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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 9.1918-1919

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Fünftes Heft (August 1918)
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Walden, Herwarth: Das Begriffliche in der Dichtung
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https://doi.org/10.11588/diglit.37111#0074

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Das Begriffliche in der Dichtung
Das Material der Dichtung ist das Wort. Die Form der
Dichtung ist der Rhythmus.
In keiner Kunst sind die Elemente so wenig erkannt
worden. Der Schriftsteller steht die Schrift, statt das Wort
zu setzen. Schrift ist die Zusammenstellung der Wörter zu
Begriffen. Alit diesen Begriffen arbeiten Schriftsteller und
Dichter. Der Begriff aber ist etwas Gewonnenes. Die Kunst
jedoch muß sich jedes Wort neu gewinnen. Man kann kein
Gebäude aus Mauern aufrichten. Stein muß zu Stein gefügt
werden. Wort muß zu Wort gefügt werden, wenn ein Wort-
gebäude entstehen soll, das man Dichtung nennt. Die Sicht-
barkeit jeder Kunst ist die Form. Form ist die äußere Ge-
staltung der Gesichte als Ausdruck ihres inneren Lebens. Jedes
Gesicht hat seine eigene Form. Nicht zwei Gesichter sind
gleich, um so weniger zwei Gesichte. Ein Kunstwerk gestalten
heißt ein Gesicht sichtbar machen. Nicht aber, sich über das
Gesicht zu verständigen. Kein Alensch wirkt auf den andern
gleich. Wie darf man diese Gleichheit von dem Uebermensch-
lichen, von dem Unmenschlichen fordern. Nichts darf vom
Kunstwerk gefordert werden, aber das Kunstwerk selbst for-
dert. Jedes Kunstwerk fordert seinen Ausdruck. Der äußere
Ausdruck ist die innere Geschlossenheit. Die innere
Geschlossenheit ist die Schönheit des Kunstwerks. Die
innere Geschlossenheit wird durch die logischen Be-
ziehungen der Wortkörper und der Wortlinien zuein-
ander geschaffen. Sie sind in den bildenden Künsten räum-
lich sichtbar, in der Alusik und der Dichtkunst zeitlich hörbar
Alan nennt sie Rhythmus. Jede Bewegung entsteht durch Be-
wegen, nicht durch Bewegtsein. Die Dichter sind gewöhnlich
bewegt über sich oder über andere oder über anderes, aber
sie bewegen nicht. Sie sind gerührt aber sie rühren nicht. Sie
fühlen Gedachtes, statt Fühlendes zu denken. Sie nehmen
Formen statt Formen zu geben. Der Vergleich wird hingestellt
statt daß ein Gleichnis steht. Diese Dichter betrachten statt
zu schauen. Sie berichten Uebersinnliches unsinnlich, statt
Uebersinnliches den Sinnen sichtbar zu machen. Aussagen sind
unkünstlerisch, weil sie nicht zum Glauben zwingen können.
Aussprachen sind unkünstlerisch, weil sie nicht einmal etwa:
aussagen. Das künstlerische Verstehen ist keine Verständigung.
Das künstlerische Verstehen ist das Fühlen. Nur das Fühlen
ist Begreifen. Wir geben uns die Hand und wir fühlen, wir
wissen das Fühlen, wir geben uns den Aiund und wir fühlen,
wir wissen das Fühlen. Wir brauchen nichts zu sagen. Das
ist das Wissen um die Kunst. Das ist das Wissen der Kunst.
Die Kunst begreift das Unbegreifliche, nicht aber das Begriff-
liche.
Kind! Es wäre Dein Verderben,
Und ich geb' mir selber Mühe,
Daß Dein liebes Herz in Liebe
Nimmermehr für mich erglühe.
Höhne meine sanfte Plage!
Einmal muß ich doch gestehen
Daß ich Dich im Traum gesehen
Und seitdem im Busen trage.
Ihr verblühet, süße Rosen,
Meine Liebe trug Euch nicht,
Blühtet ach! dem Hoffnungslosen,
Dem der Gram die Seele bricht.

