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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 9.1918-1919

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Siebentes Heft (Oktober 1918)
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Friedlaender, Salomo: Die langweilige Brautnacht
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https://doi.org/10.11588/diglit.37111#0101

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Die langweilige Braulnachi
Mynona
,,Wer möchte sich nicht gern verwandeln? -— In ein edles
Kavalleriepterd, ein schönes Mädchen, einen Husarenoberst, in
Walter von der Vogelweide, eine Ameise oder einen Berg-
hristall? — Ist es nicht entsetzlich, immerfort die selbe Form
mit geringen Variationen beibehalten zu sollen? Ist Proteus
nicht das beneidenswerteste aller Wesen? Oh, dieser eigne
Leib, dieses Gefängnis, diese Isolierzelle! Diese stehenbleibende
Grimasse und Fratze! Wenn Einem derselbe Tropfen immer
wieder auf den Schädel fällt; man denselben Ton unaufhörlich
hört; und sei es die schönste Melodie, man kriegt sie endlich
satt; wenn sie sich tagtäglich wiederholt. Wie hält man das aus!
Ah, man hält es eben nicht aus — man stirbt; dies ist gewiß der
eigentliche Grund des Todes. Man würde nie sterben, wenn
man sich in immer neuen Gestalten tummeln dürfte; vielleicht
ist der sogenannte Tod nur Metamorphose, aber unkontrollier-
bare, unwillkürliche, in finstres Geheimnis getauchte?" —
Der Herr, der so grübelte, saß in einem hellgelben Nanking-
Anzug auf einem mausgrauen Biedermeiersofa. Die Wände des
Zimmers waren lila tapeziert. Auf einem runden Tischchen
stand ein Rauchservice; aber Bolko rauchte nicht; er quälte sich
mit derartigen Gedanken. Aus dem Glasscheibenschrank blitzte
golden seine Märchenbibliothek. Seine Phantasie hatte sich
gegen drei Jahrzehnte mit Wundern überfüttert, und nun fand
er sein Leben immer monotoner; er sehnte sich verzweifelt nach
Abwechslung, Verwandlung, Ueberraschung. Er ging zu so-
genannten Zauberern, in deren Vorstellungen; in Läden, wo
Zauber-Apparate feilgeboten wurden; in Jahrmarktsbuden mit
magischen Theatern. Er besuchte Hypnotiseure, hysterische
Frauen, Irrenhäuser und Kultusstätten. Er las die Mystiker und
Mythologen. Schließlich ging er auf Reisen, welche ihn bis
Indien und Tibet führten; mit dem Resultate, daß er allen Zauber
faul, hokuspokerig, schwindelhaft fand. Ein alter Mann, der es
gut mit ihm meinte, weil er die Not seines Herzens erkannt hatte,
verwies ihn auf das Studium der Physik. Aber von dort aus
verlor er sich leider in müßige Spielereien, zuletzt in alche-
mistische Fiktionen. Schließlich wußte er sich keinen Rat mehr;
er resignierte, stagnierte, wurde spleenig. Mitunter schlief er
eine Woche lang ein. Er zitierte oft Leopardis: ,.Nichts lebt, was
würdig wäre deiner Regungen!" Und nur der Gewohnheit fol-
gend, ging er noch mitunter in ein Variete oder eine ähnliche
Veranstaltung.
Auch heute, um die 9. Abendstunde, griff er nach Stock
und Hut, um sich wenigstens eine imaginäre Abwechslung zu
gönnen. Als er melancholisch durch die Straßen schlenderte, in
der Hoffnung, etwa ein neues Kino, einen neuen Schwindel zu
entdecken, fühlte er sich plötzlich an seinem Rockärmel ge-
zupft. Ein blutjunges Mädchen von etwas verhungertem Aus-
sehen blickte ihn flehentlich an, ohne etwas zu sagen. Bolko,
erotisch längst blasiert, wollte seinem Geldbeutel eine Münze
entnehmen — allein das Mädchen wehrte ab. Wie? fragte er,
ist es etwa zu wenig? — Oh nein, ich danke Ihnen sehr, mein
Herr, versicherte das Mädchen. Aber mein Vater bemerkte Sie
soeben und schickte mich zu Ihnen, damit ich Sie zu ihm hole.
Er ist gelähmt. Er hat viel von Ihnen gehört, und als er, am
Fenster sitzend, Sie unten Vorbeigehen sah, bestand er so heftig
darauf, daß ich Sie zu uns hinaufbäte, daß ich mich dazu ent-
schließen mußte. Bitte enttäuschen Sie den alten Mann nicht;
kommen Sie mit mir. Es ist ungewöhnlich; aber mein Vater
behauptet, Sie lieben gerade das Ungewöhnliche, und Sie würden
bei ihm noch viel Ungewöhnlicheres finden. Bolko war eigen-
tümlich berührt, fast unangenehm. Was ihn aber bewog, die
Aufforderung nicht unwirsch abzulehnen, war die unter dem
betrachtenden Blicke sich immer überwältigender hervortuende
Schönheit des Mädchens, schöner noch dadurch, daß sie durch
Elend verkümmert schien und die Phantasie zur idealisierenden
Vollendung zwang. Woher kennt mich denn Ihr Vater? fragte
er, indem er sich schon zu folgen anschickte. Mein Vater ist
Optiker gewesen; er kam früher oft mit einem älteren Herrn,
einem Ihrer besten Freunde, dem Professor B. zusammen, dem

