Der Sinn des Mitteids
Lothar Schreyer
Das Leiden der Menschheit schreit zur Menschheit. Die Welt-
wende, die wir erleben, zerreist Menschen und Völker. Noch
suchen einzelne und viele die Stimme des Leidens zu überhören
und wollen die Augen schließen vor der Not der Welt. Aber
leugnen kann keiner die Tatsache des Leidens.
In dieser Weltnot vergeht eine alte und wird eine neue Welt.
Das Leiden des Weltsterbens, das Leiden der Weltgeburt wan-
delt uns Menschen der Weltwende. Wir können nicht mehr in
den alten Werten fühlen und denken. Neue Werte werden in
uns. Alte Werte empfangen einen neuen Sinn und der neue
Sinn erzeugt in ihnen eine neue Kraft. Die Erkenntnis des neuen
Sinnes, der nicht notwendig ein neuer, sondern nur ein anderer,
der Weltwende gemäßer Sinn ist, erscheint grausam wie jeder
Vorgang des Vergehens. Aber wie jedes Vergehen ein Vorgang
der Reinigung ist, so entsteht ein gereinigter Wert, dessen reini-
gende Kraft uns durchdringt. Die Werte wandeln sich und wan-
deln uns Menschen.
Das Verhältnis des leidenden Menschen zum leidenden Menschen
wird ein anderes. Mitleid heißt dieses Verhältnis.
Der Sinn des Mitleids wandelt sich.
Was ist der alte Sinn des Mitleids? Wir sehen einen Menschen
leiden. Es tut uns weh, ihn leiden zu sehen. Es ist ein dunkler
Trieb, der in uns dieses Gefühl hervorruft. Vielleicht haben wir
dabei auch den Gedanken, daß wir einmal in ähnlichen leiden-
den Zustand geraten sind oder geraten können. Jedenfalls füh-
len wir in diesem Augenblick mit dem Leidenden. Wir leiden
mit ihm. Wir bemitleiden ihn. Aus dem Gefühl des Mitleids
wird die Handlung des Mitleids. Der Mitleidige sucht den Lei-
denden in seinem Leid zu trösten. Das Gefühl und die Handlung
des Mitleids sind nach der bisherigen Moral so eng verbunden,
daß der untätig Mitleidende nicht als mitleidig empfunden wird.
Andrerseits wird allerdings auch nach der bisherigen Moral
jeder, der ohne Gefühl des Mitleids wie ein Mitleidiger handelt,
nicht als mitleidig angesehen. Auch wer noch nicht über den
Sinn des Mitleids nachgedacht hat, wird wissen, daß viele mit-
leidige Handlungen, die ohne Mitleid getan werden, ebenso heil-
sam zu wirken scheinen wie die mitleidvollen Handlungen.
Stiftet z. B. ein reicher Fabrikherr eine Million Mark zum Bau
gesundheitsgemäßer Arbeiterwohnungen, weil er weiß, daß ge-
sund wohnende Arbeiter besser für ihn arbeiten können als un-
gesund wohnende, so wirkt diese Handlung nach außen ebenso
mitleidig, als wäre sie aus dem Motiv des Mitleids getan. Trotz-
dem wird diese Handlung ernsthaft niemand mitleidig nennen.
Aber jeder wird ,,die Witwe, die ihr Scherflein gibt", mitleidig
nennen. Aus diesem Vergleich ergeben sich die Fragen, ob nach
der bisherigen Lehre die Handlung des Mitleids unwesentlich
für das Mitleid ist und ob das Mitleid sich nur in Handlungen ganz
bestimmter Art äußern kann. Es wird niemand bezweifeln, daß
ein Mitleid ohne Objekt nach der bisherigen Lehre nicht mög-
lich ist. Es muß etwas da sein, mit dem ich Mitleid habe. Es ist
nicht nötig, daß dies ein Mensch ist. Auch mit einem Tier ist
Mitleid möglich. Objekt des Mitleids braucht nicht ein anderer
Mensch zu sein. Ich kann auch mit mir selbst Mitleid haben.
