Die EniwicMung der ideopiasiischen
Kunst
Max Vtrwarm-Boan
daa hervorstechende Merkmal der diluvialen Figuralkunai
die große Naturwahrheit in der Wiedergabe des Gesehenen
(siehe das Beispiel Figur 1), so darf doch eine kleine Gruppe von
Figur 1
Weidendes ReaHtier, Knochengravierung dea
PaÜoiithicuma
figuralen Darstellungen nicht übersehen werden, bei denen
dieses Moment im Interesse einer gewissen Schematisierung
stark vernachlässigt ist. Solche Darstellungen linden sich nicht
so sehr in der großen monumentalen Kunst der Höhlenwände,
als vielmehr in Gestalt von Gravierungen auf Gebrauchsgegen-
ständen aus Knochen oder Renntierhom. Hier ist das urspüng-
lich rein figurale Motiv als Ornament verwendet und schema-
tisch vereinfacht oder ornamental stilisiert worden. Wir haben
hier eine Mischform von ornamentaler und figuraler Kunst vor
uns und stehen vor den ersten Anfängen einer ganz neuen
Kunstrichtung, die bald die alte Kunst des Paläolithicums ganz
verdrängt und bis weit in die geschichtlichen Zeiten hinein fast
die ausschließliche Alleinherrschaft übernimmt.
Werden figurale Motive als Ornament verv/endet, so vollzieht
sich sehr schnell eine Umbildung des Gegenstandes in der Dar-
stellung. Der erste Schritt dazu besteht in der Vereinfachung
des Bildes durch Weglassen aller für den Ornamentzweck un-
wesentlichen Einzelheiten, d. h. in einer Schematisierung. Die-
ser Prozeß schreitet weiter fort. Das Schema kann so einfach
werden, daß aus ihm das Original kaum noch zu erkennen ist.
Umgekehrt aber kann in das Schema auch allerlei ornamentale
äutat eingefügt werden. So entfernt sich die Darstellung immer
weiter von oer Naturwahrheit. Es entsteht dabei eine Kunst-
richtung, die viel mehr ihre Wünsche und Ideale, ihr Phantasie-
bild von dem ursprünglichen Gegenstand zum Ausdruck bringt,
Figur 2
Ornamenta! verwendete Tierzeichnungen
aus dem jüngeren Paiäoiithicum. Links
Knochenwerkzeug mit drei übereinander
angeordneten Renntierköpfen. Reckts oben
Renntierzeichnung von vorn. Rechts unten
als das der Natur entsprechende mimitteibar# Empfindungsbild
Ich habe deshalb diese Kunstrichtung als die ideoplasti*-
sche Kunst der ältesten naturwahren Figuralkunst, die man
als p h. y a i o p 1 a s t i s c h e Kunst bezeichnen kann, gegen-
über gestellt. Beide Kunstrichtungen sind so weit von einander
verschieden wie Himmel und Erde, wenn sich auch im gegebenen
Einzelfalle einmal Züge der einen mit Zügen der anderen Rich-
tung vermischen können.
Wie gesagt, zeigt sich die „ideoplastische Kunst" in der paläoR-
thischen Periode der diluvialen Kenntierjäger nur in ihren ersten
schüchternen und spärlichen Anfängen. Man ordnet Tierköpfe,
indem man sie leicht vereinfacht in Reihen als Dekoration auf
Knochengeräten an (Figur 2 links oben), man schematisiert ein-
zelne Elemente der Tierzeichnung und verwendet sie als Orna-
ment (Figur 2 rechts unten), man bildet Pflanzenranken zu orna-
mentalen Kreis- und Spiralmotiven um. Im ganzen beschränkt
sich die Ideoplastik in dieser Zeit noch auf die einfachsten Sche-
matisierungen zu ornamentalen Zwecken. Mit dem Uebergang
der paläolithischen Kulturperiode in die neolithische, mit dem
Uebergang der älteren Steinzeit in die jüngere ändert sich das
aber vollkommen (Figur 3). Am Ausgang des Paläolithicums
Figur 3
Hirschjagdscene. Feiszeichnung aus der Ueber-
gangspsrioüe vom Paiäoiithicum zum
Neotithicum aus Spanien
findet ein umfassender Szenenwechsel im Kulturbilde der
Menschheit statt, so tiefgehend, daß man direkt von einem
,,Hiatus" zischen paläolithischer und neolithischer Kultur ge-
sprochen hat. In der Tat ist die Fülle von neuen Erscheinungen
gewaltig. Man glaubt in eine neue Welt einzutreten, wenn man
die vc-lientwickelte neolithische Kultur vergleicht mit den Kul-
turen der älteren Steinzeit. Wir wissen heute zwar, daß sich
auch hier eine ganze Reihe von Uebergangsstufen findet, die
uns die Kontinuität der Entwicklung verbürgen, aber es läßt
sich nicht leugnen, daß sich in dieser Uebergangszeit eine tief-
greifende Umwälzung vollzogen hat, die auch die Kunst ent-
scheidend beeinflußte.
