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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 9.1918-1919

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Sechstes Heft (September 1918)
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Friedlaender, Salomo: Der Greis in der Versammlung
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Walden, Herwarth: Von Sonne Gnaden
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https://doi.org/10.11588/diglit.37111#0094

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stehe Folterqualen aus, beherrsche mich aber. Was heißt
das, fragte Müller, wollen Sie sich nicht lieber nach Haus
schaffen lassen? Man wird Ihnen das Protokoll zusenden. —
Fahren Sie fort, schrie Seveking schmerzlich und noch lauter.—
Müller fuhr mit ungeheurer Verachtung fort: Das Gerücht, wo-
nach drei unserer Gruben erschöpft wären, hat uns beim Mi-
nisterium geschadet, sonst wären die Verhandlungen schon per-
fekt. Exzellenz Heisstraller hat die Akten eingesehen und einen
sehr günstigen Eindruck bekommen. Die Stimmung unter den
Leuten kommt der Verstaatlichung entgegen; die Leute sind
eben auch lieber Staatsbeamte als Private. — Ein dumpfes Aech-
zen kam aus der Gegend Sevekings. Der Greis hatte sich halb
erhoben und sich rasch wieder fallen lassen: oh oh! stöhnte er.
Müller schlug mit der Hand aufs Katheder und schwieg still.
Einundzwanzig Herren, Schobelske voran, verließen ihre
Plätze und stürzten auf Seveking zu. Dieser wurde
wütend. Er schnaubte sie schmerzlich, fast weinend an:
So laßt mich doch! Setzt euch doch wieder hin,
meine Herren. Fahren Sie doch fort, Müller, zum
Teufel! Kümmert euch nicht um mich! — — Lassen Sie
sich wenigstens auf ein Ruhebett tragen, riet Schobelske. Der
Greis wurde puterrot. Nein! heulte er. Fahren Sie fort, Müller!
Müller riet energisch zur Verstaatlichung. Es ist der große Zug
unserer Zeit, sagte er. Die sogenannte freie Konkurrenz ist an
sich nicht nur Unfug, sondern grade weil sie es ist, führt sie in
ihrer letzten Konsequenz zu Sammlung der Energien in einer
Hand; aber diese ist dann eben eo ipso nicht mehr privat; diese
eine, mächtige Hand kann dann aber nur der Staat selber
sein. Ergo — — — Aber bester Seveking, unterbrach er sich,
es geht doch nicht! Das geht doch nicht! Alle sahen hin. Seve-
king hatte seine Hose hochgestreift; er knöpfte auch oben an
ihr herum, zupfte an seiner Leibwäsche und untersuchte sein
Knie, das er sorgfältig befühlte, wobei er lauter trillernde kleine
Seufzer ausstieß. Fahren Sie nur fort, Müller! In Henkers
Namen, brüllte er, dem Weinen nahe! Es geht, es geht schon!
Nach Ihnen rede ich. — Ah, raunte Schobelske, ich glaube, der
alte Fuchs macht nur Obstruktion; die Verstaatlichung paßt ihm
nicht. Müller schloß: ergo und ceterum censeo: Liquidation;
staatlicher Ankauf. Ich bitte um Beschlußfassung. — Erst will
ich noch reden, blökte Seveking. Er war aufgestanden, hatte
aber vergessen, die Hose herunterzustreifen und zuzuknöpfen.
Seine seidene Schleife hatte er abgenommen und um sein Knie
geschlungen, unter dem seine grünen Dessous hervorlugten. Den
Diener, der ihn stützen wollte, stieß er wütend zurück. Er er-
klomm wimmernd die Stufen zum Katheder und stand Auge in
Auge mit Müller. Beide sahen sich voller Haß an. Müller, beide
Gruben, sagte Seveking traurig, sind erschöpft. Ich alter Mann
wäre sonst garnicht hergekommen. In meiner Mappe sind die
Dokumente darüber. Natürlich ist Müller fein raus bei der Ver-
staatlichung. Und ich, der die meisten Gruben, und die ergie-
bigsten besitze, fliege rein. Ich armer alter Mann muß das ver-
hindern, bin darum gekommen, trotzdem ich hier garnicht gern
bin. Falle immer hin, gleite aus. Mein Knie schmerzt außer-
ordentlich. Ach! Ach! —-Müller hatte sich käsebleich auf
seinen Platz gesetzt. Er zitterte. Schobelske spitzte die Lippen
pfiffig: sein Knie schmerzt ihn garnicht; er hat, wie gesagt, ob-
struiert. — Die Beschlußfassung wurde wirklich aufgeschoben.
Müller verließ spornstreichs das Lokal. Aber Seveking schlang
seine Binde um den Hals, ließ die Hose herunter und eilte ihm
nach. Müller, rief er lachend, Müller! Müller, im Begriff seine
Kutsche zu besteigen, hielt inne. Ha? fragte er. Fahren Sie
fort, Müller! Fahren Sie jetzt nur fort! — Und Müller fuhr fort.

