Er empfand wieder diesen sonderbaren, blitz-
schnellen Wechsel da drinnen in sich: erst das
dumpfe und harte Klemmen wie von Mitleid —
und dann, fast in ebendemselben Nu, diese rätsel-
hafte Befreitheit, ach, eine heiße und süße Be-
ruhigung, eine beschwichtigende Vertröstung, die
seinem Herzen für eine Sekunde Frieden gab..,
bis aufs neue sein Ohr von diesem zitternden Ton
getroffen wurde, der oben über seinem Kopf in
der Luft hing, als werde er zusammen mit dem
erstickenden Wohlgeruch der Blumen hierher ge-
tragen — als-sei er der leise stöhnende Atemzug
des Friedhofes selber.
„Ich brauch ja nur an mich selbst zu denken,“
— fuhr der andere fort, beständig mit dieser ge-
dämpften, zugleich ehrerbietigen und Unterschied
aufhebenden Stimme — die Morton plötzlich wie
zu der Uniform des Mannes gehörend erschien —
„ich brauche ja bloß daran zu denken, wie es
mir erging — damals als ich meine Frau verlor!
Wir waren ja nur kleine Leute, die von der
Hand in den Mund lebten — und wir hatten jeden
Tag vollauf zu tun! Jung waren wir auch nicht
mehr (in einem Monat werden es gerade sieben
Jahre, seitdem sie von dannen ging!) und es konn-
ten insofern oft ganze Tage vergehen, wo wir
nicht dazu kamen, uns weiter was zu sagen, als
guten Morgen, wenn wir aufwachten und an un-
sere Arbeit mußten —. und gute Nacht, wenn wir
beide gegen Abend damit fertig waren und zur
Ruhe gehen wollten!
Unsere Kinder (wir hatten fünf!) waren auch
schon so weit erwachsen, daß sie alle aus dem
Nest geflogen waren, weit umher in die Welt
hinaus, und es ging ihnen auch allen gut! Na,
und endlich starb sie dann auch, so schön wie
ein Mensch es sich nur wünschen kann — in un-
serem eigenen Bett, und noch dazu mit Medizin
und Doktor und Pastor obendrein! Ich saß selbst
zuletzt bei ihr, es ging schon auf Mitternacht
und es kam mir auf einmal so vor, als wenn sie
so schwach Atem holte: Nu steht es wohl mau
mit dir, Mutter, sagte ich endlich, und darauf ant-
wortete sie nichts weiter, als daß ihre Hand sich
in meiner ein klein wenig bewegte . . . und als
ich gleich nachher meine Nase geschneuzt hatte,
mit Erlaubnis zu sagen, da konnte ich an ihrem
Blick, der so groß geworden, sehen, daß sie nun
heimgegangen war!
Einen so guten i'od hat ihr der liebe Qott
gegönnt!
Aber darum sind da ja heutigentags doch noch
Stunden — besonders wenn man so zur Winters-
zeit heimkommt und sich nicht recht entschließen
kann, weder Abendbrot zu machen, noch zu Bett
zu gehen oder aufzubleiben, weil einem das ganze
Haus sozusagen den Atem benimmt, wenn ich
den Ausdruck gebrauchen kann —: so leer und
still, so ganz mausestill ist es überall, ... na ja,
dann tut es mir doch jedesmal gut, wenn ich
denke, daß sie es nicht ist, die jeden Abend von
ihrer Arbeit nach Hause kommen muß und keine
Menschenseele da findet, nach einer dreiund-
zwanzigjährigen, langen Ehe!
Nein,“ — schloß er; er räusperte seinen Hals
sorgfältig und lachte dann auf einmal mit einem
leisen und kurzen Lachen —:
„Die Frauen, die leiden doch mehr darunter
—- wenn die Erde den gefordert hat, zu dem sie
sich in Zucht und Ehren gehalten haben . . .
und manchmal am Ende auch ohne das, mocht
ich glauben!
Ich weiß nicht, wie Sie darüber denken?“
„Freilich, freilich!“ — erwiderte Morton.
