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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 4.1913-1914

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Nummer 188/189 (Erstes Dezemberheft)
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Kohl, Aage von: Die rote Sonne
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https://doi.org/10.11588/diglit.27574#0142

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auf cJie Hinterbeine, es sah aus, als wollte das
Tier die Vorderbeine in den Rücken des jungen
Leutnants vergraben.

„Die Brigade muß vorwärts. Gleich! Der
General kann nicht darauf warten, daß Sie Ihre
Pflicht tun, General Noku!“ schrie der Adjutant,
und seine Hände saßen wie Stahlklammern um die
Zügel des Pferdes, dessen Maul weit offen stand.

Noku starrte in die Ferne: als wäre er blind,
oder sahen seine Augen vielleicht nur dies Bild
von Sterbenden, die über Tote kriechen.

Dann mit einmal nickte er.

Der junge Leutnant wiederholte zum dritten-
mal, ganz heiser von Eifer, — seine junge Stimme
stolperte:

„Vierhundert Freiwillige, dürfen sie heran-
gehen?“

Der General drehte seinen Kopf, langsam, und
sah sich die Offiziere an. Langsam, langsam glitt
sein Blick über sie, und eine hartes, eigentüm-
liches Lächeln lag um seine Lippen. Er hatte ein
Mittel gefunden, die Schanze zu nehmen, aber
welches, das wußten sie nicht.

„Ja!“ sagte er, und sah sicli nochmals die Of-
fiziere an, seine Stimme war ganz trocken. Die
Offiziere verstanden, daß die Idee sein ganzes
Blut vertrieben hatte.

„Ja!“

„Die Freiwilligen — könnten vielleicht, wenn

sie-!“ Und er schwieg, als wäre sein Plan

so, daß er nicht wagte, ihn zu sagen.

Kapitän Noku begegnete dem Blick seines
Vaters, und es ging ein hastiges Lächeln über sein
blasses schmales Gesicht; „Ja!“ sagte er mit sei-
ner Stimme, die kaum glauben ließ, daß er drei-
undzwanzig Jahre war, „Ja, allein auf diese Weise
ginge es, Vater!“ Er hatte vergessen, daß er zu
dem General sprach. Auch in ihm saß dies furcht-
bare Bild des letzten Angriffs — und er hatte
gleich beim Lächeln des Generals verstanden, was
für einen Plan der Vater hatte, der ihm das Ge-
sicht mit einmal ganz grau machte.

Noku nickte. Er winkte mit der Hand dem Ad-
jutanten des Oberkommandanten zu und seine
Augen ruhten auf dem Sohn: „Ja, du führst die
Freiwilligen!“

Der Kapitän legte seine Hand an die Mütze.
Die Offiziere atmeten ganz kurz. Ihre Augen gin-
gen vom General zum Kapitän. Aber Noku hob
sich halb im Sattel, er neigte sich zu dem Sohn.

„Sag es ihnen, sag es den Freiwilligen, daß
du mein einziger Sohn bist, sag es ihnen, daß der
Kaiser dich Held genannt hat, daß er dich gestern
zum Kapitän gemacht hat, dreiundzwanzig Jahre
alt! Aber dich gebe ich, weil du ihnen zeigen
mußt, wie sie ihre Pflicht tun sollen. Geh!“

„Geh!“ — — rief er, hob sich in den Steig-
bügeln und riß die Mütze von seinem Kopf.

„Geh, und zeige ihnen, wie sie für ihr Land
sterben sollen!“ —

Und alle Offiziere rissen unbewußt die Mützen
von den Köpfen und hielten sie in den Händen,
die Arme gerade an den Seiten, Kapitän Noku
ritt fort in fliegendem Galopp um den Freiwilligen
zu zeigen, w i e man die Schanze nur nehmen
könnte. —

Der fremde Adjutant und der kleine Leutnant
waren weggeritten. Das Gesicht des Generals
Noku war ganz anders geworden, ganz ruhig. Ein
sicheres, siegesbewußtes Lächeln zeigte sich um
seinen Mund.

