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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 9.1918-1919

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Fünftes Heft (August 1918)
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Liebmann, Kurt: Roter Tanz Kreuz Bären Ich
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Friedlaender, Salomo: Chorus mysticus
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https://doi.org/10.11588/diglit.37111#0082

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Arme bersten
Bauch quillt
Beine schlängeln zischende Schlangen
Gelächter
Ewigkeiten
Hasse Fluchbröckel poltern
Glocken Glocken
Strahlenseele stahlt strahlfachenden Kranz
Aus Höhen purpurt Blutbauch
Du
Wolken reißen knatternd
Blutbauch Du baucht krümmendes Kreuz
Teufel hassen fressende Brände
Glocken Glocken
Ich seele Dich
Blutbauch wölbt und fleischt mich ein
Du
Umrauscht von Blutfällen Zischadern
schlafe ich
in blitzender Bauchgrotte
entmenscht
am Fuß Deines Herzbaums
rauschend
wieger Sang
Sterntanz vorbei gläserner Bauchwand
wiege wiege
Qualfetzschrei entblättert
steint
Du Wir
Ich.


Chorus mysticus
Mynona
Vierzig Männer, darunter ruchlose Grübler, asthmatisch
Lächelnde, melancholische Tänzer, tiefsinnige Betrüger, geile
Weisheitsverächter, charakterlose Greise, häßliche Jünglinge,
festliche Zuhälternaturen, dicke Dialektiker, magere Sonnen-
anbeter und kranke Affen — gingen die Straße entlang und
schoben Alle ihre Schatten vor sich her. Diese vierzig Männer
atmeten, wie Leute, sie waren nicht uniformiert, sie trugen sich,
wie es einem Jeden von ihnen paßte. Man sah sie des Weges
gehen und merkte wohl, sie gehörten zusammen. Sollte es
wohl einen Verein bedeuten? Sie trotteten wie ein Rudel, wo-
bei keiner den Anderen ansah oder ansprach. Da sie aber
recht gesittet einherschritten, wohlanständig Platz machten,
nicht einmal Stöcke trugen und im allgemeinen freundlich,
wenn auch verschlossen dreinschauten, wunderte man sich
wohl, ja einige junge Damen lächelten flüchtig; aber man ließ
sie ruhig passieren; sogar die Schulkinder verhielten sich artig.
Nur ein paar joviale Herren in schönen blauen Tuchanzügen
mit silbernen Knöpfen, Metallspitzen auf den Schädeln, schienen
nervös zu werden und begannen, die vierzig Männer sanft zu
begleiten. Die vierzig begaben sich in ein Warenhaus, sie um-
stellten einen Verkaufstisch, an dem es kleine sattgelbe Kuchen
gab, und sie verzehrten jeder einen Kuchen.
Als man sie so im Geviert herumstehend kauen und dazu
gleichmäßig schweigsame Gesichter machen sah, verbreitete
sich eine milde Heiterkeit, welche sogar auf die sonst so würde-
vollen Blauröcke überging. Sie aber kauten ihre Kuchen zu
Ende und kauften sich an einem anderen Lager vierzig Paar
Handschuhe, welche sie sorgsam anprobierten; es ging dabei ein
heiteres Raunen um sie herum, worauf sie aber nicht achteten.
Sämtlich weiß behandschuht, begaben sie sich wieder auf die
Straße und wandelten stumm unter den anderen Menschen

