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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 9.1918-1919

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Zehntes Heft (Januar 1918)
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Verworn, Max: Die Entwicklung der ideoplastischen Kunst
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Schnack, Anton: Die Plünderung
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Runge, Wilhelm: Lieder
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https://doi.org/10.11588/diglit.37111#0136

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Aber nicht bloß in Abstraktionen betätigt sich der menschliche
Geist in jener Zeit, wo das Geistesleben seinen mächtigsten Auf-
schwung nimmt. Abstraktionen bestehen in der schematischen
Vereinfachung des Vorstellungsbildes einer Gruppe konkreter
Objekte derselben Gattung. Der menschliche Geist dieser Ent-
wicklungsstufe vollzieht auch Synthesen. Er kombiniert ver-
schiedenartige Dinge, die in der Wirklichkeit nichts miteinander
zu tun haben. So entstehen Phantasiegebilde der verschieden-
sten Art: Mischformen von Menschen und Tiergestalten, wie
die geflügelten Menschen oder die Löwen mit Menschenköpfen,
die wir aus der babylonischen und assyrischen Kunst kennen,
Doppeltiere wie die Doppelprotomen aus dem Picentischen
Kulturkreise der älteren Eisenzeit Italiens, oder auch Misch-
formen von Menschengestalt und Ornament, wie sie im neoli-
thischen Kulturkreis der Südseeinsulaner noch heute so häufig
uns entgegentreten.
Die ideoplastische Kunst beherrscht alle prähistorischen
Kunstschöpfungen seit dem Ausgang der Diluvialzeit. Erst
mit der klassischen Periode der griechischen Kunst begegnen
wir wieder von neuem einem physioplastischen Naturalismus.
Von dort her ist das bewußte Streben nach Naturwahrheit in
die römische Kunst und über diese auch am Ausgang des Mittel-
alters mit der Renaissance in die abendländische Kunst cinge-
arungen, während bis dahin unsere einheimische bodenstän-
dige Kunst in Mitteleuropa noch rein ideoplastische Charaktere
trug, denn auch die schönsten und vollendetsten Kunstwerke
des Aiittelalters, soweit sie nicht schon stark durch die Antike
beeinflußt erscheinen, sind noch durchaus ideoplastischer Art.
Das klassische Ideal, das uns seit dem Beginn der Renaissance
durch eine über mehrere Jahrhunderte sich erstreckende Ge-
wöhnung anerzogen ist, und das in der naturwahren Wiedergabe
des gesehenen Objektes einen Gipfel künstlerischer Vollendung
erblickt, hat es mit sich gebracht, daß in unserer Zeit auch die
große Masse geneigt ist, den Grad Mer Naturwahrheit als einen
Maßstab für die Höhe des künstlerischen Schaffens, sowohl in
der gesamten Kunstgeschichte als in der Leistung des einzelnen
Künstlers zu sehen. Und dieser falsche Gradmesser trägt die
Schuld daran, daß man noch immer das Verhältnis der alten
physioplastischen Kunst der paläolithischen Kultur zu der
ideoplastischen Kunst der späteren Kulturstufen nach jeder
Richtung hin schief beurteilt. Man pflegt gewöhnlich in der
Entwicklung der ideoplastischen Kunst einen Rückschritt gegen-
über der physioplastischen Kunst der alten Mammuth- oder
Renntierjäger zu sehen. Darin liegt einerseits eine ebenso große
Ueberschätzung der alten naiven Physioplastik, wie Unter-
schätzung der von der Naturwahrheit abgekehrten Ideoplastik.
Begeht man nicht von vornherein ohne irgendwelche Berech-
tigung den Fehler, daß man die Naturwahrheit als Maßstab für
die Entwicklungshöhe der figuralen Kunst zugrunde legt, dann
ergibt sich ein ganz anderes Verhältnis. Alle Kunst ist ein Aus-
drucksmittel für Bewußtseinsinhalte. Es erfordert aber zwei-
fellos ein viel höheres Können, abstrakte Bewußtseinsinhalte
mit den sinnlich wahrnehmbaren, selbstgeschaffenen Mitteln
der Kunst auszudrücken als einfache Erinnerungsbilder von
konkreten, sinnlich wahrgenommenen Objekten. in diesem
Falle befand sich der paläolithische Physioplastiker, im ersten
der Ideoplastiker der späteren Zeit. Das ganze Interesse des
diluvialen Jägers wurde beherrscht ausschließlich 'durch die
sinnlichen Eindrücke der Jagdshärc. So war sein Bewußtseins-
leben erfüllt von den unmittelbaren Vorstellüngsbildern der
gesehenen Jagdtiere. Diese Vcrsfellungsbilder waren es, die er
frisch, wie sie in ihm lebten, durch seine Zeichnung an der
Höhlenwand oder auf einem Knochenstück oder auch auf einem
Bachgeröll, das zufällig am Lagerplatz umherlag, durch seine
Zeichnung, spielend mit seiner eigenen Erinnerung, wiedergab.
Durch theoretische Grübeleien über das Gesehene war sein
Geist noch wenig beschwert. Für ihn existierte nur die Reali-
tät, die ihn sein sinnlich impressionistischer Geist täglich un-
mittelbar erleben ließ. Selbstverständlich also, daß sein Kunst-
werk naturwahr werden mußte. Es wäre wunderbar, wenn es
anders sein sollte. Ganz anders beim Ideoplastiker der späteren