Da dieses Mitleid jedenfalls ein bestimmtes Objekt hat, muß
es sich in bestimmter Richtung äußern. Der Mensch kann sich
aber in bestimmter Richtung nicht anders äußern als durch eine
Handlung im weitesten Sinne, mag diese Handlung nun mehr
oder weniger sichtbar sein. Ein Händedruck, ein Blick genügt.
Eine Handlung gehört also zum Wesen dieses Mitleids. Muß
diese Handlung nun besonderer Art sein? Vielleicht ist sie nur
auf Objekte mit besonderem Leiden gerichtet. Es gibt vorwie-
gend körperliche und vorwiegend geistige (seelische) Leiden.
Mit jedem körperlich oder geistig leidenden Wesen ist Mitleid
denkbar. Kommt es darauf an, in wie weitem Maße Leiden ge-
stillt wird? Sicherlich nicht, wenn wir die Handlung des Fabrik-
herrn und der armen Witwe vergleichen. Und warum nicht?
Weil der Glaube besteht, daß nur eine wahrhaft mitleiderfüllte
wohltätige Handlung innerlich wirkt. Also kommt es der Lehre
dieses Mitleids nur auf die innerliche Wirkung an. Die inner-
liche Wirkung ist geistige Beziehung des Mitleidigen zu dem
Bemitleideten. Nur Handlungen dieser Art sind mitleidig. Und
ohne solche Handlung ist dieses Mitleid nicht denkbar. Ist diese
innerliche Wirkung zugleich eine Leidheilung? Es kann eine
Leidheilung sein oder ein Leidheilung kann die weitere Folge
sein. Notwendig ist sie nicht. Die mitleiderfüllte Handlung wird
nicht unmitleidig, wenn sie das Leid des Bemitleideten nicht
heilt. Sie ist selbst dann nicht unmitleidig, wenn die innerliche
Wirkung nur eine einseitige ist, wenn der Bemitleidete die
Handlung des Mitleidigen ablehnt. Vielleicht hält man dem
entgegen, daß zur späteren Zeit eine Nachwirkung eintritt oder
die Wirkung sich unbewußt vollzieht. Das ist möglich. Aber
wir nennen eine Handlung nicht erst dann mitleidig, wenn wir
ihre Heilswirkung geprüft haben oder prüfen können. Es er-
scheit sogar in vielen Fällen ausgeschlossen, eine Heilswirkung
überhaupt festzustellen. Und es ist sehr wohl denkbar, daß das,
was wir für eine Heilswirkung halten, keine solche ist. Wenn
wir die Heilswirkung nicht oder nicht bestimmt erkennen kön-
nen, so wird vielleicht noch eingewandt, daß dann das Mitleid
nicht stark genug war. Nun ist gewiß die Mitleidskraft bei den
verschiedenen Menschen verschieden stark. Aber auch ein
schwaches Mitleid ist Mitleid. Und der erste schwache Ver-
such eines Menschen, Mitleid zu üben, der es bisher nie übte,
und der keine Erwiderung bei dem Bemitleideten findet, kann
nach dieser Lehre erschütternde Bedeutung haben, denn ein
neuer Mensch hat sich durch seine Uebung zu ihr bekannt.
Diese Lehre wandelt sich um.
Wir gehen aus von der Tatsache des Leidens. Das Leiden ist
körperlich oder geistig (seelisch). Körperliche und geistige Lei-
den sind untrennbar. Nur durch das Bewußtsein unseres Gei-
stes leiden wir, sind wir unserer Leiden bewußt. Alle seeli-
schen Leiden sind nichts anderes als Bewußtseinsvorgänge, als
geistige Leiden. Außerhalb seines Bewußtseins kennt sich der
Mensch nicht, kann er also auch nicht leiden. Wer eine Lei-
densheilurg versucht, muß eine körperlich-geistige Wirkung zu
erreichen versuchen. Die innerliche Beziehung eines Mitleidi-
gen zu einem Bemitleideten ist körperlich-geistiger Art. Wir
mußten schon nach der alten Lehre sehen, daß aus dieser Be-
ziehung nicht notwendigerweise eine Heilswirkung folgt. Wir
fragen nun weiter: ist eine LIeilswirkung überhaupt möglich?
