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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 4.1913-1914

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Nummer 192/193 (Erstes Januarheft)
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Reichenberger, Hugo: Der Kinematograf
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Ehrenstein, Albert: Eisenbach
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Babillotte, Arthur: Die Schwermut des Genießers, [17]
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https://doi.org/10.11588/diglit.27574#0160

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Da steigt, langsam, wie heraufgezogen aus
tiefen Brunnenschächten, die Erkenntnis auf: Gott,
so ist Gott! das ist Gott! diese Maske dort! Ein
Fratzenantlitz, leer, grau, gemalt um ein Loch
herum. Eine häßliche Fratze mit leeren stieren
Augen. Siehe wie diese Augen glotzen in das
zitternde Leben da unten in der Budenstraße. Ein
plätschernder Menschenfluß mit weißem Gekräu-
sel, ein Wachmann, ein Kinderwagen, das ganze
Budenwerk und Gewinkel über den flirrenden
Plan des Volksfestes hin bis hinüber zu der Wind-
mühle, die schwerfällig in die Luft fuchtelt wie ein
unverstandener Dichter, die ganze Stadt, alles,
ist ja nur eine phantastische, verrückte Projektion,
ein Spiel für diese grauen Augen. Ein bleiches
Gottesantlitz starrt, in gräßlicher unheimlicher Lust
am Nichthandeln, in dieses kleine, dumme Leben,
das da in huschenden Formen zittert wie in Furcht
und in eiliger Flucht vor der Entdeckung, daß es
gar nicht wirklich i s t. Ein Schein, hereingefilmt
in die blaue Zeltbude, ein buntes Flimmerspiel von
Narren und Leidenden für einen gafflüsternen
Gott!

Im Irgendwo, hinter der Sonnenbrennlinse, sur-
ren die Motore. Ungeschlachte Kräfte sind am
Werk und tausendfältige wundersame. Welch un-
geheurer Apparat, welche Aufmachung für den
seit Jahrtausenden geleierten Schlager! Welcher
bucklige Maschinist steht an der Schalttafel der
Dynamo, die dieses Leben erregt? Ein Hebel-
druck und alles wäre aus, verschwunden in das
Umrißlose, in das süße Reich des Nicht — seins —
verschwunden, tot ohne Leichen von Dingen,
warum tut er es nicht? warum?

Jetzt, jetzt, der Maschinist geht zum Schalt-
brett, ah, die rote Hand hat einen Hebel im Ge-
nick, jetzt.

Da — tschrrr —• ein Licht kreischt auf, wie ein
Gelächter.

Ein silbern-bronziertere Engel hat die Bogen-
lampe in der Hand aus der breites Licht auf das
Fratzenbild klatscht.

... Ah — der Erzengel Michael! MICHAEL!
WER IST WIE GOTT?

Da gluckste es in der Orgel- ... ein Stück war
abgelaufen, stotternd hob ein neues an. Das riß
eine Lücke in den Bann und durch diese Lücke
stieß es sich herein: Wie lächerlich! He! Kino,

Kino! Gott ist kein Kopromane!

Eisenbaeh

Ein gleichgültiges Varietelokal. Spießer essen
zu den Klängen des Marsches „Franz Freiherr
Conrad von Hötzendorf.“ Man denkt einen Augen-
blick daran, daß Oesterreich während des Balkan-
wirbels nur von Auffenberg nach Hötzendorf vor-
rückte — aber Heinrich Eisenbach hilft „nach wie
vor“ den Besitzstand wahren. In Wien, wo sich
die auf das alte Burgtheater folgenden siebzig
magern Jahre in den Herren Gerasch und Höbliug
inkarniert haben, inmitten der zahllosen Unterkom-
pensationen ehemals vorhandener Begabungen,
zwischen dem Klitsch und Kitsch, im Klatsch und
Quatsch dieser herrlich versinkenden Stadt, wirkt
als Protest gegen zäh gesprochene Burgtheater-
jamben und als Echo des schlecht assimilierten
Jargons der Premierenbesucher Heinrich
Eisenbach. Er würde natürlich sofort behaup-
ten, er wirke nicht, er sei doch kein Strumpfwir-
ker. Aber zwischen den Hunderten Gänslereige-
hilfert, czechischen Hausmeistern, Schlossern, Ar-