Er stützte sich schwerer als bisher auf seinen
Stock, fühlte sich allmählich müde, hörte nur
halbwegs zu — fand aber beständig ein unerklär-
liches Behagen an allem, was der andere sagte;
vielleicht ganz einfach, weil er dadurch von sei-
nen eigenen Gedanken abgehalten wurde . . .
möglicherweise aber auch, weil die zwecklosen
Worte des Aufsehers dieser sinnlosen Hoffnung
da drinnen gleichsam fortwährend Nahrung zu-
führten . . . oder war es, weil er ganz dunkel
empfand, daß die Rede des andern sich Schritt
für Schritt irgendeinem bestimmten und bedeu-
tungsvollen Punkt näherte -— und daß es sich nur
darum handelte, ihn ungestört zu lassen!
Einen Augenblick schwiegen sie beide.
Dann schob der Aufseher die rechte Hand
zwischen zwei von den Knöpfen seines Rockes,
strich sich langsam über den dicken, weißen
Schnurrbart, wandte sich darauf mit Höflichkeit
wieder ganz dem andern zu und fuhr fort, mit ver-
traulicher und gewichtiger Stimme —:
„Na, das ist ja, wie schon gesagt, bloß so aus-
nahmsweise mal, daß man sich solchen betrüb-
lichen Gedanken hingibt!
Und das ist wohl auch unseres lieben Gottes
Absicht, das!
Aber ein Mann, den ich kenne, sagte doch vor
ein paar Jahren zu mir —: jetzt wäre bald die
Zeit der Kirchhöfe vorbei; jetzt sollten wir alle
aus Gesundheitsrücksichten verbrannt werden,
jeder ohne Ausnahme; und das wäre gut, fuhr er
fort; denn all dies hier mit den Gräbern und den
Predigern und den Blumen, das wäre nichts für
moderne Mannsleute! Weg mit den Toten, wenn
sie nun doch mal tot sind — sagte er.
Und natürlich weiß man ja nicht, auf was für
neumodische Sachen sie heutzutage verfallen kön-
nen. Aber die Weisheit — die kann man sich wahr-
haftig nirgends anderswo holen als hier! Glauben
Sie mir —: Es geht einem Tag für Tag ’ne ganze
Menge durch den Kopf. Wir sehen, glauben Sie
mir, das eine als auch das andere: welche, die mit
dem einen Auge weinen und mit dem andern
lachen, während ihre lieben Anverwandten mit
Gesang und feinen Seidenschleifen in die Erde ge-
legt werden; welche, die sich die erste Woche
oder auch zwei das Leben aus dem Leibe klagen
wollen — und dann nachher kann das Grab für
sich selbst sorgen; welche, die jeden Abend stun-
denlang mit Schaufel und Harke hier herum gehen
und noch so nett nussein und pusseln, sogar noch,
wenn sie sich schon längst wieder verheiratet und
lang aufgeschossene Göhren von einer andern ge-
kriegt haben; und welche endlich, die einmal im
Jahr ganz atemlos angestürzt kommen und einen
Kranz hinlegen und jedesmal erst fragen müssen:
Ach, wollen Sie nicht so gut sein und mir zeigen
wo eigentlich meine Frau oder mein Mann, oder
meine Eltern liegen!
Aber so sind ja die Menschen nu mal — und
das nenn’ ich nicht Weisheit; denn das kann ia
jedes Kind einsehen!
Aber Sie können sich darauf verlassen —:
Daß man nach und nach einsehen lernt, was für
’ne schnurrige Welt es ist, in der wir leben!
