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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 8.1917-1918

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Zweites Heft
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Schreyer, Lothar: Das Bühnenkunstwerk
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Ausleger, Gerhard: Tod des blauen Reiters Franz Marc
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Heynicke, Kurt: Gedichte
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https://doi.org/10.11588/diglit.37114#0028
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Auch der harmonische Mensch will Macht. Jeder Mensch
will Macht. Die Grundgestalt der Macht ist der Rhythmus.
Rhythmus ist grenzenlos. Er fließt ins Unendliche oder in sich
zurück. Seine Gestalt ist unvollkommen. Der machtvolle
Mensch, der Mensch der Gegenwart ist rhythmisch.
Der aharmonische, der rhythmische Mensch ist unvollendet.
Er strebt auch nicht nach Vollendung. Er ist sich bewußt, daß
er Teil der Menschheit und nicht Persönlichkeit ist, daß er Glied
einer unendlichen Kette, des Rhythmus ist. Die unbegreifliche
Abhängigkeit gestaltet ihn. Die Bedeutung des Einzelnen ist
unwesentlich. An Stelle der Persönlichkeit tritt die Mensch-
heit. Der Machtwille des Einzelnen gehört nicht ihm, gehört
der Gemeinschaft. Ein gemeinsamer Rhythmus durchflutet alle:
der Machtwille über die Erde. Mit Macht das natürliche Leben
zu greifen, sich der Natur zu bemächtigen, ist Menschenwille.
Aber der Mensch ist lebendiger Geist. Ist Menschenwille
Macht über die Natur, so ist Menschensehnsucht Macht . . .
über den Geist. Kein Tun, kein Begreifen, kein Glauben gibt
diese Macht; nur die Erkenntnis der Offenbarung. Das gei-
stige Reich ist nur im Innern des Menschen aufzurichten. Die
innere Gestalt des Menschen ist unendlich. Eine innere Ge-
stalt haben, bedeutet das weltmächtige Bewußtsein. Im welt-
mächtigen Bewußtsein sind wir nicht Teil der Weltmacht, son-
dern wir und die Weltmacht sind eins.
Das geistige Reich ist die große Gemeinsamkeit, die Mensch
und Mensch verbindet über Geburt, Erziehung, Beruf, Familie,
Wissen, Glauben, Staat, Tod.
Künder des Reiches ist das rhythmische Kunstwerk.
An Stelle des erdmächtigen Kunstwerkes tritt das welt-
mächtige Kunstwerk.
Die Stellung der Kunst im Leben, zum Leben ist eine gänz-
lich andere wie bisher. Was die Höhe der Religion ahnt, wenn
sie sich die Kunst als Helfer ruft, ist Tatsache geworden. Was
der Glaube nicht wirken kann, das kosmische Bewußtsein, die
Kunst vermag es. Die Kunst vermag es allein, und allein die
Kunst vermag es.
Die Schöpfung des Kunstwerkes und das Erlebnis des
Kunstwerkes ist der Kult des neuen Reiches.
Künder des geistigen Reiches ist der Künstler. Gestalt des
geistigen Reiches ist das Kunstwerk. Erlebender des geistigen
Reiches ist jeder Mensch,
Das Kunstwerk ist das Heiligtum. Es ist kein Schmuck,
kein Bildungsmittel, kein Unterhaltungsmittel. Es ist der heilige
Kelch, der sich jedem darbietet, und dessen Genuß zum Erlebnis
weiht.


Wir fordern eine Stätte, wo jeder Mensch Genießender
sein kann, damit er allüberall Erlebender sein kann. Die Stätte
gibt es noch nicht. Der gothische Mensch hatte sie in der Kathe-
drale. Der rhythmische Mensch der Gegenwart muß sich die
Stätte schaffen. Er schafft sie sich frei von dem Willenszwang
der Kirche. Es gibt kein Gotteshaus mehr. Aber es gibt ein
Menschenhaus.
In unseren Häusern leben wir. Im Menschenhaus erleben
wir. ' .
Laßt uns das Menschenhaus errichten!
Wir wollen das Haus errichten, wo die mystische Hochzeit
von Natur und Geist Wirklichkeit ist, das Haus, wo wir nicht
erdmächtig, sondern weltmächtig sind, wo wir nicht mehr na-
türliche Menschen, wo wir Geist sind, damit wieder Menschen
werden.
Das Menschenhaus ist Gestalt der Offenbarung in Form
und Farbe und Bewegung und Ton.
Das Formkunstwerk, das Farbkunstwerk, das Bewegungs-
kunstwerk, das Tonkunstwerk bilden das Menschenhaus.

Im Menschenhaus ist das Kunstwerk der Gegenwart ge-
boren: das Bühnenkunstwerk.


Tod des blauen Reiters Franz Marc
Schwefel. Blitze. Blut und hart Gebrüll: Kanonen.
Leiber rotgerissen. Und Granatengrüfte für den Tod: zu wohnen.
Fleisch und Fetzen vom Soldatenvolke —
Plötzlich: ist der blaue Reiter breit von Licht geschlagen;
ist hineingetragen;
ist hinaufgetragen;
bersten seine Hufe Splitter von beglänzter Wolke.
Erde rollt darunter. Rollt gewaltig in die Nacht.
Aufgebracht
auf stracken Vorderbeinen
richtet groß das Roß sich am grünen Himmelsgarten.
Drinnen: tausend treue Tiere ihren treuen Herrn erwarten
sanft in Felsgestürzen und verblauten Forsten:
Bären (angetan mit goldnen Borsten)
und verhaltne Lämmer bitter weinen;
alle Tiere als aus dem Legendenbuche scheinen.
Lautlos, endlos: Feder, Vieh und hingestreckte Felle.
Geht vonrosse nun der blaue Reiter
und zu Ruhe über Himmelsgartenschwelle:
alle Tiere heben die behaarten Brüste heiter,
ist: als ob sie läutend lachen,
daß sie treue nun dem Herrn seinen großen Schlaf bewachen.
Gerhard Ausleger

Gedichte
Kurt Heynicke
Land
Du bist mein blaues Land
meiner Seele Sehnsuchts Land '"U-
Du bist meiner Jugend Ufer
umspült von meiner Träume Meer.
Meiner Träume Meer rauscht
Meine Seele lauscht über das Meer.
Du bist meiner blauen Sehnsucht Land
Zypressen am Strand
dunkel stehst du am Rand meiner Nächte.
Mond schläft auf den Bergen
Stumm hebt die Nacht die blauen Hände
hin über dich.
In meinen Träumen fahre ich zu dir
und golden rinnt die Nacht in meine offnen Hände.
Morgen
Ihr Nächte mit verhülltem Angesicht
tief sind im Sarge alle Stunden.
O hoch du Mond
o weißer Mond, den Tod in den gebognen Händen
du Fluß der Sterne blutgetaucht im Auf- und Niedergang.
Der Nachtsturm keucht die Trümmer toter Dörfer auf.
Die Stunde beugt die Sonne in den Staub!
Der Nacken schimmert auf
die Sonne hebt den Morgen an.
Viel tausend Strahlen wehen Leben auf
Gedicht
aus jedem Halme blüht Geburt ans Licht.
Singe, Herz, die Seele der Welt.
Singe, Seele, die Gewitter des Zornes.
Singe, Gewitter, den hohen Geist.
Meine Hände falten Gebete um Sonne
ich wandere im Grunde des Lebens,
alle Sterne sind stumm geworden.

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