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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 5.1914-1915

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Nummer 6 (Zweites Juniheft 1914)
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Kohl, Aage von: Der Weg durch die Nacht [12]
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https://doi.org/10.11588/diglit.33880#0048
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Ach ja, diese Augen waren gerade so, wie er
sie sich vorgesteiit hatte, so wie er sie im voraus
äus seinen Studien in früheren Zeiten kannte:
diese stechenden Augen, die immer so aussahen,
a!s bluteten sie! War es etwa Zorn oder Furcht,
wovon ihr unveränderiicher Ausdruck erzähite —
nein, sicheriich nicht: diese kieinen, schwarzen
Pupiiien, die zugieich stachen und auswichen; die
zersprungenen, biutigen Adern des Augapfeis;die
dicken, immer hart gerunzeiten Brauen . . . aiies
dies berichtete nur von einem — und dies eine
war Quai! Die Biicke dieses Mannes, der Mund,
an dem die Unteriippe schief saß, die dumpfe, vier-
eckige Last seines Kiefers, die ganze häßiiche,
nach oben zugespitzte Form seines Kopfes, deu-
teten nur ein einzig Ding an —: daß es tiberaii
da drinnen in ihm wehtat! immer, überaii, unauf-
höriich tat es weh!

Ja —:

Für diesen grauenvoiien Menschen, fiir diesen
entsetziichen Mann, gab es nur ein einziges Ding
— das sein Fieisch kannte und bis auf den Grund
begreifen konnte!

Wie die Nerven des Maiers überaii Farben
spüren, wie die Sinne des Musikers nichts anderes
ais Töne vernehmen, wie die Mutter in der gan-
zen Weit mit aiien Fibern nur von einem weiß, von
ihreni Kinde . . . genau so kannte dies bittere und
zornige, dies wahnsinnige Gemüt nur eins —: daß
es weh tun konnte, daß es Schmerz gab! ach,
Schmerz war sein Brot, sein Trunk — sein Wa-
chen, sein Schiaf! Schmerz in seinen Armen, in
seinen Beinen, in seinen Schuitern und tief da
drinnen in seinem nagenden Herzen! Schmerz,
das einzige, was zu fühien ihm das Leben Fähig-
keit veriiehen hatte — und Geiegenheit, es wieder
und wieder von neuem zu erieben!

Eine dumpfe und trotzerweckende Quai, wenn
er als Kind daheim mißhandeit — und in der
Schuie von den andern gescheut wurde und sie
scheute! Ein tiefer und haßgebärender Schmerz,
wenn er ais Jiingling aiiein stand — und neidisch
und höhnisch den andern nachstarrte, die paar-
Weise dahinwanderten! Eine giühende und
stechende Marter, wenn er aile andern zur Seite
weichen sah — ängstiich vor seiner Häßiichkeit
seibst, vor seinem zornigen Biick!

Ja, ja, Schmerz, wo er ging und stand: wenn
er aiiein war und wutschnaubend sein Schicksai
verfiuchte — und wenn er, wenn auch nur aus
der Entfernung, mit einem zähneknirschenden
Grinsen den Laut davon vernahm, wie die andern
lachen konnten! Ach, ein unabiässiger, ein knur-
render und verzehrender, ein wahnsinnbringender
Schmerz — von dem man sich nur befreien
konnte für einen kurzen und seiigen Augenbiick,
indem man ihn auf einen andern abiud! indem man
ihn zu einem Haufen zusammenkraiite und ihn
dann mit beiden Fäusten, aus aiier Macht, mit
sämtiichen überangespannten Kräften, riicksichts-
los, je wiider, je besser von sich wegschob —
nur weg von sich seibst, auf den andern hintiber!
Ja, zu sehen, wie das Antiitz dieses andern davon
erzähite, daß nun dieser andere der Leidende
war! Zu sehen, wie dieser fremde Mund weit
aufgesperrt wurde, ais soiie er dabei zerreißen —
und aiso zu berichten, daß es jetzt, ausnahmsweise
einmai, nicht Kari Mumme war — nein, daß es
jetzt dieser Fremde war, der schmecken soiite,
was es hieß, gepeinigt zu werden! Sein Ohr, seinen
ganzen Kopf, seinen Leib zu überfüiien mit diesen
langen geiienden Angstschreien — die einen
letzend voiiauf verstehen iießen, daß jetzt man
selber es nicht mehr war, daß es nun dieser andere
war, der, bitte schön, Erlaubms haben soiite, die
Marter kennen zu lernen!

