Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 8.1917-1918

DOI Heft:
Sechstes Heft
DOI Artikel:
Mürr, Günther: Heimkehr
DOI Artikel:
Walden, Herwarth: Kritiker: Tragikkomödie in drei Personen
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.37114#0094
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Heimkehr
Günther Mürr
Fall ich, von Heimwehsaft durchquellt,
fall ich schmerzüberschwer
Dir, süß Marienkind,
in spielenden Schoß.
Breit über mich tontrunken, zärtliche Hände.
In trautem Grab mir selbst absterben.
Die Welt geht auf.
Hand — Hand, nur Eins,
lachendes jungvertrautes Wir.
Dann dunkler Seidenvorhang:
Innigkeit in langen Wellen.
Hand — Kopf, Hand — Knie,
so tausendfach und eins.
Ernst spielt und Jubel schluchzt.
Fontäne
fällt selig weinend, blinkend selbst sich in den Schoß.
Herz weit, Herz nah
Tiefe unter über Tiefe
Ein Spalt ins Ewig
geht zögernd auf.
Flammt nun wieder im Ich
Glut aus tieferen Himmeln als sonnenorts?
Vereister Quell taut auf,
wogend, gießt sich hin.
Angst löst sich auf und Gier.
Schweiß der Seele wird fortgespült.
Schäumt es über die Ränder des Raums,
spürt im Ewigen streichelnde Liebeshand.
Nun glätte Demut süß Dich hin,
nun bette betend Stirn am Grund,
nun hauch Dich fort aus eignem Mund.
Neu erschlossener Himmel.
Zeit und Ort zappeln unten im Irgendwo.
Gnade, Liebe und Ewigkeit:
Unser Vater.

Kritiker
Tragikomödie in drei Personen
Herwarth Waiden
Der Humorist
Herr Karl Scheffler, der ernst wie das Leben ist, will jetzt
auch heiter wie die Kunst sein. Zu diesem Zweck hat er seine
redaktionelle Tätigkeit erweitert. Seine Zeitschrift Kunst und
Künstler, worunter der Maler Max Liebermann zu verstehen
ist, veröffentlicht Künstleranekdoten. Künstler sind be-
kanntlich ein heiteres Völkchen, und der genannte Herr Karl
Scheffler will sich auf diese Weise an die Kun.t heranschäkern.
Die erste Anekdote seiner Ausgabe vom 1. August NEUNZEHN-
HUNDERTUNDSIEBENZEHN (so ernst ist Herrn Scheffler
dieses Jahr) heißt: „Das Künstlerkleid. Eine fanatische An-
hängerin der Reformtracht,, die über ihren mageren Körper bei
festlichen Gelegenheiten ein modernes Künstlerkleid zu ziehen
pflegte, wurde von ihrem Mann mit diesen Worten einem Be-
kannten vorgestellt: Und dieses ist meine Frau. Wo die Brosche
sitzt, ist vorne." Die Veröffentlichung dieses ältesten Börsen-
witzes spricht Bände von Kunst und Künstler und verrät das
Verhältnis des Herrn Scheffler zur Kunst. Auch sein Meister
Liebermann hat es. Herr Scheffler veröffentlicht nämlich eine
zweite Künstleranekdote: „Liebermann zu einem Käufer, der
ihn zur Vielmalerei verführen wollte: Wissen Sie, lieber Herr,
ich bin nicht mit der Kunst verheiratet; ich habe ein Verhältnis
mit ihr." Dieses Bild müßte Herr Karl Scheffler malen. Rechts

