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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 4.1913-1914

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Nummer 188/189 (Erstes Dezemberheft)
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Kohl, Aage von: Die rote Sonne
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Arp, Hans: Von der letzten Malerei
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Tagore, Rabindranath: Gedichte
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Walden, Herwarth: Kritiker: Der feine Herr Scheffler
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https://doi.org/10.11588/diglit.27574#0143

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Füße auf die Körper der Kameraden, springen auch
und bedecken mit ihren Körpern noch ein Stück
dieser Spitzen mit ihrem Fleisch. Dritte, vierte,
fünfte Reihe folgen, in einer Minute ist der ganze
Gürtel bedeckt mit einer beweglichen grauen
Masse, wie mit einem Teppich.

Aber jetzt ist auch die schwarze Borte auf der
Brüstung, und auf einmal schießen sie alle los auf
diese lebende Decke. Noch eine Sekunde ist ein
fürchterliches grausames Leben auf diesen Spitzen
— als wären diese zweihundert Menschen zusam-
men ein einziges vierhundertarmiges Wesen, das
draußen liegt, gespießt, durchbohrt, aufgerissen,
sterbend, einen unsagbar schmerzvollen Tod ster-
bend.

Die nächste Salve der Russen, und es wurde
still da oben. Nicht eine Bewegung.

Doch —: ein Mann hob den Oberkörper, fuch-
telte mit den Armen und fiel wieder vornüber.

Lange nachher klang sein Schrei da oben auf
dem Hügel, wo der Stab hielt.

Aber in diesem Moment kam es dem General
vor, als würde über die Rampe in zwanzig Ellen
Breite, ein goldener, leuchtender Purpurteppich
gespannt. Eine mächtige Fahne, die sich lebend
bis ganz oben an die Schanze gelegt hatte.

Die Schießkette war heran. Springend stol-
pernd, gleitend kamen sie. Schreiend vor

Grauen und Energie stürmten sie vorwärts. Die
Stiefelhacken in die blutnassen Wunden der Ka-
meraden, vorwärts zum Sonnenbanner, das über
dem Stachelgürtel ausgebreitet lag.

Das Fernglas des Generals glitt von seinen
Augen. Als hätte der rote goldene Schein da oben
seine Augen geblendet.

Aber um seinen Mund stand ein ruhiges festes
Lächeln: die Schanze war erobert, Japan hatte
den Krieg gewonnen.

Autorisierte Uebersetzung von Nell Waiden
Aus der Novellensammlung „Die roten Namen“

* • ®

Im bunten Schäumen der strudligen Städte,
im Spiel von Tag und Nacht über das Sein,
wo ist Er? Ich bin ein gereckter Arm.

Aber Du, mit dem letzten Blutstropfen geliebte,

Du, in der. mein Ich ist und schleift den Leib nach,
Du, in deren Glanz ich schimmre, ein zitternder

Tropfen,

Du, die mir Weg ist und Ziel, Mühe und Labung,
Du mit den Augen, durch die der Nahferne blickt,
Du mit den blauen Augen, aus denen mein tiefes

Leben fließt,

Du, die ich liebe: bist Du es, die ich liebe?

Günther Mürr

Von der letzten Malerei

Hans Arp

Kristallene Amphore auf dem Gipfel des Berges.
— Ich halte den ärmlichen Strauß meines Lebens
in Dich, o weiße Lava. Breche den Verkehr mit
mir, o Kleinigkeit, nicht ab. Unsere Zwiegespräche
im pergamenttapezierten Haus. Und wo ist Dein
Gesicht? Jetzt blühen die Bäume dieser Winter-
landschaft unter Deinem Atem auf. O Tafel für
Rehe, Deine Flügel sind Spiegel. In Deinen Ohren
singen Nachtigallen. Sterne Deine Kiemen.

Du zeigst Dich in den mundlosen Köpfen der
unberührten Jungfrauen mit den hohen Stirnen,
die -ohne Leib und mit überlangem Hals aus den
Mänteln hängen.

