursprung ist im heiligsten Wald der Nacht.
Ich komme zu meinen Kindern, den blühenden

Blumenkelchen,

Die keuschen Stirnen im Kuss berührend,

Meine Fittiche hissen den schwarzen, sanften Sieg.
Ich will allen einen großen Frieden sagen.

Ich bin ein Engel der seidenwallenden Mutter.

Josef Tress

Der Kinematograf

H. Reichenberger

Zwischen den bunten Ufern der Volksfest-
budenstraße plätscherte der Fluß von Menschen.
Helle Blusen und Hüte kräuselten Schaum in seine
schwärzlichen Wellen. Um einen Wachmann
teilte und schloß sich der Strom und ein verlasse-
ner Kinderwagen trieb ruckweise mit.

Da leuchtete die Aufschrift

KINEMATOGRAF

Es waren schmerzlich spitze Buchstaben, be-
tupft von rötlichen, weh in den Tag brennenden
Glühlampen, heiße Angelhaken, die Augen und
Hirn stechend faßten und aus dem Strome
fischten.

Plakate knallten Farben von der Budenwand
in die Luft und vor einem Spiegel in krampfge-
wundenem Rahmen wackelte eine rote Pleureuse
über einer geschminkten Kassiererin.

Aus dem Zeltbauch war ein Hautstück her-
ausgespreizt und dahinter sah man die Dampf-
maschine arbeiten. Ein rothaariger Maschinist,
der einen Buckel wie ein Zebu hatte, griff ihr hie
und da in den Bauch und sie hustete Dampf aus
und strampelte mit dem Kolben auf die Kurbel,
eifrig und wichtigtuerisch, als müßte sie mit ihrem
Schwungrad etwas enorm Bedeutendes, wie viel-
leicht den schönen Lehrsatz von der Bewegungs-
energie oder so etwas Aehnliches erst erzeugen.

Der Zebuhöckrige warf ihr Fraß in das runde
Maul und schlug ihr dann den Deckel darauf und
sie fauchte gutmütig. Es war etwas charakte-
ristisch Männliches in ihrem Getue . . • wie sie
so emsig arbeitete, geschäftig und ein wenig be-
schränkt und selbstzufrieden

Am Riemen aber prasselte, die Dynamoma-
schine. Seltsam war die blaßgeäderte, fleischlich-
weißliche marmorne Schalttafel — wie der Leib
eines Weibes.

Ampere- und Voltameter sind wie Augen,
messingumrändert — starr, weit aufgerissen —
und über dem glotzenden Weiß dieser Augen flim-
mert ein schwarzer Punkt und zuckt in geheim-
nisvollen Erregungen.

Die ganze lafel zittert —- in. wahnwitziger
Wollust — die Maschine flagelliert sich qual-
lüstern am klatschenden Treibriemen — die nackte
Fläche mit ihren schamlos vorgereckten Organen
schauert im Lustfieber der Exhibition ihrer Nackt-
heit.

Da kommt der zebuhöckerige Maschinist und
greift nach dem Leib und seine rothaarige Hand
packt eines der Organe — brutal — da erstarrt
das Zittern — ein Augenblick atemloser entsetz-
licher Lust — dann schlägt es in den Augen in
wahnsinnigem Zucken weit aus und tobt auf und
ab; ein paar bläuliche Funken springen knisternd
auf an dem Hebel, an dem die rotborstige Hand
liegt.

In einer Vorschaltbirne glüht es an und aus —
wie ein plötzlich gereizter Zahnnerv — eine spira-
lige Wunde hat sich in die Luft gebrannt.

Dann verzittert der Krampf. Der Maschinist
spukt aus, hängt seinen Pfeifenkloben in die Zähne
und sieht der Maschine breit und grob in die
Augen . . . gleichmäßig glücklich bebt sie unter
der Peitsche des Riemens.

Wie seltsam, warum tat er es nicht? Ein Dre-
hen des Hebels, ein paar knisternde, grünbläßliche
Funken •— und alles wäre aus — dieses wunder-
same Leben abgewürgt, der Luststrom in diesen
Nerven erdrosselt, mit einem Druck, ein Druck —
es müßte unsagbar süßes Grausen sein. Alles aus,
das Leben, das an diesen Nerven drinnen im Zelt
zittert auf der hellen Leinwand, alles aus! Der
kleine Willi mitten in seinen Streichen, die Bahn-
räuber mit der vorgehaltenen Pistole, Onkel Pinki,
der freien geht, das Schiff gerade im Stapellauf,
alles aus! Dieses kleine und dumme Leben, das
in huschenden Formen zittert wie in Furcht und
in eiliger Flucht vor der Entdeckung, daß es gar
nicht ist, aus, plötzlich verschwunden, ins Umriß-
lose, in das wundersame Nichtsein! Ausgetilgt, tot
ohne Leichen von Dingen!

Warum tat er es nicht! War er zu blöd-gut-
mütig für solche Lust? Da träufelt er der dumm-
eifrigen Dampfmaschine Schmiere in die Gelenke
und schüttet ihr Wasser vor, das sie in schlapsen-
den Pumpenzügen säuft. Aus, alles aus, auch die
Orgel hätte ersticken müssen, weil ihr Motor
auch an der Dynamo hängt. Die Orgel, die ist es,
aus der dieses Seltsame steigt.

Wie durch Zähne saugt sie zwischen die spitzen
Pfeifen die Luft ein, die in ihrem Körper in wehen
Schmerzschreien zu Tönen verbrennt. Wie licht-
lose Flammen steigt dieses atemlose leiernde Jam-
mern auf und leckt an Hirn und Seele und brennt
davon Verstand und WUlen wie Einwickelpapier
ab. Die nacktgebrannte Seele hängt ohnmächtig an
diesem Bann. Wie die Marionetten am Orgelge-
häuse. Wie es dem buntlackierten Kapellmeister
ekstatisch Kopf und Augen reißt, wie der Tackt-
stockt hackt, tsin — tsin — tsin —■, in verrücktem
Krampfrythmus, in peinigendem Zwang. Eine
Enge spannt sich um die Seele. Aus abgründigen
Verließen des Bewußtseins saugen die Orgelbälge
rätselhafte Empfindungen. Wie seltsam ist die
Maske dort an der Zeltwand! Eine graue Fratze
in rohen breiten Strichen, gemalt um ein großes
schwarzes Mundloch herum mit glotzenden gräu-
lichen Augen!

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