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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 9.1918-1919

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Siebentes Heft (Oktober 1918)
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Friedlaender, Salomo: Die langweilige Brautnacht
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Mehring, Walter: Brunst der Erde
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https://doi.org/10.11588/diglit.37111#0104

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ger seines „Profeus" genau auf das Bild ein, und sofort erschien
dieses . . . aber man konnte nicht mehr sagen: im Spiegel;
sondern der Spiegel, der Reflex nahm körperlich die Form der
abgebildeten Dinge an. Es war zauberhaft. Eine frei im Raum
schwebende kleine Welt. Bolko war begeistert. Seine Augen
suchten die Melittas und beide fanden sich in einem Blicke der
Bewunderung, der unwillkürlich einen Hauch Erotik atmete.
Ich rate Ihnen, sagte der Alte, Ihr eigenes Spiegelbild zu vari-
ieren. Ich erinnere Sie, daß Sie die Selbstverwandlung beab-
sichtigten. Bolkos Ebenbild erschien in lebendig wallenden
Konturen. Wie wünschen Sie es alteriert? fragte der Alte, das
ganze Menschen-, Tier-, Pflanzen-, ja Mineralreich steht Ihrer
Auswahl zur Verfügung. Ich wähle das Fräulein Melitta, sagte
Bolko und griff leidenschaftlich nach Melittas Hand. Melitta
wich erschreckt zurück. Was soll das, stieß der Alte hervor.
Suchte ich denn nicht mein anderes Ich, erregte sich Bolko.
Hier in Melitta habe ich es gefunden. Vergeben Sie mir Beide!
In diesem Rausch der Begeisterung fühlt meine Sehnsucht sich
endlich am Ziel. Ich fühle, daß ich Melitta will. Ich will sie,
d. h. ich möchte sie selber sein! Ich möchte mich in nichts
verwandeln als in Melitta. Wie könnten Sie mir das verargen?
Ist es so gemeint? rief der Alte. Ei, das ist ein sonderbares
Experiment. Aber wie denkt meine Melitta darüber? — Oh
Fräulein Melitta, ich hätte nicht den Mut gefunden, mich zu
offenbaren, wenn ich ihn nicht aus jenem Blicke des Einver-
ständnisses hätte schöpfen dürfen. Ich bitte Sie im Beisein Ihres
Vaters um Ihre Hand. Melitta, statt aller Antwort, umarmte
ihren Vater; dieser aber gab sie mit sanfter Gewalt in die sich
öffnenden und um das Mädchen zusammenschließenden Arme
Bolkos. Die Lippen fanden sich im ersten Kuß. Dann um-
armten die Beiden den Vater. Und ich will Ihr gehorsamster
Lehrling sein, lieber Vater, gelobte Bolko. Gut denn! Aber
Kinder, experimentieren wir doch weiter. Sie wollen die Hand
meines Mädchens, lieber Bolko? Und doch hatten Sie etwas
Besseres, etwas Vollendeteres im Sinn als dieses konventionelle
Sichkriegen in einer Ehe. Sagten Sie nicht, Sie wollten Melitta
sein, und willigte Melitta nicht in diese Vereinigung — möchtest
auch Du nicht lieber er sein als Du? Vater! Vater! Du hast
immer nur Experimente im Kopf, auch wenn es sich um mein
Glück handelt. Ich darf es sagen, ich hätte Dich, Bolko, nicht
so formlos von der Straße geholt, wenn es mir nicht längst um
Dich zu tun gewesen wäre; ich kenne Dich längst. Bolko
jauchzte. Aber trotzdem möchtest Du nicht lieber ich sein als
Du; während ich so gern in Dir auf gehe und den Bolko in Dich
verwandeln möchte. Ach, Bolko, doch! Solche Wünsche sind,
wenn man liebt, immer gegenseitig. Und glücklicherweise, er-
klärte der Alte geheimnisvoll, sind sie hier einmal vollends zu
verwirklichen. Wie das, bester Vater? erkundigte sich Bolko.
Genau so! gab der Alte zurück und machte sich am Apparate
zu schaffen.
Bolkos Spiegelbild nahm immer deutlicher Melittas Gestalt
und Züge an. Bolko lachte vor Freude. Nun umgekehrt, lächelte
der Alte; und transfigurierte Melitta wieder in Bolko. Genug
jetzt, Vater, bat Melitta, wir feiern heut' unser Verlöbnis. Der
Alte aber bestand mit eigensinniger Hartnäckigkeit auf Been-
digung des Experimentes, und Bolko sekundierte ihn gegen
Melitta, so daß sie sich fügte. Denn es lief doch, eiferte der
Alte, auf die wirkliche leibliche Selbstverwandlung hinaus. Zu
diesem Zwecke genügt das rein optische Darstellen nicht; wir
müssen alle anderen Empfindungen, besonders das Getast, hin-
zuziehen. Und dieses Experiment verspricht um so eher zu
glücken, als in unserem Falle ja die innerste Gemütempfindung
sein Gelingen herbeisehnt. Haben Sie, lieber Bolko, jemals den
Einfall gehabt, die Rückwirkung des Spiegelbildes auf das
Original zu bedenken? Jawohl, das Aussehen des Menschen
wäre ohne den Spiegel gewiß ein anderes. Der Spiegel übt eine
drastische, das Original verändernde Wirkung aus. Ich habe
diese Wirkung gründlich erforscht und bin dadurch in den Stand
gesetzt worden, die Ursache in ihrer Energie vielfach zu inten-
sivieren. Alle Empfindungen sind die spiegelhaften Reflexe
unserer eigenen Projektionen. Und wer in das Geheimnis dieser
Reflexion nicht nur optisch, sondern auch akustisch, osphresio-

