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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 9.1918-1919

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Viertes Heft (Juli 1918)
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Friedlaender, Salomo: Die Entführung
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Walden, Herwarth: Scherz beiseite
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Cendrars, Blaise: Marc Chagall
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https://doi.org/10.11588/diglit.37111#0070

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kummervollen Nächte knödelig in der Kehle stecken. Onkel
Emil erhob sich, zitterte und stieß tiefe Seufzer aus, er ver-
schluckte sich am letzten Bissen. Da trat von Bohleke ins
Zimmer. ,,Gott, wie blühend siehst Du aus!" Spritztour, sagte
er jovial. War in Paraguay. Ausgezeichnete Verpflegung.
Schlechte Postverbindung. Vergebt mir diese Ueberraschung.
Der Großpapa fragte: ,,Kamillo, bist Du normal? In der
Nebenlinie hatten wir Paranoia." — ,,Uebernormal, Großvater!'
Er umschlang Margarete prüfend. Ach, sie fand ihn so sonder-
bar feurig. Onkel Emil wischte sich Mund und Augen. Diener
Wilhelm erhielt den Auftrag, zur Deutschen Bank zu gehen.
Seit einiger Zeit bemerkt man frische Schwungkraft im
Volke. Ueberall sieht man forsche junkerartige Herren, welche
aber dabei doch so leutselig auch zum Geringsten sind. Woher
kommt das? Marie, Justav, von Bohleke u. a. wissen Bescheid,
aber sie schweigen; sie empfangen schweigsam große Summen
Geldes, und alles steht sich gut dabei; und jeder Lebemann
fast erinnert sich mit Sehnsucht seiner Entführung.


Scherz beiseite
Dann gehen wir ins Maxim
Auf seiner westlichen Wanderschaft stimmt Herr Franz Servaes
ein Lied falsch an: ,,Doch Freunde nicht diese Töne, sondern
lasset uns lieben — ja lasset uns vom Allzukünstlerischen zum
Künstlerischen zurückkehren und lasset uns ein Freudenlied
anstimmen, daß einem unserer deutschesten Künstler ein so
herrliches Werk gelungen ist, wie unserm Max Klinger sein
großes Fresko ,,Arbeit, Wohlstand, Schönheit". Der deut-
schere Kritiker macht sich nun mit Wohlstand an die Arbeit
zur Besingung der Schönheit: ,,Mich dünkt, Klinger hat nie
Schöneres geschaffen. Gewiß nichts schöneres als das Halb-
dutzend lose bekleideter, zum Teil nackter weiblicher Einzel-
figuren, die von links her mit tanzartigen Schritten und rhyth-
misch ausdrucksvollen Gebärden den Vordergrund machtvoll
beleben." Herr Servaes hatte gerade den rechten Moment
abgepaßt, wo sich das Halbdutzend im Vordergrund befand.
Spätere Beschauer werden das Nachsehen haben. Die lose
bekleideten Halbdamen sind doch sicher indess nach rechts
hinten abgegangen. Höchstens, daß zukünftige Beschauer noch
die eine Dame vorfinden, die erst noch Toilette machen
muß: ,,Vor allem jene eine, herrlichste, die ihr weißes
Schleiergewand abwirft und dabei das blühende Eben-
maß ihres Körpers enthüllt, prägt sich unverwischbar unserem
Auge und Gedächtnis ein und wird uns noch bis in den
Traum hinein beseligen — als ein Wahrzeichen dessen, was
der deutschen Kunst Wunders genug unverloren blieb. Die
rechte Hälfte, auch noch reich und schön, ist doch minder ein-
drucksvoll, vor allem hier und da zu bedrängt," Schade, daß
die Dame das ganze Schleiergewand abgeworfen hat. Hätte sie
die rechte Hälfte bedeckt gelassen, dann würde Herr Servaes
seine Bewunderung noch in Musik gesetzt haben. So muß er
halt nur von der linken Hälfte träumen. Hoffentlich wischt er
sie nicht mit dem Schlaf aus den Augen, da ich ihn etwas un-
sanft erwecken muß. Es würde mir leid tun. Aber der Kritiker
muß es sich gefallen lassen, mit dem Ebenmaß gemessen zu
werden, das er selbst anwendet. Ein Halbdutzend loser be-
kleideter Damen, von denen eine sich sogar auszieht, haben
noch nie in der Wirkung versagt. Wenn aber die Damen sich
in Frankreich hätten photographieren lassen, so würde dieser
Kitsch nicht Schönheit, sondern Geilheit von den deutschesten
Kritikern genannt worden sein.
Vorbeigedichtete Erkenntnis
Ein Herr Kölwel verdichtet sich zu folgender Erkenntnis:
Und lange blutete der Riß:
Was bin ich, Herr, ach, gegen Dich?
Ein Werkelmann, der Verse macht
Geschichten knüpft in wirrer Nacht
Und Menschlein steckt an seinen Bühnenspieß.