Mit der Vorstellung einer Heilswirkung nehmen wir die Mög-
lichkeit an, daß das Leiden zu heilen ist, und zwar durch die
Mitwirkung eines anderen Menschen. Heilung vom Leiden ist
Gesundung durch einen körperlich-geistigen Einfluß. Dieser
Einfluß vollzieht sich so, daß die körperlich-geistige Not des
Menschen gestillt wird. Die Quelle alles Leidens ist die kör-
perlich-geistige Unbefriedigtheit. Durch mitleiderfüllte Hand-
lungen, die als Wohltat und Trost erscheinen, sucht der Mit-
leidige die körperlich-geistigen Bedürfnisse des anderen zu
stillen. Durch solche Handlungen ist das Leiden vielleicht ge-
stillt. Aber es ist eben nur still gemacht, nur beruhigt. Es ist
trotzdem da, allen Sinnen und Gedanken greifbar. Denn auch
das so gestillte, ruhige Wesen leidet latent. Bis zum Schwin-
den des Bewußtseins leidet es. Es sind nur Schutzvorstellun-
gen, innerhalb deren der Bewußte nicht mehr zu leiden glaubt.
Auch der Kranke, der glaubt, daß er gesund ist, ist krank, und
wenn er bis zum Tod an seine Gesundheit glaubt. Solange es
Leben gibt und überall, wo es Leben gibt, finden wir die Tat-
sache des Leidens.
Wir erkennen, daß die Heilswirkung des Mitleids ein frommer
Irrtum ist.
Mit dieser Erkenntnis stellt sich die Frage ein: Hat denn nun
dieses Mitleid überhaupt einen Sinn? Denn wir haben jetzt der
Handlung des Mitleids, ohne die das Mitleid nicht denkbar
scheint, den Zweck genommen. Aber das Mitleid hat noch ein
Objekt. Eine Wirkung mit nur eingebildetem Zweck ist denk-
bar. Das Mitleid soll also auf ein leidendes Wesen gerichtet
sein. Es wird vorgegeben, mit diesem Wesen zu leiden. Das
heißt: das Leiden des anderen Menschen tut uns so leid, daß
wir unter seinem Leiden mitleiden. Wir sind es also, die durch
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Lothar Schreyer
Das Leiden der Menschheit schreit zur Menschheit. Die Welt-
wende, die wir erleben, zerreist Menschen und Völker. Noch
suchen einzelne und viele die Stimme des Leidens zu überhören
und wollen die Augen schließen vor der Not der Welt. Aber
leugnen kann keiner die Tatsache des Leidens.
In dieser Weltnot vergeht eine alte und wird eine neue Welt.
Das Leiden des Weltsterbens, das Leiden der Weltgeburt wan-
delt uns Menschen der Weltwende. Wir können nicht mehr in
den alten Werten fühlen und denken. Neue Werte werden in
uns. Alte Werte empfangen einen neuen Sinn und der neue
Sinn erzeugt in ihnen eine neue Kraft. Die Erkenntnis des neuen
Sinnes, der nicht notwendig ein neuer, sondern nur ein anderer,
der Weltwende gemäßer Sinn ist, erscheint grausam wie jeder
Vorgang des Vergehens. Aber wie jedes Vergehen ein Vorgang
der Reinigung ist, so entsteht ein gereinigter Wert, dessen reini-
gende Kraft uns durchdringt. Die Werte wandeln sich und wan-
deln uns Menschen.
Das Verhältnis des leidenden Menschen zum leidenden Menschen
wird ein anderes. Mitleid heißt dieses Verhältnis.
Der Sinn des Mitleids wandelt sich.
Was ist der alte Sinn des Mitleids? Wir sehen einen Menschen
leiden. Es tut uns weh, ihn leiden zu sehen. Es ist ein dunkler
Trieb, der in uns dieses Gefühl hervorruft. Vielleicht haben wir
dabei auch den Gedanken, daß wir einmal in ähnlichen leiden-
den Zustand geraten sind oder geraten können. Jedenfalls füh-
len wir in diesem Augenblick mit dem Leidenden. Wir leiden
mit ihm. Wir bemitleiden ihn. Aus dem Gefühl des Mitleids
wird die Handlung des Mitleids. Der Mitleidige sucht den Lei-
denden in seinem Leid zu trösten. Das Gefühl und die Handlung
des Mitleids sind nach der bisherigen Moral so eng verbunden,
daß der untätig Mitleidende nicht als mitleidig empfunden wird.