Eine große Anzahl von Tatsachen hat uns gelehrt, daß nicht blos
eine Weiterentwicklung der äußeren Kultur in jener Ueber-
gangszeit sich vollzog, die zum Beispiel in der Entstehung neuer
Werkzeugtypen, in der Erfindung der Keramik, der Spinnerei
und Weberei, der Viehzucht, des Ackerbaus, dos Hausbaus
ihren Ausdruck fand, sondern daß vor allem die ganze Geistes-
kultur einen mächtigen Impuls erhielt, der in dem üppigen
Emporwuchern des Vorstellungslebens bemerkbar wurde.
Ich kann hier nicht auf die einzelnen und mannigfachen Symp-
tome, die uns das anzeigen, näher eingehen. Es genügt zu
wissen, daß sich um jene Zeit eine tiefgehende Aenderung im
Denken des Menschen vollzog. Der Mensch tritt aus dem Zeit-
alter des naiv praktischen Geistes in das Zeitalter des speku-
lativ theoretisierenden Geistes ein. Die naive Harmlosigkeit
des alten diluvialen Jägers, der sich in erster Linie von den mo-
mentanen Sinneseindrücken leiten ließ, ohne sich viel über ihre
Bedeutung den Kopf zu zerbrechen, geht verloren. Mit der seß-
haften Lebensweise, die der Ackerbau im Gefolge hat, macht
sich mehr die Neigung geltend, über die Dinge nachzusinnen
und zu grübeln. Man macht sich Gedanken über Leben und
Tod, über Krankheit und Heilung, über Schlaf und Traum. Man
gelangt zu der dualistischen Spaltung des menschlichen Wesens
in Leib und Seele und von dieser ungeheuer folgenschweren
Konzeption aus ist es nur noch ein S-J -RR' tA ikr
der Ahnenseelcn, der Geister, Dämoitu^ —R
Welt wird bevölkert teils mit unsicHA^*^'u§^F^'u
Seelen, die sich in irgend einer schredAM^
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Kunst
Max Vtrwarm-Boan
daa hervorstechende Merkmal der diluvialen Figuralkunai
die große Naturwahrheit in der Wiedergabe des Gesehenen
(siehe das Beispiel Figur 1), so darf doch eine kleine Gruppe von
Figur 1
Weidendes ReaHtier, Knochengravierung dea
PaÜoiithicuma
figuralen Darstellungen nicht übersehen werden, bei denen
dieses Moment im Interesse einer gewissen Schematisierung
stark vernachlässigt ist. Solche Darstellungen linden sich nicht
so sehr in der großen monumentalen Kunst der Höhlenwände,
als vielmehr in Gestalt von Gravierungen auf Gebrauchsgegen-
ständen aus Knochen oder Renntierhom. Hier ist das urspüng-
lich rein figurale Motiv als Ornament verwendet und schema-
tisch vereinfacht oder ornamental stilisiert worden. Wir haben
hier eine Mischform von ornamentaler und figuraler Kunst vor
uns und stehen vor den ersten Anfängen einer ganz neuen
Kunstrichtung, die bald die alte Kunst des Paläolithicums ganz
verdrängt und bis weit in die geschichtlichen Zeiten hinein fast
die ausschließliche Alleinherrschaft übernimmt.
Werden figurale Motive als Ornament verv/endet, so vollzieht
sich sehr schnell eine Umbildung des Gegenstandes in der Dar-
stellung. Der erste Schritt dazu besteht in der Vereinfachung
des Bildes durch Weglassen aller für den Ornamentzweck un-
wesentlichen Einzelheiten, d. h. in einer Schematisierung. Die-
ser Prozeß schreitet weiter fort. Das Schema kann so einfach
werden, daß aus ihm das Original kaum noch zu erkennen ist.