Marionetten von Castiglione d’Olona. — Zwischen
dem erhobenem Zeigefinger und den versteinerten
Augen der Cumäischen Sibylle von Andrea del
Castagno bist Du durchgeflogen. — Bei Grünewald
zeigst Du Dich als farbig glühender Dorn vor
Landschaften, die wie erhitzte Metalle anlaufen.
Und Kelche schweben um Dich ab und zu. — Du
lächelst mild hinter Hecken von wächsernen Blu-
men durch die sich' Sterne glühen. — Du ruhst ge-
lassen o Flamme in den Feldern goldener Architek-
turen in diesen planimetrischen Zimmern zeigst Du
Deine großen Füße und langen Zehe. Deine Zun-
gen. Und Deine Lämmer und Freunde, o Flamme,
ordnen sich wie Blumenblätter um Dich. — Du
atmest in dem zitterndem Glanzlicht auf dem
Bauche des Buddha und in den Schleiern der Rosi-
ta Mauri von Manet. — In den Chromos aus den
Fruchtkatalogen der Handelsgärtnereien, verbrü-
dert mit grobem Kalkbewurf und den glattesten
Lackflächen wie weit denkst Du Gott in diesen
Trompe L’oeuils. 0 Keilrahmen ins All gehoben,
in Dich geschoben, überrieselt von den Bächen
Deines violetten Schweißes.

O Sehnsucht nach einem größerem Gesicht.
Wenigstens Stadt, wenigstens Dom, wenigstens
Säule. Wenn wir auch unterwegs verführt werden
von Umarmungen, von Pflanzen. (0 Knöchlein im
Meer, im Himmel, im Fließ.) Du zeigst Dich wie-
der stärker, Gott. Wir türmen, häufen. Zum
Schluß sind wir alle Konvertiten, die mit der größ-
ten Geste eines brennenden Tragöden im Purpur-
mantel eingehüllt uns in die singende Flamme des
Nichts stürzen.

Ein Kosmos aus Domen. Ein Portal aus fließen-
dem Steinfleisch mit dem Lied der aufsteigenden
Wolken, nur ohne ihre Sentimentalität. Glocken
atmen schwer. In diesem Bild von Leger
Komposition mit Menschen“ 1912 gehen die
Schatten wie um die Dome, schillernd und
sind Zeiger. Dann ist hier der gewagteste
Winkel, der vermessenste Bogen unserer Physik.
Dort der notwendige weise Mund der Banalität,
den wir zum Absprung brauchen und um den sich
wie Sterne die Stimmen und Chöre sticken. Und
kleine Harfen rieseln über Flächen unter Moos.
Alles von der Härte der großen Dinge durch-
wachsen. Poche mit deinem Finger darin, wie
Gott daraus tönt. Schaue durch diese Ritzen. Da
schwimmt Gott.

Und noch an höheren Kanzeln lehnen die Bau-
leitern. Die Silhouetten der Städte bewegen sich.
Gott kehrt in sie ein.

Gedichte

Rabindra Nath Tagore

Wenn du mich singen heißest, fühle ich, mein
Herz bricht von Stolz; ich sehe empor zu deinem
Gesicht, und meine Augen füllen sich mit Tränen.

Alles was in meinem Leben Schroffheit und
Mißlaut ist schmilzt zu einem einzigen lieblichen
Klang und meine Anbetung bekommt Flügel wie
ein froher Vogel auf seinem Flug über das Meer.

Ich weiß, dir gefällt mein Lied. Ich weiß, daß
ich nur als Sänger vor dein Antlitz trete.

In die Ferne breitet mein Lied seinen Flügel.
Mit seiner äußersten Spitze berührt er deine Füße,
die ich nie in Träumen erreichen konnte.

Berauscht von der Freude des Singens, ver-
gesse ich mich und nenne dich Freund, der mein
Herr ist.

*

Das Lied, ich kam hierher, es zu singen, es ist
bis auf diesen Tag noch ungesungen.

Mit Besaiten und Abspannen meiner Harfe sind
meine Tage verronnen.