logisch, in jedem Sinne, bis in das Getast eingedrungen is!;, der
vermag durch die erhöhte Wirksamkeit des Reflexes das Ori-
ginal selber zu ändern. Das ist mir gelungen. Das erst ist meine
eigentliche Erfindung, mit der ich Euch vertraut machen möchte.
Melitta, in einer bangen Ahnung, widerriet diesen versuche-
rischen Versuch. Aber der Alte und Bolko ließen nicht locker,
bis sie ihre Zustimmung gab.
Im Spiegel verschmolzen jetzt Melitta und Bolko zu wunder-
samer Vereinigung in einem Geschöpf, das, in sich selber hin
und her schwingend, bald mehr Bolko, bald mehr Melitta zu sein
schien. Der Alte drehte ein paar Schrauben am Apparat, be-
wegte ein paar Griffe. Melitta seufzte tief auf, sie näherte sich,
wie magnetisch angezogen dem Bolko. Ein sonderbarer Angst-
schrei aus zwei Kehlen dann in einem Wonnelaut zusammen. Die
völlige Vereinigung der Liebenden in einem einzigen Leibe er-
eignete sich vor den Augen des entzückten Alten. Die Klei-
dungsstücke des vormaligen Paares bildeten eine grotesk ent-
stellende Verwirrung. Meine Kinder, sagte der Alte, werdet
Ihr mir vergeben, wenn ich Euch eine (vielleicht aber für Euer
Heil nicht nur nicht schlimme, sondern notwendige) Verlegen-
heit eingestehe: ich kann Euch nicht mehr trennen. Himmlisch!
rief die Gestalt, von der es unbestimmbar bleibt, ob sie Melitta
oder Bolko heißen darf. Die glücklichste Vermählung hatte
stattgefunden, eine unter Menschen unerhörte Hochzeit.
Aber wie langweilig war die Brautnacht, welche darauf
folgte! Die gegenseitige Begierde ist nett neutralisiert, wenn
man in der Tat eins geworden ist. Gibt es keine eigentliche
Wollust der Vereinigung; so gibt es aber dafür auch keinerlei
Schrecknis der Entzweiung. — Der alte Vater erfreut sich des
gehorsamsten Kindes. Großvaterfreuden sind ihm freilich ver-
sagt. Sehr lachten die drei oder vielmehr zwei über die Forma-
litäten des Polizeiausweises und des Standesamtes. Der Faß
war einzig, er kam vor den Reichstag. Der ärztliche Sachver-
ständige, Herr Dr. Wilhelm Gließ, behauptete, das Geschlecht
dieses neuen Hermaphroditen wechsle ähnlich ab wie die Phasen
des Mondes; er sei bald Bolko, bald MeRtta. Die Bürokratie
verzichtet gern auf solche Nuancen; man fertigte für Bolko den
Totenschein aus, und der Alte freute sich wie ein Kind mit
seinem Kinde.


Brunst der Erde
Walter Mehring
Sonnen entkreiseln
kräuseln Geleise die heiße Spur
rinnt Blutspur
gerinnt
Rieseln
seitab
sandig satt stillen Rasen
stillen Strom treibt Himmelsbreiten
Drohnen brüten Gewürz
schwelen den Horizont schwellende Kräuter
Wolken grollen
An vollen Eutern festgesogen brüllend
kollern donnergescheckte Blitze
schlecken Licht
schleudern
Schrei bescheint die Erde
zur Sonne die Nacht
zuschanden das Licht
Das Lachen Leben Lust
entlastet branden
Das weite Land
Umstrudeln sträubt die goldnen Stromesadern
Zur Sonne
sielen siedehell die Wiesen

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