Wenn man so jahrelang jeden Tag, den Gott
werden läßt, von morgens bis abends hier herum-
geht — und Kies Kies sein läßt und Blumen wach-
sen läßt, wie sie wollen, und Sommer und Winter
geht dahin; wenn man ganz ruhig ein Gesicht nach
dem andern, zu Dutzenden, zu Hunderten, zu Tau-
senden an sich vorbeiziehen läßt, ohne sich weiter
bei dem einzelnen aufzuhalten! Wenn man sozu-
sagen das Auge ein klein bißchen aufmacht und
so von der Seite hinsieht und ringsumher und hin-
ein und dahinter —:
Sehen Sie, dann versteht man ja schließlich
ganz von selbst, was für merkwürdige Käuze wir
alle zusammen sind —daß wir das Glück, weiß
Gott, im selben Augenblick vergessen, wo es vor-
bei ist . . . aber an das Unglück, an das klammern
wir uns mit Händen und Füßen, als wenn es nichts
weiter auf der Welt gäbe, was taugte! als sollte
man glauben, je schlimmer, um so besser und je
grausamer, um so feiner! Und selbst wenn allmäh-
lich die, die das Unglück getroffen hat, längst tot
und dahin sind — dann bewahren wir auf alle Fälle
die Erinnerung an sie solange wie möglich, wir
sehen sie jede Nacht in weißen Gewändern und
den Kopf unter dem Arm dahin gehen, es ist keine
Rede davon, daß wir sie in Frieden lassen kön-
nen! —
Und wenn Sie mir nun doch nicht glauben wol-
len — dann bilden Sie sich am Ende ein, daß das
kleine Mädchen, von dem ich Ihnen vorhin er-
zählte, die Tochter von der Gräfin, daß das so ein
reizendes Kind gewesen wäre, so hübsch und
fröhlich und munter — aber nein, da irren Sie ge-
waltig, denn sie war gerade das Gegenteil; ein
kleines, schwächliches Wesen, ein Jammerlappen
war sie — das habe ich selbst von dem Diener
des Grafen gehört, so ein kleines, elendes Wurm,
kreideweiß und mit kleinen, verkrüppelten Beine-
kens! Ihre Mutter hatte nie Ruhe und Frieden ge-
habt, sie konnte geradezu nichts weiter tun, als
Tag und Nacht dastehen und das Leben Stück für
Stück in ihr aufrecht halten, so gut es ging! —
Oder zum Beispiel die Dame da!“ — fuhr er
fort, diesmal flüsternd, mit einem leisen Kopf-
nicken nach der Richtung hin, aus der das Weinen
noch immer kam — unverändert, weder gedämpf-
ter, noch lauter, unaufhörlich, zitternd, fein und
zart durch die heiße Luft hindurch, ein Laut, der
meilenweit gewandert zu sein schien, unendlich
weit dahin, ohne Aufenthalt — jetzt war er im
Begriff, ermattet umzusinken, sich todmüde aufzu-
lösen, in einem letzten, langgezogenen Seufzer zu
vergehen —:
„Ich hätte, ohne das geringste davon gehört
zu haben, Ihnen sehr gut so ungefähr im voraus
erzählen können, was da los ist!
Den Namen weiß ich übrigens auch — wenn
man ja auch nicht das Recht hat, ihn zu verraten!
Bei ihr war es ja nun der Mann, der davon
mußte — und jetzt kommt sie jeden Tag. Ich
selbst habe sie natürlich nur die paar Wochen ge-
sehen, die ich hier gewesen bin, aber die andern
haben mir von ihr erzählt: Sie kommt jeden Tag
hierher, den Gott werden läßt, seit der Zeit, vor
drei, vier Monaten, so im Anfang des Frühlings,
als sie ihn hier hingelegt haben — und jeden Abend
steht sie so ganz für sich hier, Kinder hatten sie ja
nicht, stundenlang steht sie hier jeden Tag, ohne
zu ahnen wo sie ist: als gäbe es keinen andern
Menschen in der Welt — so steht sie da und weint,
ohne aufhalten zu können!
Ich kann sie mir geradezu vorstellen zu Hause,
da, wo sie wohnt — mag es nun bei ihren eigenen
Eltern sein oder bei seinen, oder vielleicht wohnt
sie auch allein: wie sie so die ganzen Tage hin-
durch herumgeht und bloß aufpaßt, daß sie nicht
bange werden, daß sie nicht Unrat ahnen und sie
verhindern, hierher zu kommen — und darum klagt
sie da auch nie, die andern glauben wohl eigent-
lich, daß sie schon anfängt zu vergessen, daß alles
so geht, wie es soll, sie finden bloß, daß sie allmäh-
lich ein wenig mager geworden ist; aber sie nickt
doch so freundlich und sagt ja zu allem, was sie
sagen und tun; sie näht und stickt oder kocht
Essen, verrichtet ihre Arbeit, wie es sich gehört
— begreiflicherweise ohne das geringste davon zu
ahnen . . . und erst des Nachmittags, wenn sie sich
wegstehlen kann, wenn es ihr gelungen ist, sich
hier hinauszuschleichen, wo sie zusammengetragen
iss
schnellen Wechsel da drinnen in sich: erst das
dumpfe und harte Klemmen wie von Mitleid —
und dann, fast in ebendemselben Nu, diese rätsel-
hafte Befreitheit, ach, eine heiße und süße Be-
ruhigung, eine beschwichtigende Vertröstung, die
seinem Herzen für eine Sekunde Frieden gab..,
bis aufs neue sein Ohr von diesem zitternden Ton
getroffen wurde, der oben über seinem Kopf in
der Luft hing, als werde er zusammen mit dem
erstickenden Wohlgeruch der Blumen hierher ge-
tragen — als-sei er der leise stöhnende Atemzug
des Friedhofes selber.