Andrerseits wird allerdings auch nach der bisherigen Moral
jeder, der ohne Gefühl des Mitleids wie ein Mitleidiger handelt,
nicht als mitleidig angesehen. Auch wer noch nicht über den
Sinn des Mitleids nachgedacht hat, wird wissen, daß viele mit-
leidige Handlungen, die ohne Mitleid getan werden, ebenso heil-
sam zu wirken scheinen wie die mitleidvollen Handlungen.
Stiftet z. B. ein reicher Fabrikherr eine Million Mark zum Bau
gesundheitsgemäßer Arbeiterwohnungen, weil er weiß, daß ge-
sund wohnende Arbeiter besser für ihn arbeiten können als un-
gesund wohnende, so wirkt diese Handlung nach außen ebenso
mitleidig, als wäre sie aus dem Motiv des Mitleids getan. Trotz-
dem wird diese Handlung ernsthaft niemand mitleidig nennen.
Aber jeder wird ,,die Witwe, die ihr Scherflein gibt", mitleidig
nennen. Aus diesem Vergleich ergeben sich die Fragen, ob nach
der bisherigen Lehre die Handlung des Mitleids unwesentlich
für das Mitleid ist und ob das Mitleid sich nur in Handlungen ganz
bestimmter Art äußern kann. Es wird niemand bezweifeln, daß
ein Mitleid ohne Objekt nach der bisherigen Lehre nicht mög-
lich ist. Es muß etwas da sein, mit dem ich Mitleid habe. Es ist
nicht nötig, daß dies ein Mensch ist. Auch mit einem Tier ist
Mitleid möglich. Objekt des Mitleids braucht nicht ein anderer
Mensch zu sein. Ich kann auch mit mir selbst Mitleid haben.
Da dieses Mitleid jedenfalls ein bestimmtes Objekt hat, muß
es sich in bestimmter Richtung äußern. Der Mensch kann sich
aber in bestimmter Richtung nicht anders äußern als durch eine
Handlung im weitesten Sinne, mag diese Handlung nun mehr
oder weniger sichtbar sein. Ein Händedruck, ein Blick genügt.
Eine Handlung gehört also zum Wesen dieses Mitleids. Muß
diese Handlung nun besonderer Art sein? Vielleicht ist sie nur
auf Objekte mit besonderem Leiden gerichtet. Es gibt vorwie-
gend körperliche und vorwiegend geistige (seelische) Leiden.
Mit jedem körperlich oder geistig leidenden Wesen ist Mitleid
denkbar. Kommt es darauf an, in wie weitem Maße Leiden ge-
stillt wird? Sicherlich nicht, wenn wir die Handlung des Fabrik-
herrn und der armen Witwe vergleichen. Und warum nicht?
Weil der Glaube besteht, daß nur eine wahrhaft mitleiderfüllte
wohltätige Handlung innerlich wirkt. Also kommt es der Lehre
dieses Mitleids nur auf die innerliche Wirkung an. Die inner-
liche Wirkung ist geistige Beziehung des Mitleidigen zu dem
Bemitleideten. Nur Handlungen dieser Art sind mitleidig. Und
ohne solche Handlung ist dieses Mitleid nicht denkbar. Ist diese
innerliche Wirkung zugleich eine Leidheilung? Es kann eine
Leidheilung sein oder ein Leidheilung kann die weitere Folge
sein. Notwendig ist sie nicht. Die mitleiderfüllte Handlung wird
nicht unmitleidig, wenn sie das Leid des Bemitleideten nicht
heilt. Sie ist selbst dann nicht unmitleidig, wenn die innerliche
Wirkung nur eine einseitige ist, wenn der Bemitleidete die
Handlung des Mitleidigen ablehnt. Vielleicht hält man dem
entgegen, daß zur späteren Zeit eine Nachwirkung eintritt oder
die Wirkung sich unbewußt vollzieht. Das ist möglich. Aber
wir nennen eine Handlung nicht erst dann mitleidig, wenn wir
ihre Heilswirkung geprüft haben oder prüfen können. Es er-
scheit sogar in vielen Fällen ausgeschlossen, eine Heilswirkung
überhaupt festzustellen. Und es ist sehr wohl denkbar, daß das,
was wir für eine Heilswirkung halten, keine solche ist. Wenn
wir die Heilswirkung nicht oder nicht bestimmt erkennen kön-
nen, so wird vielleicht noch eingewandt, daß dann das Mitleid
nicht stark genug war. Nun ist gewiß die Mitleidskraft bei den
verschiedenen Menschen verschieden stark. Aber auch ein
schwaches Mitleid ist Mitleid. Und der erste schwache Ver-
such eines Menschen, Mitleid zu üben, der es bisher nie übte,
und der keine Erwiderung bei dem Bemitleideten findet, kann
nach dieser Lehre erschütternde Bedeutung haben, denn ein
neuer Mensch hat sich durch seine Uebung zu ihr bekannt.