tisten, Infanteristen, alten Provinzjuden und zwi-
schen Leopoldstädter Gewerbetreibenden, die in
ihm stecken, ist gewiß auch ein bürgerlicher
Strumpfwirkermeister in Eisenbach verborgen.
Nun, verwandlungsfähig, polymorph scheint leicht
ein Schauspieler dem naiven Publikum, und be-
schränke er sich auch bloß auf ein ödes Masken-
künstlertum. Eisenbach aber, den in Wien die Kri-
tiker totschweigen, damit auch die Varieteinsera-
tenagenten was zum Leben haben, Eisenbach
wirkt immer plastisch, erstarrt sofort in der jeweils
angenommenen Form, ist jetzt jeden Zoll ein Hau-
sierer, nicht ohne in fünf Minuten als intensiv böh-
mischer Feuerwehrhauptmann zu versteinern. Der
Naturforschertag ließ sich diesen Proteus entgehen,
da stellte sich Eisenbach selbst aus freien Stücken
in den Dienst der Wissenschaft, er spielte das
Wunder des Heiligen Darwin, ward rückfällig,
kraft einer unerhörten Mimik des Körpers wan-
delte sich seine Haut atavistisch in Pelz, er glitt
selbstbewußt und wankend mit einem Affengebiß
durchs Zimmer.

Kein morbider Rest ist in der gesund gestalten-
den Kraft Eisenbachs nachweisbar. Und doch
macht gerade er uns das Verzauberte, Verwun-
schene, Irreale, Imaginäre aller Existenzen fühl-
bar. Wenn er der von höher wohnenden Mächten
besudelte Hausmeister ist, fühlt man über alle tiefe
Komik hinweg, alles irdische Leben ist unwahr,
es k a n n keinen so sehr ins Tiertum, in eine arm-
selige Latrinenexistenz verstoßenen Menschen ge-
ben, wie es dieser verwunschene Hausmeister
ist, den Eisenbach so unheimlich realisiert. In jeder
seiner Inkarnationen, in den bald launisch-frechen,
bald mitleiderregend-labilen Fleischwerdungen die-
ses jüdischen Mahadöh spukt unerachtet aller em-
pirischen Wahrheit etwas Geisterhaftes und über-
trägt sich auf den nervös die plumpen und lange
nicht so dynamisch gemeinen Derbheiten und
Obszönitäten der Eisenbachkomparserie ableh-
nenden Zuschauer. Sowie sich eines dieser schau-
spielerisch gewiß, stimmlich keineswegs begabten
Wesen regt, möchte man auffahren bis an die
Decke, geisterhaft verdampfen und erst wieder
zurückkehren, wenn Eisenbach die Bühne betritt.
Unter allen Schauspielern dieses Sekulums, das
sich längst in zahllose Herrn namens Sekules ver-
wandelt hat, spielt er diesen am besten. Hein-
rich Eisenbach spuckt viel besser
als die meisten Wiener Schauspie-
ler sprechen. Dieser Eisenbach ist in dem
begabungs- und blutarmen Wien ein starkes Levi-
cowasser, eine Nährquelle. Und obwohl die Nach-
welt dem Mimen sonst keine Kränze flicht, dieser
Orpheus des Budapester Orpheums vermöchte
den Totenrichter gewiß auch dazu zu bewegen.
Er brauchte ihm nur einen einzigen Witz zu er-
zählen und „der Herr kaiserliche Rat“ wäre vor
Lachlust wehrlos.