Nicht wurde der Takt wie er sollte, nicht wur-
den die Worte richtig eingefügt, aber im Herzen
sitzt die Sehnsucht noch.

Die Blunic hat ihre Blätter nicht geöffnet; nur
der Wind zieht seufzend vorüber.

Ich habe sein Gesicht nicht gesehen, seine
Stimme nicht gehört; nur seine leichten Schritte
auf dem Wege vor meinem Haus.

Den lebenslangen Tag, habe ich verbraucht,
Teppiche auszubreiten, auf denen er sitzen sollte.
Aber die Lampe wurde nicht gezündet, und ich
kann ihn nicht in mein Haus laden.

ln der Hoffnung ihn zu begegnen lebe ich; aber
noch ist nicht die Zeit für diese Begegnung.

*

Auf die Liebe warte ich, um endlich mein Leben
seinen Händen zu überlassen.

Sie kommen mit ihren Gesetzen und ihren Leh-
ren, mich zu binden, aber ich entfliehe ihnen
immer, denn ich warte auf die Liebe um meiB
Leben seinen Händen zu überlassen.

Die Menschen klagen mich an, rücksichtslos
nennen sie mich, und ich zweifle nicht, daß sie
Recht haben.

Der Markttag ist vorüber, für den Fleißigen ist
alle Arbeit zu Ende. Die mich vergebens gerufen
haben, kehren in Zorn um. Aber ich warte nur
auf die Liebe, um endlich mein Leben seinen Hän-
den zu überlassen.

Aus dem Gedichtband G i t a n j a ! i (Gesangsopfer).
Nach der schwedischen Ausgabe (Verlag Norstedt und
Söhne, Stockholm) ins Deutsche übertragen von Nell
Waiden.

Kritiker

Der leine Herr Scheffler

Herr Karl Scheffler hat nun seine Ausstellung
der ringenden Talente. „Eine Eliteausteilung der
besten Talente der Jüngsten.“ Zu ihnen gehören
nach seiner Ansicht die Herren Beckmann, Rösler,
Brockhusen, Meid, Kurt Herrmann und Karl Hofer.
Resultat: „Als Ganzes wirkt die Veranstaltung in
einer sehr edlen und vergeistigten Weise inter-
essant.“ Noch mehr: „Man spürt, daß Intelligenz
und selbstloser Idealismus sich hier mit den Ar-
beiten der neuen Künstlergeneration beschäftigt
haben,“ Bei Sturmausstellungen nennt es Herr
Scheffler: „Der unmündigen Jugend in einer ab-
scheulich servilen Weise schmeicheln.“ Herr
Scheffler hat den großen Mund für die unmündige
Jugend, die ihm größtenteils sogar an Jahren über-
legen ist. Kandinsky malte bereits, als Herr
Scheffler noch Muster zeichnete. Er scheint
immer noch Beziehungen zu Webereien zu haben.
Und empfiehlt deshalb Franz Marc, sich Aufträge
für Webereien zu beschaffen: „etwa in dem Sinn
des Norwegers Munthe zu arbeiten“. Der Herr
Munthe arbeitet etwa so, wie der Herr Scheffler
schreibt. Man denke sich eine Ausstellung von
Arbeiten der neuen Künstlergeneration, in der
fehlen: Alexander Archipenko, Umberto Boccioni,
Delaunay, Alexei von Jawlensky, Kandinsky, Paul
Klee, Fernand Leger, August Macke, Franz Marc,
Albert Gleizes, Jean Metzinger, Gino Severini, um
nur einige wichtige Namen zu nennen. Wo hin-
gegen die Werke der obengenannten Herren zu
sehen sind. Ich empfehle Herrn Karl Scheffler
dringend, sich bei seinen weiteren Kritiken der
größten Vorsicht und des noch größeren Nach-
sehens zu befleißigen, da Nachsicht nicht geübt
wird. Ich hebe alles auf, Herr Karl Scheffler.
Ich trage ihnen jede Zeile nach, Ihr ganzes Leben

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