unten sitzt der Meister Liebermann, links unten der Verführer
in der Idealgestalt des Besitzers der Broschenfrau, in der Mitte
die Kunst, idealisiert nach Schefflers Künstleranekdoten. Und
wo die Brosche sitzt, hat sich die Kunst geflüchtet.
Der Heldenvater
Herr Franz Servaes, als sogenannter Dichter ein mäßiger
Scheerbart-Epigone, als sogenannter Redakteur ein Jahrzehnt
mit technischen Hilfsarbeiten an der Neuen Freien Presse be-
schäftigt gewesen, wagt es, seit zwei Jahren Kunstkritiken in
der Vossischen Zeitung zu schreiben. Ich habe seine Unfähig-
keit, Bilder zu sehen und noch darüber zu schreiben, bisher
Mbelächelt. Spaß muß sein, und ich bin für Spaß. Mir sind die
{(Herren Kritiker nur Gleichnisse. Ich brauche meine Modelle
jb nicht zu wechseln. Denn alles, was die Herren schreiben, haben
die Kollegen schon geschrieben. Dummheit ist nicht ursprüng-
' lieh, sie ist nur sprunghaft. Und diese Leute haben kein Ge-
dächtnis. Sie vergessen eine Dummheit über die andere. Sie
widersprechen sich, weil sie nicht sprechen können. Sie wider-
schreiben sich, weil sie nicht schreiben können. Und sie wun-
dern sich. Sie wundern sich, daß die Kunst ist, ohne daß sie
sind. Sie sprechen zu den sehr geehrten Abonnenten ihrer
geschätzten Zeitungen, aber die Abonnenten hören sie nicht.
Die Herren Kunstkritiker werden überrannt. Sie sind von der
Kunst erschlagen. Und ich bin glücklich, daß ich Hammer sein
durfte.
Nun röchelt Herr Servaes am Wege: „Herwarth Waiden,
der Sturmbeschwörer hat die bisherigen sehr unzureichenden
Ausstellungsräume im Seitenflügel des Hauses Potsdamer Straße
134 a verlassen und im ersten Stock des Vorderhauses neue
gute und lichte Räume bezogen." Mir ist zwar nichts von
meinem Umzug bekannt, ich wohne noch immer, wo ich wohnte.
Aber Herr Servaes, der bei mir nicht verkehrt, muß es ja
wissen. Weniger poetisch gesagt: Die Kunstausstellung Der
Sturm ist aus guten zureichenden Räumen in andere gute zu-
reichende Räume desselben Hauses verlegt worden. Herr Franz
Servaes hat offenbar journalistische Beziehungen zu dem Be-
sitzer dieses Hauses. Denn er schreibt: „Indem er hierdurch
bekundet, daß sein Geschäft „blüht", hat er zugleich die Ver-
pflichtung empfunden, eine neue Gesamtschau abzuhalten."
Herr Franz Servaes hat also offenbar auch Beziehungen zu den
Büros des Sturm, weil er doch so genau weiß, wozu ich Ver-
pflichtungen empfinde. Ich besitze leider nicht die blühende
Geschäftsphantasie des Herrn Kunstkritiker Servaes, freue mich
aber, daß er sich so menschlich für mich interessiert. Ich will
ihn sogar gern zum Buchhalter der Kunstausstellung Der Sturm
ernennen. Vielleicht ist das ein Buch, das er verstehen kann.
Trotzdem ich bezweifle, daß seine gärtnerischen Fähigkeiten
des Blühens sich erheblich dabei auswachsen werden. Aber
der Umzug hat Herrn Franz Servaes noch weiter aus seinem
Häuschen gebracht: „Er will hierdurch offenbar die errungene
Machtstellung an den Tag legen, fordert aber desto entschiede-
ner zur Kritik heraus." Da liegt einer am Wege und glaubt
sich herausgefordert. Nein, Herr Franz Servaes, Sie sind nicht
herausgefordert. Ich kämpfe nur mit Gegnern, die ebenbürtig
sind. Ich habe Ihnen noch kein Haar gekrümmt. Ich müßte
mich dazu beugen. Denn Sie stolpern hin und her vor meinen
Füßen. Aber ich lächle. Sie gestatten doch, daß ich lächle.
Von den neuen guten und lichten Räumen hinab auf die Straße,
wo Sie schimpfen. Sie schimpfen. Ich lächle. Sie schimpfen
mit dem Pathos der Distanz. Von der Straße hinauf in die
neuen guten und lichten Räume. Kaum ein Vorübergehender
hört es. Denn jeder geht bei dem Schimpfenden vorüber, hin-
ein, hinauf in die neuen guten und lichten Räume. Nicht einmal
die Leser der Vossischen Zeitung kennen Sie. Sie lesen über
Sie hinweg, aber sie lesen Sie nicht auf. Denn Sie schimpfen,
aber ich lächle. Die Machtstellung der Kunst ist errungen.
Ich bin glücklich, daß ich Hammer sein durfte.
Von der Straße höre ich es heraufschimpfen: „Klarer war
es nie, daß, was diese Scharen einigt, nur das Dogma und nicht
das Talent ist. Mit anderen Worten: Neben einigen wenigen
originalen, wenn auch unausgegorenen Erscheinungen bewegt

88
 
Annotationen