„Ich brauch ja nur an mich selbst zu denken,“
— fuhr der andere fort, beständig mit dieser ge-
dämpften, zugleich ehrerbietigen und Unterschied
aufhebenden Stimme — die Morton plötzlich wie
zu der Uniform des Mannes gehörend erschien —
„ich brauche ja bloß daran zu denken, wie es
mir erging — damals als ich meine Frau verlor!
Wir waren ja nur kleine Leute, die von der
Hand in den Mund lebten — und wir hatten jeden
Tag vollauf zu tun! Jung waren wir auch nicht
mehr (in einem Monat werden es gerade sieben
Jahre, seitdem sie von dannen ging!) und es konn-
ten insofern oft ganze Tage vergehen, wo wir
nicht dazu kamen, uns weiter was zu sagen, als
guten Morgen, wenn wir aufwachten und an un-
sere Arbeit mußten —. und gute Nacht, wenn wir
beide gegen Abend damit fertig waren und zur
Ruhe gehen wollten!
Unsere Kinder (wir hatten fünf!) waren auch
schon so weit erwachsen, daß sie alle aus dem
Nest geflogen waren, weit umher in die Welt
hinaus, und es ging ihnen auch allen gut! Na,
und endlich starb sie dann auch, so schön wie
ein Mensch es sich nur wünschen kann — in un-
serem eigenen Bett, und noch dazu mit Medizin
und Doktor und Pastor obendrein! Ich saß selbst
zuletzt bei ihr, es ging schon auf Mitternacht
und es kam mir auf einmal so vor, als wenn sie
so schwach Atem holte: Nu steht es wohl mau
mit dir, Mutter, sagte ich endlich, und darauf ant-
wortete sie nichts weiter, als daß ihre Hand sich
in meiner ein klein wenig bewegte . . . und als
ich gleich nachher meine Nase geschneuzt hatte,
mit Erlaubnis zu sagen, da konnte ich an ihrem
Blick, der so groß geworden, sehen, daß sie nun
heimgegangen war!
Einen so guten i'od hat ihr der liebe Qott
gegönnt!
Aber darum sind da ja heutigentags doch noch
Stunden — besonders wenn man so zur Winters-
zeit heimkommt und sich nicht recht entschließen
kann, weder Abendbrot zu machen, noch zu Bett
zu gehen oder aufzubleiben, weil einem das ganze
Haus sozusagen den Atem benimmt, wenn ich
den Ausdruck gebrauchen kann —: so leer und
still, so ganz mausestill ist es überall, ... na ja,
dann tut es mir doch jedesmal gut, wenn ich
denke, daß sie es nicht ist, die jeden Abend von
ihrer Arbeit nach Hause kommen muß und keine
Menschenseele da findet, nach einer dreiund-
zwanzigjährigen, langen Ehe!
Nein,“ — schloß er; er räusperte seinen Hals
sorgfältig und lachte dann auf einmal mit einem
leisen und kurzen Lachen —:
„Die Frauen, die leiden doch mehr darunter
—- wenn die Erde den gefordert hat, zu dem sie
sich in Zucht und Ehren gehalten haben . . .
und manchmal am Ende auch ohne das, mocht
ich glauben!
Ich weiß nicht, wie Sie darüber denken?“
„Freilich, freilich!“ — erwiderte Morton.
