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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 4.1913-1914

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Nummer 176/177 (September 1913)
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Scher, Peter: Das Bad der Pauline Borghese
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Babillotte, Arthur: Die Schwermut des Genießers, [10]: Roman
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https://doi.org/10.11588/diglit.27574#0097

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„Herzog!?“ sagt sie leise, legt beide Hände
über ihr Gesicht und schweigt in seligem Er-
röten.

Tullia Servante schlägt ein Kreuz.

„Pauline?!“ flüstert Gina atemlos.

Die Fürstin öffnet langsam die Augen, wirft ihr
offenes Haar mit einem jähen Ruck gegen die
Freundinnen herum und die Damen schleichen auf
Zehen hinter die Portiere eines Nebenkabinetts.

Pauline winkt dem Mohren. Timur schnauft,
krümmt sich, geht.

Der Marmor und die weißen Bärenfelle
leuchten.

Die Schwermut des
Genießers

Roman

Von Artur Babillotte

Fortsetzung

Jörg Martin wunderte sich über die plötzliche
Schweigsamkeit des Künstlers. Mißtrauen schloß
ihm die Lippen. Dieser vornehme Mann an seiner
Seite, den langweilten jetzt seine Worte, wie sie
ihn vorher gefesselt hatten . . . alle vornehmen
Leute hatten ihre Launen. Auch das Mädchen
schwieg. Wie sie sich am Nachmittag der klin-
genden Stimme des Geliebten hingegeben hatte, in
einem unendlich süßen Gefühl der Behaglichkeit,
so war sie in der Seltsamkeit des Sommerabends
der Wirkung seiner unbekannten Stimme erlegen.
Widerstandslos gab sie sich hin, unbekümmert um
den Sinn der Worte, nur hinhorchend nach dem
ungewohnten Tonfall, nach der einwiegenden Ein-
tönigkeit dieses Organs. Sie schritt wie im Halb-
schlaf neben den beiden Männern her.

Die Stadt hatte sie jetzt ganz in sich aufge-
nommen. Die breiten Pflastersteine warfen den
Klang ihrer Schritte an die Häusermauern, die ihn
verächtlich murrend wieder fallen ließen. Wenn
ein Hund des Weges kam, schlich er in weitem
Bogen um die drei Menschen herum; alle Hunde
sahen in dieser dämmrigen Beleuchtung in der
kahlen Stille der Straßen wie lauernde Hyänen
aus. Ganz selten ging ein Mensch an ihnen vor-
über. Es war zwischen neun und zehn Uhr. Die
meisten Männer saßen im Restaurant und in der
Kneipe, die Frauen hinter den Häusern, in Höfen
und Gärten, erzählend, verleumdend, lachend und
sorglos. Wenn eine besonders laut war, drang
ihre Stimme oder ihr Gelächter torkelnd auf die
Straße, wo es nach wenigen Augenblicken starb.
Der Künstler sah die Leichen dieser lauten Frauen-
stimmen überall auf dem Pflaster liegen. Dies er-
höhte seine Traurigkeit.

Der große Garten des Gesellschaftshauses, in
dem sich auch das Konservatorium befand, lag
unter einer gelbweißen Lichtflut. Große Laternen
standen auf dünnen Eisenpfählen zwischen den
Bäumen. Aus den hohen Bogenfenstern des Kon-
zertsaals stürzte das Licht, leuchtende Musik, die
aus den Fenstern drang. Um kleine runde Tische,
die wie weiße Farbflecken unter den Bäumen
lagen, saßen lachende plaudernde Menschen; die
Oberkellner beugten sich über sie, hatten sie die
Wünsche erfahren, schnellten sie zurück, als seien
sie erschrocken über die Worte ihrer Gäste. Ein
paar kleine Mädchen in weißen raschelnden Kleid-
chen jagten sich zwischen den Tischen und Stüh-
len; ihr hohes Gejubel kämpfte mit dem Redege-
wirr, das beständig über dem Garten wogte.

Am Eingang zum Garten gab Johannes dem
Arbeiter die Hand.

— Wir sprechen noch einmal zusammen, sagte
er. Ich glaube, ich weiß, was Sie erstreben.