Ach Gott, entsetziich, ja, ja . . . und doch . . .
war nicht trotzdem auch dies, zu guterletzt . . .
genau dassetbe — wie der Frohe, der so herzlich
gern auch andere lachen machen wiii! wie der
Kiuge, der vom heftigen Durst entbrennt, daß auch
die anderen verstehen können soiien! der Christ,
der diese Armen bekehren wiii, die noch nicht
das einzig Seiigmachende kennen! Ach, war es
etwas anderes, ais immer und ewig und überall
dasseibe —: das Gesicht unseres eigenen Ichs, dem
wir überaii zu begegnen begehren, weil nur in
dieser Form wir das Leben schlürfen können, weil
nur so das Dasein Nahrung für unser eigenes,
verborgenes Seibst werden kann! . . .

Er war ein kiein wenig auf dem Stuhl zusam-
mengesunken, stumpf diese Gedanken formuiie-
rend, die er in vergangenen Zeiten, schon vor
Jahren, Tausende von Malen gedacht — und deren
Pichtigkeit er iängst bis auf den Grund eingesehen
hatte.

Er sah mit haibgeschiossenen Augeniidern vor
sich hin, entsann sich jetzt des Professors und sei-
nes Widerstandes vorhin — gegen gerade diese
seibe Ideen.

Ja, die Aerzte, grübeite Morton —: und in noch
höherem Maße die Richter, mit denen ist es ja
eine ganz andere Sache!

Mit den Richtern ist es wie mit jedem, der sei-
nen Lohn vom Staate erhält, um eine ganz be-
stimmte Arbeit innerhalb seines Rahmens auszu-
führen — sie müssen dem Gesetz untertan sein!

Die Pichter — sie sind die Vertrauensmänner
und die Weisen der Menge! sie haben nur an eins
zu denken —: daß der Haufe noch immer außer-
stande ist, zu fassen, daß der Verbrecher ein Ge-
schwächter ist, daß der Dieb wie auch der
Mörder in bürgerlicher Beziehung ein Minderwer-
tiger ist, ein Wrack, das die Arbeit nicht zu ver-
richten vermag, die erforderlich ist, um leben zu
können — und daß er aus diesem Grund eines
Arztes, nicht aber eines Juristen bedarf! einer Er-
leichterung in seinen Erwerbsverhäitnissen, eines
Obdachs — und am wenigsten von aiiem der noch
stärkeren Brutalisierung, mit der ihm das Gefäng-
nis entgegentritt!

Darum haben die pfiichtgetreuen Pichter nur
eins zu tun: wortkarg ihren Mann gefesselt auf
dem Markt aufzusteilen und zu fragen: soll ich ihn
totschlagen? ... und dann, sich gehorsam dem Ge-
schrei der Menge beugend, ihn so schneii wie
möglich hinzurichten! — Und wenn ein einzelner
Pichter doch ein tieferes Verständnis als das be-
sitzt; wenn er imstande ist, es unbeschädigt trotz
der erschlaffenden und verheerenden Einwirkung
seines Amtes zu bewahren; und wenn er dann in
seiner Stellung verbleibt, dazu bewogen von der
tiefen und guten Furcht, sonst sehen zu müssen,
wie auch dieser Platz einem der plumperen Män-
ner des Buchstabens in die Hände fällt — da muß
er selbst, in jedem gegebenen Fall, versuchen, einen
Kompromiß zu finden — zwischen dem Pöbelge-
heul im Gesetz und seinem eigenen weiteren Sinn!

Ja —:

Aber nun ich selber?

Müßte ich nicht, jeglichen Mittelstandpunkt ver-
werfend, in vollem Maße die Folgen meiner eige-
nen Worte — die ich niemals verschwieg — hin-
nehmen?