bekannten Physiker. Ich erinnere mich, daß Ihr Name öfters
erwähnt wurde. Der Professor fand Sie phantastisch, während
mein Vater sich Ihrer annahm, Sie gegen ihn verteidigte. Um
was es sich handelte, habe ich nicht verstanden. Mein Vater
beschäftigte sich besonders mit der Fabrikation von Spiegeln.
Sie langten vor einem schmalen, niedrigen Häuschen an,
das zwischen riesigen Mietskasernen stand. Ueber einen Fenster-
sims des ersten Stockwerks hatte sich ein alter Mann gebeugt.
Er winkte hinunter. Mein Vater, sagte das Mädchen, und
öffnete die mit Eisenstäben vergitterte Glastür. Sie schritt mit
leichter Anmut voran. In einem geräumigen Wohnzimmer am
Fenster saß der Alte auf einem hohen Lehnstuhl. Er grüßte
freundlich: Meine Tochter wird mich entschuldigt haben, daß
ich Ihnen nicht entgegengehe. Bolko reichte dem Alten die
Hand und rückte sich einen Stuhl in seine Nähe, Welches
merkwürdige Greisenantlitz! Voller Geist, Gemüt und Energie.
Aus den hellen, klaren Augen sprach erfinderischer Verstand.
Kann ich Ihnen in irgend einer Weise dienen? fragte Bolko.
Der Greis schickte seine Tochter hinaus: Bringe uns eine Auf-
wartung, Melitta! Ich habe Ihren väterlichen Freund, den Pro-
fessor B. gekannt, begann der Greis. Er erzählte mir manchmal
von Ihren Ideen, von Ihren Träumen und Wünschen. Wir kamen
darauf, weil ich mich mit ähnlichen Ideen, aber mehr physika-
lisch, trug und noch trage. Mir ist auch Einiges gelungen, was
ich Ihnen anvertrauen möchte. Ich sah Sie früher oft, ohne daß
Sie von mir wußten. Wäre nicht unser Unglück gekommen,
mein Bankerott (ich lebe von dem, was unsere Gläubiger mir
bewilligen, da sie auch jetzt noch auf eine Erfindung hoffen);
der Tod meiner Frau, meine Lähmung, so wären wir längst mit
einander bekannt. Sie haben wohl Ihre alten Hoffnungen auf
die Möglichkeit leiblicher Verwandlung längst ad acta gelegt?
Ach, sagte Bolko, es scheint so, als ob wir resignieren könnten.
Aber wie erwachen sofort wieder alle scheintoten Hoffnungen,
wenn man uns, wie soeben Sie, mit dem Schatten einer Erfüllung
winkt. Haben Sie denn wirklich etwas gefunden? — Die
Zimmertür öffnete sich. Melitta servierte lieblich, sie hatte eine
zierliche weiße Schürze umgebunden, Tee und Kakes. Melitta,
bat der Greis, ich möchte in die Werkstatt; aber jetzt wollen
wir uns erst erfrischen. Bitte, mein Fräulein, Bolko erhob sich
und bot Melitta einen Stuhl an, wollen Sie uns nicht Gesell-
schaft leisten? Melitta setzte sich lächelnd. Der Alte blickte
von Bolko zu Melitta. Man genoß eine kleine Weile schweigsam
den Tee. Ohne Melitta, rief dann der Alte, wäre ich verloren.
Glauben Sie ja nicht, daß sie mir nur mechanisch zur Hand geht.
Sie ist meine richtige Mitarbeiterin, hat tüchtige, wenn auch
mehr praktische als theoretische Kenntnisse in der Physik,
besonders Katoptrik. Nun, meinte Bolko, eine junge Dame
beschäftigt sich gewiß gern mit Spiegeln, besonders wenn sie
ähnlich wie Narziß von ihrem Abbilde angezogen wird. Ach,
sagte Melitta, was Vater aus Spiegeln hervorzuzaubern versteht,
ist so interessant, daß ich gar nicht auf die gewöhnlichen eitlen
Gedanken verfallen kann. Ich möchte offen gegen Sie sein,
sagte der Alte bedächtig und stellte seine ausgeleerte Tasse hin,
ich begehe ein Unrecht, wenn ich Melittas sehr zarte Gesund-
heit meinen Experimenten aufopfere; das ist mit ein Grund,
weswegen ich Sie zu interessieren suchen mußte. Denn sehen
Sie, wie es zu gehen pflegt; unsere Unterstützung reicht nicht
hin, um zugleich meine Sache und unser leibliches Wohl zu
fördern. Meine Versuche kosten mehr Geld als ich verant-
worten kann. Sehen Sie, daher hoffte ich, wenn Sie das bischen
Erreichte anerkännten, daß Sie vielleicht zu mäzenatischer
Beihilfe geneigt sein möchten? Mein Herr — Melitta kam
Bolkos Antwort rasch zuvor, — nehmen Sie Vaters Worte nicht
so ernst! Es ist schon eine typische Wendung bei ihm geworden.
Er möchte natürlich gern wie früher im größten Stil operieren
und fahndet immer nach Möglichkeiten. Mit Recht, Fräulein
Melitta! Ich finde es empörend, daß die Gläubiger, da sie doch
Hoffnungen auf Ihren Vater setzen, ihn unzulänglich finanzieren;
möglicher Weise sind sie mehr seine als er ihr Schuldner; ich
wenigstens habe das günstige Vorurteil; daß es sich um eine
unerhörte Erfindung handelt. Sie sollen aber nicht, sagte der
Alte, Vorurteilen, sondern urteilen. Melitta, rolle mich ins

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