Zeit mit seinem zu theoretischen Spekulationen geneigten
Geiste. Für ihn war die Natur gar nicht das, was sie schien,
sondern hinter ihr steckten allerlei Geister und unsichtbare
Mächte. Die Furcht vor diesen bösen Geistern und vor unheil-
voller Zauberei, vor Krankheit und Tod, vor Dürre und Miß-
ernte beunruhigte und beschäftigte andauernd seine Phantasie
So waren es auch nicht die unmittelbaren Vorstellungsbilder
der natürlichen Dinge, sondern seine eigenen Phäntasiebilder,
die er in seinen Kunstwerken wiedergab, denn die künstlerische
Schöpfung ist, ob gewollt oder nicht, der treue Ausdruck der
eigenen Bewußtseinsinhalte des Künstlers. Das Nachdenken
und Lheoretisieren kennzeichnet aber zweifellos, mag es auch
auf den ersten Stufen noch so unvollkommen sein und zu noch
so widerspruchsvollen Ergebnissen führen, doch immer eine
höhere Stufe der menschlichen Geistestätigkeit, als das einfache
naive kritiklose Hinnehmen der Sinneseindrücke, und ganz in
Uebereinstimmung damit stellt daher auch die ideoplastische
Kunst eine höhere Entwicklungsstufe des künstlerischen
Schaffens vor als die naive Physioplastik der primitiven Jäger
Aus dem Buch Expressionismus / Die Kunstwende / Herausgegeben von
Herwarth Waiden / Vertag Der Sturm / Berlin W9


Die Plünderung
Anton Schnack
Gestreckt auf weißem Bauch; Samt auf der Satteldecke, eifernes
Gebein im Troß;
Sprung in die Nacht und Ritt und Jagd, vertollt . . . Dann alle
sangen —
Nacht im Gelände . .. Finsternis .. . Vollmond ist rot vergangen . .
Und dreißig Pferdenasen traben einen Strich, verwehtes Wiehern
flog von Roß zu Roß . . .
Die Wälder westwärts. Güter, Gärten, Weiber, Fleisch, Wein,
Brot.
Sie stoßen jubelnd Sporen, daß sie knochig knirschen
Und knallen in verscheuchte Rudel, in die Flucht von Hirschen.
Und hie und da wird Nacht voll Licht, wird Waldsaum rot . . .
Breit in der Landschaft schlafen Güter; Gärten glänzen reich;
Verhengte Reiter sprengen an die Tore, Axt klafft in die Türen,
Und in die Hoffahrt stiebt der Ritt, löst sich der Schwarm . . .
Feuer fliegt in den Abend; Wein macht sie heiß und weich,
Mit langen Lanzen stechen sie; plündern die Truhen, stürmen . ..
Und zwingen Weiber, schreiend, nackt sich an Knie und Arm ...


Lieder
Wilhelm Runge
Abendked.
Deiner Augen lose Mücken schwärmen
Abendsonnenspiel
strahlher strahlhin
und des Angesichtes
düstrer Wald
lehnt am Hang des sonnenmüden Tags
in dem Abendläuten Deines Blutes
durch der Hände weißverträumtes Dorf
und des Atems stilles Kind
geht in Rosengärten
auf und ab
und verhält den Schritt
daß es die Lippen
die die Andacht auf die Knie zog
nicht verstöre

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