Bis zum ietzten Tüttelchen meine Gedanken
befolgen — die mich zu diesen Ergebnissen führ-
ten, denen eine Form zu geben und sie darauf un-
ter die Menschen auszuschleudern ich mit aller
Macht bestrebt war, damit auch sie so denken
könnten — oder wenigstens einander gegenüber
so handeln sollten!

Die Folgen von dem Charakter meines Gemü-
tes wonach ich alle meine Tage gelebt und gedich-
tet habe?! nach der innersten und unveränder-
lichen Art meines Ichs, die gerade das war, das so
sehr Annie liebte — und das auch sie wieder
liebte?!

Ja! T

Auch ich habe also recht!

Recht, meinen Kopf zu schütteln und zu
sagen —:

Karl Mumme? Wer ist er, ich kenne ihn nicht,
ich habe ergo keine Rechnung mit ihm abzuschlie-
ßen — m'ag er gehen! . . .

Er erhob sich langsam von seinem Stuhl —
dankbar erstaunt über den Frieden, der auf einmal
so holdselig über sein Herz gekommen war.

Er legte lächelnd seinen Nacken ein klein wenig
hintenüber, gegen den Rand des Kragens. Erhob
darauf die linke Hand, preßte ihre Fläche einen
Augenblick gegen seine Brust — lauschte, bestän-
dig mit diesem Lächeln, das ihm zitternd auf der
Lippe stand —:

Ja!

Es wär vollständig still drinnen.

Herrlich, sein Herz schwieg, jetzt war er zum
Frieden gelangt!

Ach, er gewahrte, nicht mehr zu weit entfernt,
dies selige Land, dies beschwichtigende, kohl-
schwarze Land, diese still lodernde Küste, wo die
Schmerzen voriiber waren, wo die Tränen so
wunderbar rein und frei strömten — und 'wo er
seine Annie von neuem äls weißgekleidete und un-
sagbar schöne Gestalt unter dem Flor der Sterne
wiedersehen sollte! . . .

Er schüttelte ein- oder zweimal den Kopf,
fiihlte sich unbeschreiblich leicht und neu!

Oder nein: eher noch mehr als das!

Stark wie ehemals! . . .

Er sah sich lächeind um — gleichsam irgend ein
Mittel suchend, wodurch er sich selbst beweisen
konnte, daß er wirklich durch diesen Frieden seine
volle Kraft zurückerlangt hatte! die unerschöpf-
liche und heiße Kraft selbst, die ihm diese zwei
Jahre erlaubt hatte, das Bewußtsein seines Ver-
Iustes wie eine Tür verschließen zu können! das
Schloß vor dem Gedanken, daß er Sie verloren
hatte, zudrehen zu können . . und sich nur der an-
dern zu erinnern, seiner Arbeit, seiner Pläne —
alles dessen, was er Ihr schuldete, was er der
Güte des Lebens schuldete, und was zu Ende zu
führen, seine Verpflichtung aller Welt gegenüber
war! diese schwindelnde Kraft selbst, die wenn er
nur die allerersten zwölf Stunden nach ihrem Tode
ausnahm . . . ihn keinen Augenblick wirklich ver-
lassen hatte — bis heute!

Er strich sich umständlich mit der einen Hand
tiber den Nacken, schob darauf die Finger in die
Iinke obere Westentasche, nahm die FüHfeder her-
aus, die da saß und ihn ein klein wenig drückte —
sah einen Moment staunend darauf nieder und
legte sie dann weg, begann auf und ab zu wan-
dern —:

Ausgenomen, wiederholte er, auf einmal uner-
klärlich vollkommen leer von Gedanken —: aus-
genommen die allerersten zwölf Stunden... bis
ihre Eltern schließlich . . .

Er legte eine Sekunde die linke Hand gegen
seine Brust —: die ersten zwölf . . .

Dann blieb er plötzlich stehen — lauschte.

Glaubte mit einem Male ein leises, gleichsam
pulsierendes Geräusch draußen hinter den Fenster-
scheiben, weit weg, zu hören: vielleicht ein fernes,
fernes Motorrad auf der Landstraße?!

Er spännte sein Ohr an, trat näher an das Fen-
ster heran, hob sogar einen Zipfel der Gardine,
ein klein wenig unruhig, ohne selbst fassen zu kön-

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