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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 9.1918-1919

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Zehntes Heft (Januar 1918)
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Hoeber, Fritz: Das Erlebnis der Zeit und die Willensfreiheit, [2]: Die intuitive Philosophie von Henri Bergson
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https://doi.org/10.11588/diglit.37111#0140

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Das Erlebnis der Zeit und die
Willensfreiheit
Die intuitive Philosophie von Henri Bergson
Fritz Hoeber
HI
Kants Auffassung der Zeit und sein Irrtum
Die Kantische Erkenntnislehre hat die Momente der Dauer, die
einander unlösbar sind, im Raum ausgebreitet. Sie nahm das
räumlich symbolisierte Abbild der duree iür die duree concrete
selbst, für die eigentliche Dauer, und verwechselte damit das
innere, persönliche Ich mit seinem in die Außenwelt projizier-
ten, roh verallgemeinerten Abbild. Dadurch erscheint Kant aber
als Ursache jenes philosophischen Alißverständnisses, das ver-
meint, die Bewußtseinstatsachen nur in der Nebeneinander-
reihung begreifen zu können, und das somit die intensive und
heterogene Dauer genau so als homogenes Medium behandelt
wie den extremen Räum: Die Einmaligkeit und Unwiederhol-
barkeit des geistigen Geschehens wird aufgegeben, indem die
psychischen wie die physischen Ereignisse derselben quanti-
fizierenden Kausalität unterworfen werden. — Daß trotzdem
Kant an der Willensfreiheit festhält ist weniger logische Folge
seines Systems als ein Glaubenssatz seines persönlichen
Idealismus: Das Kantische Ich steht dem Raum und der ver-
räumlichten Zeit gleich fremd gegenüber und erscheint deshalb
überhaupt unserm Erkenntnisvermögen unzugänglich.
Kants Erkenntnistheorie nimmt auf der einen Seite ,,Dinge an
sich" an, die durch die von ihr gleich behandelten Aledia des
Raumes und der Zeit hindurch erscheinen. Auf der andern
Seite stehen die äußeren Dinge, einen Gegensatz bildend zu
dem phänomenalen Ich unserer Selbstbestimmung. Die Not-
wendigkeit, außer den Dingen der Erscheinung auch ,,Dinge an
sich" noch anzunehmen, liegt bei Kant nicht in der logischen
Erkenntnisfolge der reinen Vernunft, sondern erst in der sitt-
lichen Forderung der praktischen Vernunft. Darin besteht aber
wie bereits betont, der metaphysische Gedankensprung des
Kantischen Systems.
Für Kant und die Kantianer ist die Erscheinungswelt, einerlei
ob sie sich im Raum oder in der Zeit auswirkt, ein homogenes
Medium: was sich in dessen räumliche Simultanität nicht über-
setzen läßt, ist für die Wissenschaft schlechthin unerkennbar.
Dabei wird freilich nicht berücksichtigt, daß eine solche Wirk-
lichkeit mit praktischem Zweck gerade erst für die wissen-
schaftliche, das heißt naturwissenschaftliche Erkenntnis herge-
richtet worden ist.
Die homogen gedachte Dauer bei Kant involviert aber auch den
Begriff der Determination, der Unfreiheit des Willens, da die-
selbe Kausalität, die gleichmäßig für die extensiven wie die
intensiven Geschehnisse gilt, Wiederholungen und damit die
Voraussehbarkeit der Ereignisse ermöglicht. Die Welt der
,,Dinge an sich" verlangt den metaphysischen Glau-?
h e n. — Läßt man dagegen die Momente der reinen Dauer ein-
ander innerlich sein, sich gegenseitig durchdringen, statt sie
nebeneinander im Raum äufzureihen, und verleiht ihnen ihre
autonome Heterogeneität, so verliert aller Determinismus seine
logische Möglichkeit und das in der Selbstbesinnung erfaßte
Ich gewinnt seine Freiheit zurück. Selbst die physischen Mo-
mente werden durch diese absoluten geistigen beständig durch-
drungen und sind darum keineswegs in ihrer ganzen Fülle be-
grifflich in dem Maße zu erfassen, wie dies das rationalistische
Denken der reinen Quantität, der verräumlichenden mathema-
tischen Disziplinen, tun zu können vermeint!
Die Auffassung der Wirklichkeit nach räumlichen Gesichts-
punkten und die quantitativ homogene Anordnung der sie er-
füllenden Materie hat den praktischen Vorteil, die Dinge in fest
zueinander abgegrenzten ,.Begriffen" zu verstehen und verleiht
diesen dadurch eine über das Individuelle hinausgehende, so-
ziale Verständlichkeit, Die Verräumlichung wird so zur
interpersonell begreifbaren Schematisie-
rung: ihr Hauptbeispiel ist die menschliche Sprache, ein räum-