Albert Ehrenstein

Die Schwermut des
Genießers

Artur Babilotte

Aus Mia Miranas Tagebuch

4. November 1903

Der Traum ist aus. Wir haben den Mut ge-
habt, selbst ein Ende zu machen, O Geliebter,
ich fühle noch deine weichen weißen Hände auf
der Haut meines Leibes. Ich höre noch deine
süße Stimme , . , Deine Stimme war so müd und

klagend. Es war still in uns, als wir uns zum
letztenmale küßten. Wie liebe ich deine Schwer-
mut! Sie ist deine Seele. Der Traum ist aus;
wir gehen einsam unsere Wege. — Welch ein
verachtetes Wesen bin ich! Aber welch ein an-
gebetetes Weib will ich in wenigen Jahren sein!
Deine Liebe und unser Mut zur Entsagung —
sie werden mir Kraft verleihen. Welch ein frohes
starkes Lachen hebt in mir an . . . ich möchte
die Arme breiten. Wie will ich arbeiten, um das
zu werden, wozu ich die Kräfte in mir fühle!

12 Uhr. Zum erstenmal muß ich heute einschla-
fen ohne das süße Bewußtsein deiner Nähe. Du
bist immer bei mir, auch wenn du sehr fern von
mir weilst.

20. Mai 1904

Heute hat er Geburtstag.

Und ich bin nicht bei ihm. Auch er hat dies
Gefühl — oder seine Liebe müßte kleiner sein,
als die meine. O Geliebter, meine Liebe ist so
groß, daß sie mein ganzes Leben füllen wird.

Der erste Geburtstag, den wir zusammen-
feierten, war auch der letzte. Du Lieber . , .,
damals kannt ich dich erst wenige Tage; schüch-
tern und fast verängstigt saß ich bei dir, und du
hieltest meine Hände und streicheltest sie.

„Du Glückliche, die du mich gerettet hast,“
sagtest du. Wie klagend war deine Stimme, auch
wenn sie Fröhliches sagte.

Und ich sah dich nur immer an und war be-
seligt ohne Maß. Ich verging in dir, du nahmst
mich auf und alles war schön, rein und zart . . .

11. Spetember 1904

Am Morgen war ich bei Direktor Scherff. Er
hat mich „entdeckt“. Er staunt über meine
Stimme . . . Ich fühle mich seltsam ruhig; es
ist eine große glückliche Stille in mir. Ist es
nicht ein Zufall, dem ich dankbar sein muß? Mor-
gen soll ich wiederkommen . . . der Direktor will
mir Vorschläge machen. Johannes, wenn es,
wenn es doch möglich wäre . . .!

23. Auguste 1905

Wie lange ist es schon, seit ich zum letzten-
mal seine Lippen küßte! Ich glaube, nie hätte
ich die Kraft besessen, mich emporzuarbeiten,
wenn nicht dieser süße Schmerz in mir säße
und mich ewig friedlos sein ließe. Ich will, wie
er, würdig werden der Kunst.

5. Januar 1906

Ich bin müde . . . und doch, meine Kraft ist
unerschöpflich. Heute trat ich zum erstenmal als
Carmen auf. Ich wirkte wie ein Dämon, ich
lähmte. Welch eine Macht besitze ich! Ich war
Carmen, ich war ein schönes Raubtier. Bin ich
nicht gefährlich, da ich ganz versinke und .mich
selbst nicht mehr kenne?

20. Februar 1906

Von Tag zu Tag wächst meine Furcht vor der
Großstadt. Ich hasse dieses Ungeheuer! Immer
hat man das Gefühl, von Feinden umlagert zu
sein. Diese Millionenstadt ist mitleidlos. Selbst
wenn sie vergöttert. Ich bin unzufrieden mit den
Menschen, am meisten aber mit mir selbst.

1. September 1908

Jetzt bin ich auch in Leipzig durchgedrungen.
Auch hier erstarren die Menschen vor meinem
Spiel. Ich erkenne immer deutlicher, daß die
Menschen zu naiv sind, um ein Kunstwerk zu
genießen, und doch nicht naiv genug, um sich ihm
hinzugeben. Der Glaube fehlt ihnen. Aber ich

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