„Was meint der General?“ — der lange Leut-
nant Hinto neigte sich zu seinem Seitenkamerad
und sprach so still, daß es kaum zu hören war.
Er wollte nicht daran glauben, was er gehört
hatte, er wollte es nicht glauben. — „Was meinte

er wohl damit, daß es nur ein Mittel gäbe, diese
Schanze zu nehmen?“

Leutnant Guji sah immerfort auf sein linkes
Knie, er glättete mit der Hand darauf, als wäre da
etwas wegzuwischen —: „Ich weiß nicht!“ ant-
wortete er unwillig — „ich kann es mir doch nicht

denken--Er schwieg mit offenem Mund

und schwarzen Augen — und Leutnant Hinto ver-
stand, daß auch er es wußte, aber es nicht zu
wissen wagte.

Die anderen Offiziere hatten auch denselben
angstvollen Ausdruck in ihrer Gesichtern. Ab und
zu flüsterten sie mit einander —< aber sie sahen
unaufhörlich auf die kleine Schanze dahinten, kei-
ner wagte den andern anzusehen.

Die vierzig Kanonen hatten wieder ihr Feuer
gegen die Schanze gerichtet.

In dem Fernrohr konnte man sehen wie die
Granaten die Erde auffliegen ließen. In großen,
schwarzen Klumpen flog es gegen die Brüstung.
Es war nichts Lebendes zu sehen. So plötzlich
hörte das Feuer auf.

Im selben Moment waren alle Brüstungs-
mauern vollbesetzt von Soldaten. Dann gingen
die Kanonen wieder los. Es war nur ein Manö-
ver, um die Verteidiger herauszulocken, zu töten,
zu ermüden.

Und als die Besatzung noch schneller sich wie-
der zurückgezogen hatte, sah Noku, daß ungefähr
auf zwanzig Stellen, kleine schwarze Striche oder
Punkte lagen, wo die Schüsse getroffen hatten.

Noch einmal hörte die Artillerie auf, aber dies-
mal sandten die Russen nur einen Mann, um über
die Brüstung zu sehen — die Kriegslist nützte
nicht mehr.

Und mit größerer und größerer Gewaltsamkeit
gingen die stählernen Untiere über dieses Fleck-
chen Erde nieder. Die dunklen Punkte, die da
lagen, wurden hoch in die Luft geworfen, zer-
stückelt oder ganz mit Erde bedeckt.

Der General ließ die Hand mit dem Fernglas
sinken und schaute über das Hirsenfeld, das ganz
zertrampelt war. Aber die Offiziere sahen nur
gegen die Schanze, als warteten sie, voller Angst

— auf irgend etwas, was geschehen sollte — und
selbst dieses Warten war so voll Angst und
Schmerz, daß sie ihre Augen von dem Platz nicht
abwenden konnten.

Aber die Blicke des Generals glitten ruhig und
klar hin und her, alles ruhig abwägend was ge-
schehen sollte.

Einige hundert Meter vorwärts zu beiden Sei-
ten, ein graues schmales Band, das sich unauf-
hörlich bewegte. Es waren die Schießketten.
Dahinter gingen die Kompagniereserven in dop-
pelten Reihen, wie breite kurze Klumpen. Un-
gefähr in der Mitte marschierten die Bataillons-
reserven.

Leutnant Guji zeigte plötzlich, seine Hand zit-
terte, totmüde —: „Da kommen die Freiwilligen!“

— sagte er, mit seiner jungen Stimme, als könnte
sie nicht die Wichtigkeit dessen ausdrücken, was
sie von dem Plan der Freiwilligen verstanden hat-
ten. Der General und die Offiziere ritten instink-
tiv zwanzig Schritte vorwärts zur Böschung, da
wo die feindlichen Granaten Mal auf Mal nieder-
schlugen.

Sie hoben sich in den Steigbügeln und streck-
ten die Hälse, um besser sehen zu können.

Zwischen zwei Gruppen Bäumen kamen die
Freiwilligen hervor. Sie liefen im Schritt, es
sah aus als bewegte sich ein Riesenkörper. Als
wären sie ein Wesen.

Es ging ein Ruf von den Offizieren —

„Sie haben ja keine Flinten, die Leute!“ —
sagte Leutnant Hinto, ganz aschgrau im Gesicht,

und er wußte jetzt, daß er ihn richtig erraten
hatte, diesen fürchterlichen Plan.