Eine jähe Ueberraschung zuckte in den Augen
Jörg Martins auf; dann lachte er ein halblautes
Lachen und ging. Johannes horchte seinen Schrit-
ten nach, bis sie in der Nacht verklangen.

Eine seltsame Stunde! sagte er und atmete tief.

Sie schritten durch die schwatzenden und
lachenden Menschen, die ihnen neugierig nach-
blickten. Alle kannten das Mädchen und kannten
auch den Künstler, der einmal, gleich am zweiten
Tag nach seiner Ankunft, in einem Konzert mitge-
wirkt hatte.

Als sie in den Saal traten, tönte gerade ein
Klavierkonzert aus. Ein gedämpftes Stimmen-
brausen stob auf und stieß hart an die Decke, von
wo es zitternd zurückstrahlte. Die drei Kronleuch-
ter, die in strenger Ordnung die Mitte der Decke
von hinten nach vorn zerteilten, übergossen die
Menschen mit dem bleichen, verwaschenen Glanz
des Gaslichts. Eine lastende Schwüle war durch
den ganzen Raum gespannt.

Alle Köpfe drehten sich nach dem Paar, das
Arm in Arm durch den Mittelgang nach vorn
schritt, wo für den Künstler zu jedem Konzert zwei
Plätze zur Verfügung gehalten wurde. Sobald die
Schüler, die das kleine Orchester bildeten, den
Meister erblickten, begrüßten sie ihn lebhaft. Er
sah am rechten Ende der Stuhlreihe den Redakteur
sitzen; der starrte geärgert vor sich hin. Seine
buschigen Brauen hingen wie schwere Wolken in
die Augen herein. Der Direktor des Konservato-
riums, der in einem Gespräch mit einem langen,
spindeldürren Klaviervirtuosen begriffen war, ließ
ihn ohne weiteres stehen, sobald er den Künstler
erblickte und eilte mit ausgestreckten Händen auf
ihn zu. Alle verehrten in ihm den Meister des
Klavierspiels, der mit erlebender Seele spielte. Aber
sie wußten nicht, welche Qualen der Künstler in der
Stunde seines Spiels vor all diesen Menschen litt;
sie wußten nicht, daß der laute Jubel der Zuhörer
wie schwere, unbarmherzige Fußtritte an seine
Seele pochte. Sie wußten nicht, daß er sich hoch
oben auf dem Podium, den Blicken aller ausge-
setzt, wie entweiht, wie ein Verräter an der stillen,
vornehmen Hoheit seiner Kunst vorkam.

— Wenn wir sie doch bewegen könnten, wie-
der einmal zu spielen! rief der Direktor.

Dieser tüchtige Mann besaß ein außerordent-
liches Organisationstalent. Jede künstlerische Ver-
anstaltung, die er unternahm, gelang. Er wäre
wohl längst an der Nüchternheit der Kleinstädter
gescheitert, wenn er nicht diesen zähen Willen,
diese rücksichtslose Ausdauer und diese Kühnheit
besessen hätte.

— Sie haben die Leute damals begeistert, sagte
er zu Johannes. Diese Krämerseelen haben in
jener Stunde das ganze Elend ihres Alltags voll-
ständig vergessen. Vollständig! Sie kann-
ten sich selber nicht mehr. Wahrscheinlich haben
sie sich nachher darüber gewundert.

Sie standen vor dem ganzen Publikum. Johan-
nes ließ lächelnd die Schmerzen des Direktors über
sich ergehen. Der Direktor war in Geberlaune;
in solchen Augenblicken bürdete er dem, mit dem
er gerade sprach, alle seine Sorgen und Wünsche
und Erwartungen auf, ob der andere sie haben
mochte oder nicht.