lich noch konkreteres die menschliche Schrift. — Dem ist nun
aufs Schärfste entgegengesetzt das in der inneren Dauer sich
organisierende Ich. Dieses Ich aber veranlaßt auch die banal
klare räumliche Einteilung unserer außenweltlichen Wahr-
nehmungen: wie leicht gelangt es dann auch dazu, diese prakti-
sche Einteilung in das Innere der tiefen, konfusen Bewußtseins-
vorgänge zurückzuprojizieren. Damit werden jedoch, um ein
Bild Bergsons zu wiederholen, psychische Elementarzustände
mechanisch zu physischen Erlebnissen zusammengesetzt „wie
die Buchstaben eines Alphabets bei der Bildung von Worten".
Das Gefährliche hierbei ist, daß eine solche Vorstellung nicht
nur abstrakte Vorstellung bleibt, sondern tatsächlich von un-
serer ganzen Persönlichkeit Besitz ergreifen wird. Auf solche
Weise verdeckt sie aber die Freiheit durch den Automatis-
mus: Wdlenshandlungen werden durch die Verräumlichung der
bewußten Vorstellung zu bloßen Reflexhandlungen.
Die Psychophysiker wie die Kantianer benutzen nun diese räum-
lich veräußerlichten, homogen schematisierten Handlungen, um
daraus eine kausale Determination, analog der der sogenannten
Naturgesetze, abzuleiten. Ihre räumlich aufgefaßte Zeit kommt
ihnen dabei als homogenes Medium sehr zu statten. Die
Willensfreiheit, wird, zum mindesten für die Erkenntnis, un-
logisch, Höchstens läßt man sie, mit der bekannten kategori-
schen Forderung Kants, aus moralischen Gründen gelten, damit
der Alensch wenigstens in etwas „Ebenbild Gottes" bleibt und
nicht zur bloßen Maschine kcrabsinkt.
Versetzen wir uns jedoch in die Alomente bedeutsamer
Entscheidungen unsers Lebens zurück, so tritt uns das
Gefühl von deren Einzigartigkeit und Unwiederholbärkeit mit
Deutlichkeit ins Bewußtsein: Wir können sie nicht in der Sym-
bolik der Worte reproduzieren, noch können wir sie aus ein-
fach nebeneinander gesetzten Ursachen wieder zusammensetzen.
Allmählich wird uns die unauflösliche Innerlichkeit dieser
rein dynamischen Einheiten klar die als Ganzes die
heterogene Dauer unsers konkreten, unsers bewußten Lebens
darstellen.
Die Freiheit der Handlung beruht grade in dieser fundamentalen
Inkommensurabilität von Ursache und Wirkung im Bewußt-
seinsgeschehen. Eine Prävision wäre nur dann möglich, wenn
man alle kausalen Komponenten überblicken und kombinieren
könnte. Das ließe sich freilich nur bewerkstelligen, indem man
sich mit seinem ganzen Bewußtsein wieder in jenen
vergangenen Moment der Entscheidung zurück-
versetzte. Da aber, nach unserer Auffassung der Dauer, kein
Moment als analoger wiederzukehren vermag, die Zurückver-
setzähg, schon rein zeitlich, deshalb unmöglich ist, ist auch die
Voraussicht und damit die Determination einer innem bewußten
Handlung schon in der Voraussetzung ausgeschlossen.
Die Leugnung der Willensfreiheit kann darum nur auf einer
Reihe theoretischer und praktischer Vermengungen beruhen:
zuerst wird anstatt der konkreten Dauer die räumlich symboli-
sierte Dauer supponiert. Sodann geschieht die Versenkung in
unser innerstes Bewußtsein, die Vorbedingung der Willensfrei-
heit, nur recht seiten. Schließlich wenn die freie Handlung ein-
mal vollzogen ist und wir, nun über ihre Gründe reflektierend,
uns Rechenschaft zu geben suchen, so reihen wir dennoch, im
bequemen Schematismus des praktischen Alltags, ihre Ursachen
und Bedingungen räumlich nebeneinander auf, ohne uns auf
das Eigentliche, den Kern des freien Willensvorgangs, die irra-
tionale Dauer und ausschließlich intensiven und qualitativen
Wesensmomente, zu besinnen.
IV
Henri Bergsons Philosophie räumt ziemlich unbarmherzig auf
mit der aus der mathematisch-naturwissenschaftlichen Raum-
abstraktion hergeleiteten Welt der Begriffe: Vielen — sicher
aber nicht den tiefsten — Forschem wird dies das Ende aller
Wissenschaft dünken. Denn mit der Bergsonschen Aletaphysik
ist jede Möglichkeit genommen, weiter das Tatsachenmaterial
in altgewohnter Weise zu quantifizieren, rubrizieren und zu ra-
tionalisieren.—Allein Bersons Wissenschaft will sich nicht mit
dem Begreifen von Einzelkenntnissen oder Einzeltatsachen ab-

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