Der Rhythmus dieses Gedichtes ist durchaus einheitlich.
Nur ist es kein Rhythmus. Das Einheitliche ist das Metrum,
das Maß. Der Rhythmus, die Bewegung ist gemessen, und
zv/ar nach der Betonung. Der Ton bestimmt, damit die Stimme
betont. Die Stimme betont:

Kind
Und
Daß
Nimmermehr

Höhne
Einmal
Daß
Und

Ihr
Aleine
Blühtet
Dem

Der Ton bestimmt und der Wille des Dichters offenbart
sich. Er wird sinnfällig. Schon in der Beschränkung zeigt sich
jeder Meister. Keine wilde maßlose Rhythmik. Alles milde
maßvolle Metrik. Geschlossenheit der Form. Jede Zeile be-
kommt ihre wohlgezählten vier Betonungen zugemessen. Was
ist Wort. Das Wort hat sich nach der Betonung zu richten.
Dafür geben die Wörter auch einen Sinn. Der Dichter begreif!
das Sinnliche unsinnlich. Und zwar mit Hilfe des Begrifflichen
Er sagt aus, daß er sich selber Mühe gibt. Das liebe Herz
darf nimmermehr in Liebe für ihn erglühen, weil das Kind vor
dem Verderben geschützt werden muß. Er trägt es deshalb im
Busen, nachdem er es im Traum gesehen hat. Er konnte es
aber nicht tragen, weshalb ihm der bekannte Gram die Seele
bricht. Das Gedicht ist ohne weiteres zu verstehen. Es ist
also ein Gedicht. Denn es ist logisch. Da der Dichter aber
aussagt, habe ich das Recht, seine Aussagen zu prüfen. Ich
möchte es noch dahingestellt sein lassen, ob es für das Kind
ein Verderben wäre. Bei der betonten Sorge wäre es doch
möglich, daß er es doch etwa heiraten könnte, wenn er sich
Mühe gäbe und daß auf diese einfache Weise die ganze An-
gelegenheit tonlos geregelt werden könnte, Oder aber ich
glaube das Geständnis nicht, daß er das Kind im Traum gesehen
hat. Wenn Dichten Träumen! heißt, ist jeder Träumer ein
Dichter. Hingegen geht dieser Dichter schon in das Unnatür-
liche hinüber, wenn er das Kind im Busen trägt. Das Unnatür-
liche scheint also doch schon auf die Meister einen gewissen
Reiz ausgeübt zu haben. Es ist ebenso natürlich, daß Rosen
verblühen, wenn man sie in die Liebe pflanzt. Bei dieser Un-
natur ist es dem Gram nicht zu verdenken, daß er die Seele
bricht. Die Wortverfechter meisterlicher Kunst werden um sich
schlagen. Was ist das Wort. Alan darf das Wort eben nicht
wörtlich nehmen. Ist es nicht ein tieferer Sinn, daß der Gram
die Seele bricht oder daß. das Herz nimmermehr erglüht. Was
kann man sich nicht alles unter einer brechenden Seele vor-
stellen oder unter einem glühenden Herzen, einem nimmer-
mehr glühenden Herzen. Die Seele ist schon an sich poetisch
und das Brechen auch, wenn die Seele der leidtragende Teil
ist. Der Beinbruch ist unpoetisch, weil man ihn sehen kann,
der Seelenbruch poetisch, weil man sich ihn denken muß.
Wps man sich denken kann ist geistig, also künstlerisch. Wer
kann sich einen Beinbruch denken.
Man sieht, die Meister kommen ganz gut ohne Wort und
Rhythmus aus. Und wer dieses Gedicht etwa noch nicht für
ein Gedicht gehalten hat, wird sofort seine Haltung wieder-
gewinnen, wenn ich die Namen der drei Meister nenne, die ich
gebeten habe, sich zu einem Gedicht zu vereinigen. Wir danken
die erste Strophe Heinrich Heine, die zweite Stefan George und
die dritte keinem Geringeren als Johann Wolfgang von Goethe
Sie alle zeigen sich genau auf der gleichen Höhe der Meister-
schaft. Sie sind zum Verwechseln ähnlich. Meisterschaftsringer
der deutschen Lyrik, die man durch Nummern unterscheiden
müßte, wenn man sie durchaus unterscheiden will. Mit andern
Worten: Nur das Wort, jedes Wort ist Material der Dichtung
nicht der Begriff, der das Wort verstellt. Oder: Der Beinbruch
ist sichtbar der Seelenbruch nicht. Und auf die Sichtbarkeit
kommt es an. Es entsteht kein Bild, wenn Sichtbares mit
Unsichtbarem verbunden wird. Das Leben des Sichtbaren oder
des Unsichtbaren ist der Rhythmus. Nur Bewegung ist Leben
Die sachliche Aussage sogar wird künstlerisch, sogar ohne die
sogenannten dichterischen Hilfsmittel, wenn das einzelne Wort
lebt und die Wörter in ihren Beziehungen zueinander durch
ihren Rhythmus leben.
Es war eine schöne Jüdin,
Ein wunderschönes Weib.
Sie hat eine schöne Tochter
Ihr Haar war schön geflochten.
Zum Tanz war sie bereit.

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