— Sehen Sie, im Vertrauen, es ist ein Wunder,
daß wir uns mit unserm Konservatorium die fünf
Jahre gehalten haben. Die Feindschaft, die wir
auszuhalten hatten! Sie meinten es gut, von ihrem
Standpunkt^aus; sie meinten, mit dem Neuen käme
der Unsegen in der Stadt. Sie fürchteten für ihre
Söhne und Töchter; die sollten nicht auf solche

„verrückten“ Ideen kommen, Musik studieren zu
wollen. Verstehen Sie! Der Geist der Behäbigkeit
wollte uns einen Damm bauen. Aber wir haben uns
durchgesetzt. Heute besuchen fünf Söhne und acht
Töchter dieser Stadt unser Institut . . . Ihre Eltern
sind die Fortgeschrittensten, obwohl es mit diesem
Fortschritt — unter uns! — auch nicht gar weit her
ist. Die andern Schüler und Schülerinnen liefert
uns die Umgegend . . . Wir haben ganz tüchtige
unter ihnen. Und die Lehrer leisten Prächtiges.
Jetzt werden sie uns wohl nicht wieder aus der
Stadt herausbekommen. Aber, ich glaube: im
Grunde ist es ihnen gar nicht so unangenehm, daß
sie jetzt das ganze Jahr hindurch Konzerte haben,
sie wollen es nur nicht zugeben, wissen Sie!

Johannes dachte an den Arbeiter. Der würde
wohl sagen: Irren Sie sich nicht, Herr Direktor!
Die Reichen gehn in Ihre Konzerte, — weil sie froh
sind, daß sie auf diese Weise etwas Abwechslung
haben. Aber, wenn die Konzerte aufhörten, wür-
den sich die Reichen freuen, obwohl sie dann eine
Abwechslung weniger hätten. Aber freuen würden
sie sich ... ich kenne diese Stadt von Kindheit auf,
ich bin mit ihrem Leben verwachsen. Diese Men-
schen betrachteten die Gründung des Konservato-
riums als einen Eingriff in das Leben der Stadt und
werden sie immer so betrachten.

Und plötzlich sah Johannes ganz klar die Be-
wohner der Stadt und den Direktor des Konser-
vatoriums, den Arbeiter Jörg Martin und den
Redakteur Todt. Die Stadt war ein schwerfälliges
Ungeheuer, das Wesen gebar, genau so schwer-
fällig, die nie das Bedürfnis hatten, sich loszurei-
ßen. Und der Anführer war, ohne daß sie es wuß-
ten, der Redakteur, dieser nüchterne, zielbewußte,
hartköpfigei Mann, der nur das Leben auf der Erde
kannte und keinen Glauben an die Idee besaß. Und
dann war einer da, der im Begriff stand, aus der
Stadt herauszuwachsen. Den betrachteten sie mit
Mißtrauen. Der war stärker als sie, hatte spähende
Wünsche, ihm war der Klang des weiten Lebens,
nicht wieder im Ohr verklungen, er war ergriffen
worden von der Sehnsucht nach weitausgreifender
Tätigkeit, während diese Sehnsucht an ihnen vor-
übergegangen war. Dieser Arbeiter stand zwischen
seiner Stadt und der weiten Welt, hinstrebend nach
der Fülle großer Erlebnisse, neuen Wirkens und
neuen umfassenden Glaubens. War es nicht selt-
sam, wie von zwei Seiten auf die Stadt ein Sturm
unternommen wurde? Während ihr aus ihrem
Innern selbst, aus diesem festgegründeten, unzer-
störbar scheinenden Gefüge althergebrachter Sit-
ten und Anschauungen ein Gegner erwuchs,
stürmte auch von draußen her das Leben an, und
setzte sich mitten in diesem abgeschlossenen Gan-
zen fest mit dem fröhlichen Gelächter des Siegen-
Vollenden. Und die Gründlichen, die Nüchternen
mußten es dulden, all ihr Wehren half ihnen nichts
—: es saß da und lachte sie aus. Das war das
Herrliche. Es saß da und lachte sie aus. So mußte
das Leben sein, daß die starre Strenge dieser
Stadt brechen wollte, solche Menschen mußte es
senden, wie Direktor Rankmann einer war. Die
an nichts verzweifelten, keine Sorge über sich
kommen ließen, die an ihre Sache glaubten und
sie verfochten trotz aller Gegnerschaft und allem
Spott. Wie ihm am nachmittag dieses schwülen
Tages alle Lebensäußerungen der W,üste offenbart
waren, so entschleierten sich ihm die innern Trieb-
kräfte, die in den Menschen dieser Stadt und in
den andern wirkten. Eine erlösende Ruhe kam
in sein Wesen, das unter dem plötzlich erwachten
Schuldbewußtsein den Menschen gegenüber
schwer gelitten hatte.

Fortsetzung folgt

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