Aber kein Offizier antwortete ihm. Sie starr-
ten nur alle auf die Laufenden, als gälte es ihr
eignes Leben. Ihre Augen waren groß und heiß
geworden. Es sprangen Zuckungen um ihre
Münder, deren Lippen alles Rot verloren hatte.
Alle, alle starrten sie auf diese Truppe, deren erste
Hälfte ohne Waffen marschierte. Und an der
Spitze lief Kapitän Noku seinen Säbel schwingend,
fließendes Gold in der Sonne.

Dann waren die vierhundert vorbei, und man
konnte sie von diesem Platz nicht mehr sehen.

General Noku saß so rank im Sattel, und seine
Augen gingen ruhig und aufmerksam herum —
von Schießketten zu Kompagniereserven und zu
Bataillonsreserven.

„Nein, sie hatten wirklich keine Waffen!“ sagte
der kleine Leutnant Guji plötzlich — „und es ist
sein einziger Sohn!“

Sie hörten mit einmal, einen schwachen Ruf,
weit von vorn. Die Offiziere versuchten krampf-
haft zu sehen. Sie drückten mit den zitternden
Händen die Fernrohre gegen die Augen.

Die Artillerie schwieg — die Kanonen sahen
aus wie große graue brünstige Tiere, die mit den
Beinen zum Sprung gesammelt nur auf eine Be-
wegung warteten, um ihre Stahlzähne in Knochen
und Fleisch des Feindes zu begraben.

Jetzt konnte man wieder die Freiwilligen
sehen. Sie waren an der Rampe angelangt. Zu-
erst lief ein einzelner kleiner Punkt. Und alle
wußten es war Noku. Der dreiundzwanzigjährige
Kapitän. Der einzige Sohn des Generals. Sein
einziges Kind. Und hinter ihm kam eine Reihe
von vierzig Mann, schnell liefen sie, ohne Waf-
fen. Hinter ihnen wieder eine Reihe. Und noch-
mals eine. Und eine vierte, und eine fünfte. Jede
mit vierzig Mann.

Aber fünfzig Schritte hinter der letzten Reihe
kam die Schießkette, die letzten zweihundert Frei-
willigen der siebzehnten Kompagnie.

Es ging ein Sturm über die Offiziere da oben
auf dem Hügel. Ihre Gestalten wendeten und
drehten sich. Und ihre Hände, die die Fernrohre
umfaßten, zitterten und bohrten die Instru-
mente in die Augen. Leutnant Guji, der kaum
achtzehn Jahre alt war, fiel mit einem Seufzer
vorwärts. Seine Hände bewegten sich in der
Luft, das Fernglas fiel mit einem dumpfen Laut
zur Erde. Sein weißes Gesicht leuchtete, und die
Hände wurden unbeweglich.

Jetzt war Kapitän Noku nur zehn Schritte ent-
fernt von dem Stachelgürtel. Noch sah man kei-
nen Russen an der Brüstung, die hundertfünfzig
Ellen von dem Stachelgürtel entfernt lag.

In dem Fernglas konnten sie beobachten wie
der Kapitän schneller zulief, er drehte seinen Kopf
um zu den Leuten, eine Sekunde, und sprang, einen
Moment schwebte er in der Luft über dem Stachel-
gürtel. So hob er die Arme und ließ sich mit sei-
nem ganzen Gewicht über die Spitzen fallen.

Es ging ein Stöhnen durch den Stab.

Als fühlten sie selbst die hunderte von Spitzen,
die sich in den Körper des Kapitäns gruben.

Premierleutnant Aroko gab einen Schrei von
sich wie ein Tier, und es spritzte ein Strahl Blut
von seiner Unterlippe, in die er gebissen hatte
ohne es zu wissen. Leutnant Hinto warf seinen
Kopf zur Seite und erbrach sich mit einem stöh-
nenden Laut wie ein Schluchzen. Aber draußen
am Stachelgürtel war die erste Reihe nach dem
Kapitän angelangt. Sie sprangen, ihre Körper gin-
gen wie Striche durch die Luft, und fielen dann
in voller Länge herunter auf die scharfen Spitzen.
Die nächste Reihe war schon da. Sie setzen die

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