Er stützte sich schwerer als bisher auf seinen
Stock, fühlte sich allmählich müde, hörte nur
halbwegs zu — fand aber beständig ein unerklär-
liches Behagen an allem, was der andere sagte;
vielleicht ganz einfach, weil er dadurch von sei-
nen eigenen Gedanken abgehalten wurde . . .
möglicherweise aber auch, weil die zwecklosen
Worte des Aufsehers dieser sinnlosen Hoffnung
da drinnen gleichsam fortwährend Nahrung zu-
führten . . . oder war es, weil er ganz dunkel
empfand, daß die Rede des andern sich Schritt
für Schritt irgendeinem bestimmten und bedeu-
tungsvollen Punkt näherte -— und daß es sich nur
darum handelte, ihn ungestört zu lassen!
Einen Augenblick schwiegen sie beide.
Dann schob der Aufseher die rechte Hand
zwischen zwei von den Knöpfen seines Rockes,
strich sich langsam über den dicken, weißen
Schnurrbart, wandte sich darauf mit Höflichkeit
wieder ganz dem andern zu und fuhr fort, mit ver-
traulicher und gewichtiger Stimme —:
„Na, das ist ja, wie schon gesagt, bloß so aus-
nahmsweise mal, daß man sich solchen betrüb-
lichen Gedanken hingibt!
Und das ist wohl auch unseres lieben Gottes
Absicht, das!
Aber ein Mann, den ich kenne, sagte doch vor
ein paar Jahren zu mir —: jetzt wäre bald die
Zeit der Kirchhöfe vorbei; jetzt sollten wir alle
aus Gesundheitsrücksichten verbrannt werden,
jeder ohne Ausnahme; und das wäre gut, fuhr er
fort; denn all dies hier mit den Gräbern und den
Predigern und den Blumen, das wäre nichts für
moderne Mannsleute! Weg mit den Toten, wenn
sie nun doch mal tot sind — sagte er.
Und natürlich weiß man ja nicht, auf was für
neumodische Sachen sie heutzutage verfallen kön-
nen. Aber die Weisheit — die kann man sich wahr-
haftig nirgends anderswo holen als hier! Glauben
Sie mir —: Es geht einem Tag für Tag ’ne ganze
Menge durch den Kopf. Wir sehen, glauben Sie
mir, das eine als auch das andere: welche, die mit
dem einen Auge weinen und mit dem andern
lachen, während ihre lieben Anverwandten mit
Gesang und feinen Seidenschleifen in die Erde ge-
legt werden; welche, die sich die erste Woche
oder auch zwei das Leben aus dem Leibe klagen
wollen — und dann nachher kann das Grab für
sich selbst sorgen; welche, die jeden Abend stun-
denlang mit Schaufel und Harke hier herum gehen
und noch so nett nussein und pusseln, sogar noch,
wenn sie sich schon längst wieder verheiratet und
lang aufgeschossene Göhren von einer andern ge-
kriegt haben; und welche endlich, die einmal im
Jahr ganz atemlos angestürzt kommen und einen
Kranz hinlegen und jedesmal erst fragen müssen:
Ach, wollen Sie nicht so gut sein und mir zeigen
wo eigentlich meine Frau oder mein Mann, oder
meine Eltern liegen!
Aber so sind ja die Menschen nu mal — und
das nenn’ ich nicht Weisheit; denn das kann ia
jedes Kind einsehen!
Aber Sie können sich darauf verlassen —:
Daß man nach und nach einsehen lernt, was für
’ne schnurrige Welt es ist, in der wir leben!