dahin. Vielleicht waren es Musiker? Doch wo waren ihre
Instrumente? Oder ein Kegelklub? Die Blauen wurden auch
nicht klug daraus. Auf dem Platz vor dem großen Warenhaus
drehte ein beinloser Mensch seinen Leierkasten. Die Vierzig
aber standen wie auf ein geheimes Kommando still; sie um-
ringten den Spieler lautlos, Tränen schienen in ihre achtzig
Augen zu treten. Ihre vierzig Paar weiß behandschuhten Hände
zogen vierzig Geldbeutel aus den Hosentaschen, und sie reichten,
vorbeidefilierend, jeder dem erbärmlichen Manne mit edel
stilisierter Geste eine Münze. Der Mann erhob sich sofort auf
seinen Krücken; er öffnete den Mund sehr weit und blickte
seine Wohltäter gerührt und aufmerksam an; er schaute ihnen
noch lange nach und orgelte dann:
Freude! Schöner Götterfunken!
Das Publikum indessen war nicht wenig ergriffen. Die
Bläulichen gaben in ihrer Haltung nach. Allerdings nur, um
sofort wieder ihre straffste anzunehmen — denn Seine Majestät
fuhr in einer Kalesche vorüber. Die Vierzig winkten mit kleinen
Fähnchen, welche sie von hinten her aus ihren Gehröcken her-
ausholten; sie standen förmlich Spalier. Majestät nickte
lächelnd. Alsbald aber ging ein blaues Auge des Gesetzes auf
die vierzig Männer zu: Meine Herren, Ihre Legitimationen! Jetzt
geschah etwas, worüber das Publikum außer sich geriet. Es
stellte sich nämlich heraus, daß jeder der Herren ,,Fritz Müller'
hieß (Fritze Müller aus Zürich war zufällig nicht darunter). Der
Blaue argwöhnte schon Fopperei; aber alle Papiere stimmten;
er mußte sich höflich entfernen. Ich rate Ihnen, wenn Sie
keinen Auflauf verursachen wollen, sich zu zerstreuen. Es sind
jetzt schwere Zeiten. Er erhielt vierzig Zigarren für diesen Rat,
welcher auf der Stelle befolgt wurde. Dort war nämlich eine
Droschkenhaltestelle. In acht Droschken stiegen je vier Mann,
auf die Böcke neben dem Kutscher je einer. Sie fuhren los
und das Publikum hatte das lustigste Nachsehen. — Es war
also ein Verein von vierzig genauen Namensvettern? Nein! Er-
innern Sie sich, daß es am Orte eine bedeutende Herren-Kon-
fektion gibt? Ein Riesenhaus. In den gigantischen Schaufenstern
stehen gegen vier Dutzend hölzerne Gentlemen in allerlei
exquisiten Kavalier-Anzügen. In der Nacht darauf befanden
sich alle vierzig Müllers eifrig beschäftigt, in den Garderoben
dieser Firma. Sie kleideten sich anständig und sorgfältig ein
und zwar in tiefer Dunkelheit. Man sparte des Krieges wegen
die Nachtbeleuchtung. Die Herren wollten soeben ihren Heim-
weg durch ein verstecktes Kellerfenster antreten — da wurde
der Wächter mißtrauisch. Sie hörten, wie er aufschloß und
hatten keine Zeit mehr, das Weite zu suchen. Arme Müllers!
Sie stolperten durcheinander, und der Wächter hörte den
Lärm und telephonierte um Hilfe nach dem Polizei-Revier. Es
erschienen drei Schutzleute mit Revolvern. Man drang ein, der
Wächter knipste überall das Licht an, allein man fand nichts
Ha m Sc woll geträumt, meinten die Polizisten, Während dieser
Zeit aber standen die vierzig Müllers als Unfreiwillige starr in
den Schaufenstern. Es dauerte eine kleine Stunde, bevor
Müller der 27. sagen konnte: Rührt Euch! Sie gingen dann fein-
gekleidet nach Haus, Der Wächter wurde entlassen; er ist
noch heute halb wahnsinnig, und die Schutzleute halten i k n
für den Dieb. (Die Augen des Gesetzes sind meistens nur seine
Hühneraugen). — Die Spezialität der Müllers sind solche
. . . Gruppen-Verbrechen. Es ist eine schlaue Bande! Am
Tage mimen sie möglichst öffentlich, wie dargetan, Harmlosig-
keit, um nachts desto verruchtere Streiche zu begehen. Daher
ist es ein gutes Werk, hier darauf aufmerksam zu machen.
Achten Sie nur ja auf vierzig anscheinend gute Leute! Lassen Sre
sich doch nicht durch deren Komik entwaffnen. Es sind wirk-
liche Gauner! Sie heißen alle Fritz Müller; sie scheinen so
drollig es sind Hallunken und hier endlich am Pranger.


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