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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 9.1918-1919

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Elftes Heft (Februar 1919)
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Schreyer, Lothar: Der Sinn des Mitleids
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Allwohn, Adolf: Nachspiel
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Heynicke, Kurt: Gedichte
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https://doi.org/10.11588/diglit.37111#0147

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den anderen leiden. Ohne dieses unser Leiden ist dieses unser
Mitleid gar nicht möglich. Dieses Leiden ist diesem Mitleid
notwendig und wesentlich. Diese Mitleidigen selbst sind die
Leidenden. Und sie suchen ihr eigenes Leiden zu stillen, zu be-
ruhigen, während sie glauben, daß es ihnen nur um das Leiden
der Bemitleideten zu tun ist. Sie befreien freilich ebenso wenig
sich wie den Bemitleideten vom Leiden. Wesentlich für das
Mitleid ist es nicht, daß ein anderer leidet. Es gibt Mitleid mit
sich selbst. Der Mitleidige, der sich selbst zum Objekt setzt,
vervielfacht sein Leiden. Er leidet an seinem Leiden. Kann
aber ein Mensch zugleich Subjekt und Objekt seines eigenen
Leidens sein? Das ist unmöglich. Was ich auch leide, immer
ist es mein Ich, das leidet. Der Mitleidige mit sich selbst ist
also der Leidende. Da ich das Leiden nur in mir fühlen kann,
kann ich auch nur mein Leiden fühlen. Und wenn das Leiden
anderer Wesen in mir Leiden erzeugt, so leide ich mein eigenes
Leiden und nicht das Leiden anderer. Der Mitleidige mit einem
anderen Wesen ist also der Leidende. Mein eigenes Leiden ist
es, was ich stillen will, wenn ich das Leiden anderer stillen will
und dadurch den Grund zu meinem eigenen Leiden zu beseiti-
gen suche.
Wir erkennen, daß das Objekt des Mitleids ein frommer
Irrtum ist. ^
Die mitleidige Handlung ist nun ihrer Heilswirkung und ihres
Objekts entkleidet. Die Handlung ist nicht mehr auf ein Ziel
gerichtet. Der Mitleidsvorgang erfüllt sich im Subjekt. Der
Leidende leidet. Dieses Leiden des nun erkannten Mitleidigen
ist keine Handlung. Das Leiden ist reines Fühlen. Das Leiden
kann Ursache und Folge einer Handlung sein. Das Leiden selbst
kann sich als Handlung äußern. Jedoch wesentlich ist die Ver-
knüpfung des Leidens mit der Handlung nicht. Das Gefühl des
Leidens ist Grundtatsache des Geschehens. Aber der Leidende
muß nicht handeln. Die Handlung ist nicht wesentlich dem
Leid, dem Mitleid.
Wir erkennen, daß die Handlung des Mitleids ein frommer
Irrtum ist.
Ein Irrtum wird dadurch nicht entschuldbar oder weniger
schwer, daß wir ihn fromm nennen. Wir nennen ihn fromm, um
zu sagen, daß die Frömmigkeit die Welt in schwere unentschuld-
bare Irrtümer verstrickt.
Nun wir die Irrtümer des alten Mitleids erkannt haben, be-
ginnen wir das neue Mitleid zu erkennen.
Wir Mitleidende sind Leidende. Jedes lebende Wesen leidet.
Darum leiden auch wir. Darum leidet auch alles um uns. Darum
sind wir Mitleidende Auchleidende. Darum sind die Auch-
leidenden unsere Mitleidenden. Darum sind alle Wesen Mit-
leidige.
Dieses Mitleid äußert sich in der Tatsache des Leides. Diese^
Leiden ist allen Wesen gleich und nur die Stärke des Leidens
ist verschieden. Das Gefühl des Leidens ist das Gemeinschafts-
gefühl der Lebendigen.
Da wir unser Leiden erkannt haben, können wir uns nicht mehr
über uns selbst täuschen. Wir lehnen daher alle „mitleidigen"
Handlungen ab, die unser Leiden stillen wollen und es doch nie-
mals aufheben können.
Erkenne, daß du leidest, solange du Bewußtsein hast. Erkenne,
daß alle Wesen leiden, solange sie Bewußtsein haben. Also
bekenne das Leiden.
Du kannst dein Leiden nicht aufheben, solange du Bewußtsein
hast. Du kannst das Leiden keines Wesens aufheben, solange
es Bewußtsein hat. Also versuche nicht das Unmögliche.
Diese Sätze sind Voraussetzung des Mitleids der in der Welt-
wende werdenden Zeit.
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Nachspiet
Adolf Allwohn
Für Arnold Topp
Nur der Tote kann beten
Lust trieb raffte den Tag erstorben
Spielen Traumhand die Blüten
Oh so leicht weihrauht der Dom in den Himmel des Letzten
Häuser schmerzen Risse
Der Schweiß tropft von den Weiden
Die Liebe ist fern und gebeugt
Der Purpur trauert die Tiere
Klage schnittert der Mond
Blut ist auf den Dächern
Die Sonne ist groß und gefallen
Der grüne Baum dunkelt die Schau
Und die Tiere nüstern das Rätsel der Nacht.
Wir spielen
Blau blitzt der Stern die Fenster auf
Goldene Früchte silbert das Lächeln in die Wiese
Und grün klettern Wolken durch der Zäune Tag.
Das Wunder wächst weint rot aus den Welten
Du wanderst das schweigende Leid in dir
Still staunt sich Verzücken tot in das Grab
Türmen türmen den Berg
Ich bete die Streben
Steil
Ich kreuze die Türme
Handüber die Sterne
Die Sterne und Monde
Lichtnebel der Leuchten rauschüber gebaut in die Firnen der
Wolke
Rauschunter gebeugt in das Blau glimmer Gluten
Kreise die Hände liebgolde die Tore
Gottspiel die Träume Ineinsstrahl der Ring.


Gedichte
Kurt Heynicke
Lieder an Gott
Ich bin hinausgestoßen in die Welt
den Gang der Erde kreisend mitzuwiegen,
ich bin erhellt von deiner Flamme,
Herr, ich bin!
Ich bin im Kreise wandelnd festgeschlossen,
ich bin hinausgegossen in das Meer,
ich reige meinen Tanz an Händen fremder Brüder.
Dein Willen will mich an mich binden,
gottüberströmt will ich den Ursprung finden
Herr
ich bin!
* *
Die Nächte rauschen auf mit fernem Urgesicht.
In meine Augen fällt das blaue Licht.
Stern meiner Seelen — Heimat glanzumflossen!
Du Weltgebärer in den tiefsten Sternen,
entfernen will ich meinen Schlaf vor dir
urewig wachend wie die Gottesaugen!
* * *
Du hast mich hoch gebaut.
Du gibst mein Haupt in deinen Schoß
tief meine Glieder in den Staub der Erde.
All meine Stimmen jauchzen dir entgegen,
ich fühle tausend Segen niederrauschen
am fernsten Ohr der Welt lauscht meine Seele.
Von dir erhoben knie ich an der Stementür:
Herr
Kröne mich mit dir!

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