Wenn man so jahrelang jeden Tag, den Gott
werden läßt, von morgens bis abends hier herum-
geht — und Kies Kies sein läßt und Blumen wach-
sen läßt, wie sie wollen, und Sommer und Winter
geht dahin; wenn man ganz ruhig ein Gesicht nach
dem andern, zu Dutzenden, zu Hunderten, zu Tau-
senden an sich vorbeiziehen läßt, ohne sich weiter
bei dem einzelnen aufzuhalten! Wenn man sozu-
sagen das Auge ein klein bißchen aufmacht und
so von der Seite hinsieht und ringsumher und hin-
ein und dahinter —:
Sehen Sie, dann versteht man ja schließlich
ganz von selbst, was für merkwürdige Käuze wir
alle zusammen sind —daß wir das Glück, weiß
Gott, im selben Augenblick vergessen, wo es vor-
bei ist . . . aber an das Unglück, an das klammern
wir uns mit Händen und Füßen, als wenn es nichts
weiter auf der Welt gäbe, was taugte! als sollte
man glauben, je schlimmer, um so besser und je
grausamer, um so feiner! Und selbst wenn allmäh-
lich die, die das Unglück getroffen hat, längst tot
und dahin sind — dann bewahren wir auf alle Fälle
die Erinnerung an sie solange wie möglich, wir
sehen sie jede Nacht in weißen Gewändern und
den Kopf unter dem Arm dahin gehen, es ist keine
Rede davon, daß wir sie in Frieden lassen kön-
nen! —
Und wenn Sie mir nun doch nicht glauben wol-
len — dann bilden Sie sich am Ende ein, daß das
kleine Mädchen, von dem ich Ihnen vorhin er-
zählte, die Tochter von der Gräfin, daß das so ein
reizendes Kind gewesen wäre, so hübsch und
fröhlich und munter — aber nein, da irren Sie ge-
waltig, denn sie war gerade das Gegenteil; ein
kleines, schwächliches Wesen, ein Jammerlappen
war sie — das habe ich selbst von dem Diener
des Grafen gehört, so ein kleines, elendes Wurm,
kreideweiß und mit kleinen, verkrüppelten Beine-
kens! Ihre Mutter hatte nie Ruhe und Frieden ge-
habt, sie konnte geradezu nichts weiter tun, als
Tag und Nacht dastehen und das Leben Stück für
Stück in ihr aufrecht halten, so gut es ging! —
Oder zum Beispiel die Dame da!“ — fuhr er
fort, diesmal flüsternd, mit einem leisen Kopf-
nicken nach der Richtung hin, aus der das Weinen
noch immer kam — unverändert, weder gedämpf-
ter, noch lauter, unaufhörlich, zitternd, fein und
zart durch die heiße Luft hindurch, ein Laut, der
meilenweit gewandert zu sein schien, unendlich
weit dahin, ohne Aufenthalt — jetzt war er im
Begriff, ermattet umzusinken, sich todmüde aufzu-
lösen, in einem letzten, langgezogenen Seufzer zu
vergehen —:
„Ich hätte, ohne das geringste davon gehört
zu haben, Ihnen sehr gut so ungefähr im voraus
erzählen können, was da los ist!
Den Namen weiß ich übrigens auch — wenn
man ja auch nicht das Recht hat, ihn zu verraten!
Bei ihr war es ja nun der Mann, der davon
mußte — und jetzt kommt sie jeden Tag. Ich
selbst habe sie natürlich nur die paar Wochen ge-
sehen, die ich hier gewesen bin, aber die andern
haben mir von ihr erzählt: Sie kommt jeden Tag
hierher, den Gott werden läßt, seit der Zeit, vor
drei, vier Monaten, so im Anfang des Frühlings,
als sie ihn hier hingelegt haben — und jeden Abend
steht sie so ganz für sich hier, Kinder hatten sie ja
nicht, stundenlang steht sie hier jeden Tag, ohne
zu ahnen wo sie ist: als gäbe es keinen andern
Menschen in der Welt — so steht sie da und weint,
ohne aufhalten zu können!
Ich kann sie mir geradezu vorstellen zu Hause,
da, wo sie wohnt — mag es nun bei ihren eigenen
Eltern sein oder bei seinen, oder vielleicht wohnt
sie auch allein: wie sie so die ganzen Tage hin-
durch herumgeht und bloß aufpaßt, daß sie nicht
bange werden, daß sie nicht Unrat ahnen und sie
verhindern, hierher zu kommen — und darum klagt
sie da auch nie, die andern glauben wohl eigent-
lich, daß sie schon anfängt zu vergessen, daß alles
so geht, wie es soll, sie finden bloß, daß sie allmäh-
lich ein wenig mager geworden ist; aber sie nickt
doch so freundlich und sagt ja zu allem, was sie
sagen und tun; sie näht und stickt oder kocht
Essen, verrichtet ihre Arbeit, wie es sich gehört
— begreiflicherweise ohne das geringste davon zu
ahnen . . . und erst des Nachmittags, wenn sie sich
wegstehlen kann, wenn es ihr gelungen ist, sich
hier hinauszuschleichen, wo sie zusammengetragen
iss