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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 4.1913-1914

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Nummer 178/179 (September 1913)
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Kandinsky, Wassily: Malerei als reine Kunst
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https://doi.org/10.11588/diglit.27574#0101
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Kandinsky

Malerei als reine Kunst

Inhalt und Form

Das Kunstwerk besteht aus zwei Elementen:
aus dem i n n e r n und aus dem äußern.

Das innere Element, einzeln genommen, ist die
Emotion der Seele des Künstlers. Diese Emotion
hat die Fähigkeit, eine im Grunde entsprechende
Emotion in der Seele des Beschauers hervorzu-
rufen.

Solange die Seele mit dem Körper verbunden
ist, kann sie in der Regel Vibrationen nur durch
die Vermittlung des Gefühls empfangen. Das Ge-
fühl ist also eine Brücke vom Unmateriellen zum
Materiellen (Künstler) und vom Materiellen zum
Unmateriellen (Beschauer).

Emotion — Gefühl — Werk — Gefühl —
Emotion.

Das innre Element des Werkes ist
s e i n I n h a 11. So muß die Seelenvibration vor-
handen sein. W!enn es nicht der Fall ist, so kann
kein Werk entstehen. Das heißt, es kann nur ein
Schein entstehen.

Das innere Element, von der Seelenvibration
geschaffen, ist der Inhalt des Werkes. Ohne In-
halt kann kein Werk existieren.

Damit der Inhalt, der erst „abstrakt“ lebt, zu
einem Werk wird, muß das zweite Element — das
äußere — der Verkörperung dienen. Deshalb
sucht der Inhalt nach einem Ausdrucksmittel, nach
einer „materiellen“ Form.

So ist das Werk eine unvermeidliche, unzer-
trennbare Zusammenschmelzung des inneren und
des äußeren Elements, d. h. des Inhaltes und der
Form.

Das bestimmende Element ist das des Inhalts.
Ebenso wie nicht das Wort den Begriff bestimmt,
sondern der Begriff das Wort, bestimmt auch der
Inhalt die Form: die Form ist der mate-
rielle Ausdruck des abstrakten In-
haltes.

Die Wahl der Form wird also durch die
innere Notwendigkeit bestimmt, die
wesentlich das einzige unveränderliche Gesetz
der Kunst ist.

Ein in der bezeichneten Weise entstandenes
Werk ist „schön“. So ist ein schönesWerk
eine gesetzmäßige Verbindung der
zwei Elemente der inneren und der
äußeren. Diese Verbindung verleiht dem Werk
die Einheitlichkeit. Das Werk wird zum Subjekt.
Als Malerei ist es ein geistiger Organismus, der,
wie jeder materielle Organismus, aus vielen ein-
zelnen Teilen besteht.

Diese einzelnen Teile sind isoliert genommen
leblos, wie ein abgehauener Finger. Das Leben
des Fingers und seine zweckmäßige Wirkung ist
durch gesetzmäßige Zusammenstellung mit den
übrigen Körperteilen bedingt. Diese gesetz-
mäßige Zusammenstellung ist die
Konstruktion.

Dem Naturwerk gleich unterliegt auch das
Kunstwerk demselben Gesetze: der Konstruktion.
Die einzelnen Teile werden nur durch das Ganze
lebendig.

Die unendliche Zahl der einzelnen Teile in der
Malerei zerfallen in zwei Gruppen:

die zeichnerische Form und
die malerische Form.

Das plan- und zweckmäßige Kom-
binieren der einzelnen Teile aus
beiden Gruppen hat zur Folge das
Bild.

Natur

Wenn wir diese beiden Definierungen (Be-
standteile des Werkes und speziell des Bildes)
an einzelnen Werken anwenden, so stoßen wir
auf eine scheinbar zufällige Anwesenheit fremder
Bestandteile des Bildes. Das ist die sogenannte
Natur. Die Natur hat in unseren beiden Defi-
nierungen keinen Platz bekommen. Woher
kommt sie in das Bild?

Der Ursprung der Malerei ist der jeder an-
deren Kunst gewesen und der jeder menschlichen
Handlung. Er war rein praktisch.

Wenn ein wilder Jäger tagelang ein Wild ver-
folgt, so bewegt ihn dazu der Hunger.

Wenn heute ein fürstlicher Jäger ein Wild
verfolgt, so bewegt ihn dazu das Vergnügen. Wje
der Hunger ein körperlicher Wert ist, so ist hier
das Vergnügen ein ästhetischer Wert.

Wenn ein Wilder zu seinem Tanz künstliche
Geräusche braucht, so bewegt ihn dazu der sexu-
elle Trieb. Die künstlichen Geräusche, aus denen
durch Jahrtausende die heutige Musik entstand,
waren für den Wilden eine Anregung zur weibs-
leutebediirftigen Bewegung, die wir heute Tanz
nennen.

Wenn der heutige Mensch ins Konzert geht, so
sucht er in der Musik kein praktisches Hilfsmittel,
sondern das Vergnügen.

Auch hier ist der ursprüngliche körperlich-
praktische Trieb zum ästhetischen geworden. Das
heißt, auch hier ist aus dem ursprünglichen Be-
dürfnis des Körpers das der Seele geworden.

Bei dieser Verfeinerung (oder Vergeisti-
gung) der einfachsten praktischen (oder körper-
lichen) Bedürfnisse lassen sich durchweg zwei
Folgen bemerken: das Absondern des geisti-
gen Elementes vom körperlichen und< seine weitere
selbständige Entwicklung durch die verschie-
denen Künste entstehen.