Diese Lehre wandelt sich um.
Wir gehen aus von der Tatsache des Leidens. Das Leiden ist
körperlich oder geistig (seelisch). Körperliche und geistige Lei-
den sind untrennbar. Nur durch das Bewußtsein unseres Gei-
stes leiden wir, sind wir unserer Leiden bewußt. Alle seeli-
schen Leiden sind nichts anderes als Bewußtseinsvorgänge, als
geistige Leiden. Außerhalb seines Bewußtseins kennt sich der
Mensch nicht, kann er also auch nicht leiden. Wer eine Lei-
densheilurg versucht, muß eine körperlich-geistige Wirkung zu
erreichen versuchen. Die innerliche Beziehung eines Mitleidi-
gen zu einem Bemitleideten ist körperlich-geistiger Art. Wir
mußten schon nach der alten Lehre sehen, daß aus dieser Be-
ziehung nicht notwendigerweise eine Heilswirkung folgt. Wir
fragen nun weiter: ist eine LIeilswirkung überhaupt möglich?
Mit der Vorstellung einer Heilswirkung nehmen wir die Mög-
lichkeit an, daß das Leiden zu heilen ist, und zwar durch die
Mitwirkung eines anderen Menschen. Heilung vom Leiden ist
Gesundung durch einen körperlich-geistigen Einfluß. Dieser
Einfluß vollzieht sich so, daß die körperlich-geistige Not des
Menschen gestillt wird. Die Quelle alles Leidens ist die kör-
perlich-geistige Unbefriedigtheit. Durch mitleiderfüllte Hand-
lungen, die als Wohltat und Trost erscheinen, sucht der Mit-
leidige die körperlich-geistigen Bedürfnisse des anderen zu
stillen. Durch solche Handlungen ist das Leiden vielleicht ge-
stillt. Aber es ist eben nur still gemacht, nur beruhigt. Es ist
trotzdem da, allen Sinnen und Gedanken greifbar. Denn auch
das so gestillte, ruhige Wesen leidet latent. Bis zum Schwin-
den des Bewußtseins leidet es. Es sind nur Schutzvorstellun-
gen, innerhalb deren der Bewußte nicht mehr zu leiden glaubt.
Auch der Kranke, der glaubt, daß er gesund ist, ist krank, und
wenn er bis zum Tod an seine Gesundheit glaubt. Solange es
Leben gibt und überall, wo es Leben gibt, finden wir die Tat-
sache des Leidens.
Wir erkennen, daß die Heilswirkung des Mitleids ein frommer
Irrtum ist.
Mit dieser Erkenntnis stellt sich die Frage ein: Hat denn nun
dieses Mitleid überhaupt einen Sinn? Denn wir haben jetzt der
Handlung des Mitleids, ohne die das Mitleid nicht denkbar
scheint, den Zweck genommen. Aber das Mitleid hat noch ein
Objekt. Eine Wirkung mit nur eingebildetem Zweck ist denk-
bar. Das Mitleid soll also auf ein leidendes Wesen gerichtet
sein. Es wird vorgegeben, mit diesem Wesen zu leiden. Das
heißt: das Leiden des anderen Menschen tut uns so leid, daß
wir unter seinem Leiden mitleiden. Wir sind es also, die durch
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