Diesen Bühnenspieß konnte sich Herr Max Reinhardt nicht
entziehen. ,,Das junge Deutschland " hob ihn auf den Schild
und die große Presse findet diese Dichtung so erhebend, ,,daß
sie nicht nur dem Dichter allein zu empfinden vergönnt sein
kann." Der Werkelmann sei also dem Deutschen Theater ge-

gönnt.
Stellenwechsel
,,Herwarth Waiden der Sturm-
beschwörer hat die bisher seht
unzureichenden Ausstellungs-
räume im Seitenflügel des Hau-
ses Potsdamer Str. 134a, und im
ersten Stock des Vorderhauses
neue gute und lichte Räume be-
zogen. Indem er hierdurch be-
kundet, daß sein Geschäft
,,blüht', hat er zugleich die
Verpflichtung empfunden eine
neue Gesamtschau abzuhalten.'
Herr Franz Servaes in derVos-
sischen Zeitung Juni 1916
Herr Servaes ist selbst für die
nungszeitung zu stimmungsvoll.

,,Unser künstlerisches Berlin
hat einen werten Zuwachs an
Ausstellungsräumlichkeiten
erhalten. Trotz dieser Zeiten
Not hat der Besitzer des Sa-
lons Gurlitt es fertig ge-
bracht, gegenüber seinen bis-
herigen Darbietungssälen, nur
durch den Hausflur getrennt
zwei neue der neuen Kunst
gewidmeten Säle auszubauen
und zu eröffnen."
Herr Franz Servaes in der
Vossischen Zeitung Juni 1918
Häuptschriftleitung der Woh-
Herwarth Waiden

Marc ChagaH
Er schläft
Nun ist er wach
Ganz plötzlich malt er
Greift eine Kirche malt mit einer Kirche
Greift eine Kuh und malt mit einer Kuh
Einer Sardine
Mit Schädeln Händen Messern
Malt mit dem Nervenseile eines Ochsen
Allen beschmutzten Leiden kleiner Judenstädte
Zerquält von Liebesbrünsten aus der Tiefe Rußlands
Für Frankreich
Tot Herz und Lüste
Er malt mit Schenkeln
Trägt im Steiß die Augen
Da ist es Euer Antlitz
Du bists geliebter Leser
Ich bins r
Er ists
Die eigne Braut
Der Krämer an der Ecke
Die Kuhmagd
Hebeamme
In Eimern Blute wäscht man Neugeborne
Himmelvoll Irrsinn
Mäuler sprudeln Moden
Der Eiffelturm gleicht einem Pfropfenzieher
Gehäufte Hände
Christus
Er selber Jesus Christus
Am Kreuz hat er die Jugend lang gelebt
Ein neuer Selbstmord jeder neue Tag
Ganz plötzlich malt er nicht mehr
Er war wach
Nun schläft er
Erdrosselt sich mit seinem Schlips
Chagall erstaunt
Ihn trägt Unsterblichkeit
Blaise Cendrars
Uebertragung: Rudolf Blümner


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