Hier greifen allmählich und immer präziser die
oben erwähnten Gesetze (des Inhaltes und der
Form) ein, die schließlich aus jeder Über-
gangskunst eine reine Kunst schaf-
fen.

Dies ist ein ruhiges, logisches, naturgemäßes
Wachsen, wie das Wachsen eines Baumes.

Malerei

Derselbe Vorgang ist in der Malerei zu be-
merken.

Erste Periode Ursprung: praktischer Wunsch,
das vergängliche Körperliche fest-
zuhalten.

Zweite Periode Entwicklung: das allmähliche
Absondern von diesem praktischen Zweck
und das allmähliche Überwiegen des
geistigen Elementes.

Dritte Periode Ziel: das Erreichen der höheren
Stufe der reinen Kunst; in ihr sind
die Überreste des praktischen Wunsches
vollkommen abgesondert. Sie redet in
künstlerischer Sprache von Geist zu Geist
und ist ein Reich malerisch-geistiger
Wesen (Subjekte).

In der heutigen Lage der Malerei können
wir in verschiedener Zusammenstellung und in ver-
schiedenen Maßen alle diese drei Kennzeichen
feststellen. Dabei ist das Kennzeichen der Ent-
wicklung (der zweiten Periode) das maßgebende,
und zwar:

Erste Periode. Realistische Malerei
(der Realismus versteht, sich hier so, wie er bis in
das neunzehnte Jahrhundert traditionell sich ent-
wickelte): Überwiegen des Kennzeichens des Ur-
sprunges — der praktische Wunsch, das vergäng-
liche Körperliche festzustellen (Porträt-, Land-
schafts-, Historienmalerei in direktem Sinne).

Zweite Periode. Naturalistische Male-
rei (in der Form des Impressionismus, des Neu-
impressionismus und Expressionismus — wozu
teilweise Kubismus und Futurismus gehören —):
das Absondern vom praktischen Zweck und das
allmähliche Überwiegen des geistigen Elementes
(vom Impressionismus durch Neu-Impresslonlsmus
zum Expressionismus immer stärkere Absonderung
und immer größeres Überwiegen).

In dieser Periode ist der innere Wunsch, dem
Geistigen ausschließliche Bedeutung einzuräumen,
so intensiv, daß schon das impressionistische
„Credo“ lautet: „Das Wesentliche in der Kunst ist
nicht das „was“ (worunter nicht der künstlerische
Inhalt, sondern die Natur verstanden wird), son-
dern das „wie“.

Scheinbar wird dem Überrest der ersten Pe-
riode (Ursprung) so wenig Bedeutung beigemes-
sen, daß die Natur als solche vollkommmen nicht
mehr in Betracht kommt. Scheinbar wird die Na-
tur ausschließlich als Ausgang angesehen, als ein
Vorwand, dem geistigen Inhalt Ausdruck zu
geben. Jedenfalls werden diese Standpunkte als
Bestandteile des „Credo“ schon von den Impres-
sionisten anerkannt und proklamiert.

Nun ist aber in Wirklichkeit dieses „Credo“
nur ein „pium desiderium“ der Malerei der zwei-
ten Periode:

Wenn die Wahl des Gegenstandes (Natur) die-
ser Malerei gleichgültig wäre, so würde sie nach
keinen „Motiven“ suchen müssen. Hier bedingt
der Gegenstand die Behandlung, die F o r m w a h 1
bleibt nicht frei, sondern ist vom Gegen-
stand abhängig.

Wenn wir aus einem Bilde dieser Periode
das Gegenständliche (Natur) ausschalten und das
rein-künstlerische dadurch allein im Bilde las-
sen, so bemerken wir sofort, daß dieses Gegen-
ständliche (Natur)) eine Art Stütze bildet ohne die
das rein künstlerische Gebäude (Konstruktion) an
Formarmut zusammenbricht. Oder stellt es sich
heraus, daß nach dieser Ausschaltung nur vollkom-
men unbestimmte, zufällige und existenzunfähige
künstlerische Formen (im embryonalen Zustand)
auf der Leinwand bleiben. So ist in dieser Malerei
die Natur (das „was“ im Sinne dieser Malerei)
nicht nebensächlich, sondern wesentlich.

Dieses Ausschalten des praktischen Elementes,
des Gegenständlichen (der Natur), ist nur in dem
Falle möglich, wenn dieser wesentliche Bestand-
teil durch einen anderen ebenso wesentlichen Be-
standteil ersetzt wird. Und das ist die rein-künst-
lerische Form, die dem Bilde die Kraft des selb-
ständigen Lebens verleihen kann und das Bild
zum geistigen Subjekt zu erheben imstande ist.

Es ist klar, daß dieser wesentliche Bestandteil
die oben beschriebene und definierte Konstruk-
tion ist.

Dieses Ersetzen finden wir in der heute be-
ginnenden dritten Periode der Malerei —

K o m p o s i t i o n e 11 e Malerei

Nach dem oben angegebenen Schema der drei
Perioden sind wir also an die dritte angelangt, die
als Ziel bezeichnet wurde.

In der komposition eilen Malerei,
die sich heute vor unseren Augen entwickelt, sehen
wir sofort: die Kennzeichen des Erreichens der
höheren Stufe der reinenKunst, in der die
Überreste des praktischen Wunsches vollkommen
abgesondert werden können, die in rein-künstle-
rischer Sprache von Geist zu Geist reden kann und
die ein Reich malerisch-geistiger Wesen (Sub-
jekte) ist.

Daß ein Bild dieser dritten Periode, das keine
Stütze im praktischen Zweck (der ersten Periode)

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