Von Sonne Gnaden
Herr Wilhelm Hausenstein hat sich der Tageskritik in den
Münchner Neusten Nachrichten ergeben. Er wurde zu dieser
Tätigkeit berufen, nachdem er einige Vorworte über die neue
Kunst geschrieben hat, die man bei der Firma Goltz darunter
versteht. In einem solchen Vorwort machte sich dieser Herr
Wilhelm Hausenstein über die Tageskritiker älterer Zeit lustig,
nicht ohne sich auf Carlyle zu berufen und schloß: ,,Diese Fälle
charakterisieren die Unverantwortlichkeit der Tageskritik. Die
Herren mögen moralisch sein, aber sie haben nichts mit der
Kunst zu tun. Darin liegt ihre Unverantwortlichkeit. Ich
sammle mir die Kritiken von heute, auswärtige und münchne-
rische. In zehn oder fünfzehn Jahren gedenke ich, wenn die
Sonne mir das Leben schenkt, ein artiges Bändlein zu ver-
öffentlichen. Hoffentlich leben dann die Rezensenten noch.'
Die Sonne wird ihnen das Leben schenken und Herr Wilhelm
Hausenstein wird hoffentlich nicht vergessen, seine eignen
Kritiken in diesem artigen Bändlein zu veröffentlichen. Das
wäre unverantwortlich. Einen besonderen Ausblick wird der
Rückblick bieten, den dieser Herr Wilhelm Hausenstein auf die
erste Sturm-Ausstellung in München warf. Herr Hausenstein
gilt nämlich in schlicht bürgerlichen Kreisen Münchens als
Kenner des Expressionismus. Und zwar wegen seiner Vorworte
Herr Hausenstein ist sehr moralisch, hat aber nichts mit der
Kunst zu tun. Er hat deshalb in diesen Vorworten Worte von
Künstlern aufgeschrieben. Man erkennt aus der Wahl, daß ei
diese Worte intellektuell verstanden hat. Vor der Kunst hin-
gegen steht er ratlos. Neue Kunst ist ihm, was bei Goltz aus-
gestellt wird. Sogar die Herren Brockhusen, Hoetger und Kolbe
rechnet er dazu. Darin liegt seine Unverantwortlichkeit. Aber
Herr Wilhelm Hausenstein ist nicht einmal moralisch belastet.
Er stellt sich jetzt eine Aufgabe, die eben intellektuell nicht zu
lösen ist: ,,Die Aufgabe liegt sehr einfach so: die guten Bilder
von den schwachen und schlechten zu unterscheiden. Selbst-
verständlich, daß sie im letzten Grunde niemals anders liegen
konnte." Selbstverständlich. Nur kann sein Selbst' sich nicht
in Kunst verständlich machen. Und ruhigen Mutes gibt Herr
Hausenstein Urteile ab: ,,Aus dem ausgestellten Bild von Jacoba
van Heemskerck springt kein Funken Talent. Ein Frühling von
Nell Waiden, ein Bild von Georg Muche — dies ist Inbegriff
expressionistisch aufgetragener Nichtigkeit. Endlich Chagall.
Somnambul oder raffiniert? Ohne Zweifel eine nicht gemeine
Begabung." Diese Urteile mögen ja nicht für das artige Bänd-
lein vergessen werden. Der Münchner Expressionist schließt:
..Alan sehnt sich nach dem Maler, der eine unzerstückte Realität
malt - gesehene oder geglaubte: Mit gutem Griff rund um die
Figur. Es lebe Rubens." Dem zwar nicht die Sonne aber der
viel wuchtigere Herr Hausenstein das Leben schenkt. Er hat
jedenfalls mit der Besprechung der Sturm-Ausstellung seine
Figur mit gutem Griff endgültig neben die Kunst gesteht. Herr
Hoetger möge sich diese Realität nicht entgehen lassen.
Herwarth WaMea



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