Umgekehrt aber kann in das Schema auch allerlei ornamentale
äutat eingefügt werden. So entfernt sich die Darstellung immer
weiter von oer Naturwahrheit. Es entsteht dabei eine Kunst-
richtung, die viel mehr ihre Wünsche und Ideale, ihr Phantasie-
bild von dem ursprünglichen Gegenstand zum Ausdruck bringt,
Figur 2
Ornamenta! verwendete Tierzeichnungen
aus dem jüngeren Paiäoiithicum. Links
Knochenwerkzeug mit drei übereinander
angeordneten Renntierköpfen. Reckts oben
Renntierzeichnung von vorn. Rechts unten
als das der Natur entsprechende mimitteibar# Empfindungsbild
Ich habe deshalb diese Kunstrichtung als die ideoplasti*-
sche Kunst der ältesten naturwahren Figuralkunst, die man
als p h. y a i o p 1 a s t i s c h e Kunst bezeichnen kann, gegen-
über gestellt. Beide Kunstrichtungen sind so weit von einander
verschieden wie Himmel und Erde, wenn sich auch im gegebenen
Einzelfalle einmal Züge der einen mit Zügen der anderen Rich-
tung vermischen können.
Wie gesagt, zeigt sich die „ideoplastische Kunst" in der paläoR-
thischen Periode der diluvialen Kenntierjäger nur in ihren ersten
schüchternen und spärlichen Anfängen. Man ordnet Tierköpfe,
indem man sie leicht vereinfacht in Reihen als Dekoration auf
Knochengeräten an (Figur 2 links oben), man schematisiert ein-
zelne Elemente der Tierzeichnung und verwendet sie als Orna-
ment (Figur 2 rechts unten), man bildet Pflanzenranken zu orna-
mentalen Kreis- und Spiralmotiven um. Im ganzen beschränkt
sich die Ideoplastik in dieser Zeit noch auf die einfachsten Sche-
matisierungen zu ornamentalen Zwecken. Mit dem Uebergang
der paläolithischen Kulturperiode in die neolithische, mit dem
Uebergang der älteren Steinzeit in die jüngere ändert sich das
aber vollkommen (Figur 3). Am Ausgang des Paläolithicums
Figur 3
Hirschjagdscene. Feiszeichnung aus der Ueber-
gangspsrioüe vom Paiäoiithicum zum
Neotithicum aus Spanien
findet ein umfassender Szenenwechsel im Kulturbilde der
Menschheit statt, so tiefgehend, daß man direkt von einem
,,Hiatus" zischen paläolithischer und neolithischer Kultur ge-
sprochen hat. In der Tat ist die Fülle von neuen Erscheinungen
gewaltig. Man glaubt in eine neue Welt einzutreten, wenn man
die vc-lientwickelte neolithische Kultur vergleicht mit den Kul-
turen der älteren Steinzeit. Wir wissen heute zwar, daß sich
auch hier eine ganze Reihe von Uebergangsstufen findet, die
uns die Kontinuität der Entwicklung verbürgen, aber es läßt
sich nicht leugnen, daß sich in dieser Uebergangszeit eine tief-
greifende Umwälzung vollzogen hat, die auch die Kunst ent-
scheidend beeinflußte.
Eine große Anzahl von Tatsachen hat uns gelehrt, daß nicht blos
eine Weiterentwicklung der äußeren Kultur in jener Ueber-
gangszeit sich vollzog, die zum Beispiel in der Entstehung neuer
Werkzeugtypen, in der Erfindung der Keramik, der Spinnerei
und Weberei, der Viehzucht, des Ackerbaus, dos Hausbaus
ihren Ausdruck fand, sondern daß vor allem die ganze Geistes-
kultur einen mächtigen Impuls erhielt, der in dem üppigen
Emporwuchern des Vorstellungslebens bemerkbar wurde.
Ich kann hier nicht auf die einzelnen und mannigfachen Symp-
tome, die uns das anzeigen, näher eingehen. Es genügt zu
wissen, daß sich um jene Zeit eine tiefgehende Aenderung im
Denken des Menschen vollzog. Der Mensch tritt aus dem Zeit-
alter des naiv praktischen Geistes in das Zeitalter des speku-
lativ theoretisierenden Geistes ein. Die naive Harmlosigkeit
des alten diluvialen Jägers, der sich in erster Linie von den mo-
mentanen Sinneseindrücken leiten ließ, ohne sich viel über ihre
Bedeutung den Kopf zu zerbrechen, geht verloren. Mit der seß-
haften Lebensweise, die der Ackerbau im Gefolge hat, macht
sich mehr die Neigung geltend, über die Dinge nachzusinnen
und zu grübeln. Man macht sich Gedanken über Leben und
Tod, über Krankheit und Heilung, über Schlaf und Traum. Man
gelangt zu der dualistischen Spaltung des menschlichen Wesens
in Leib und Seele und von dieser ungeheuer folgenschweren
Konzeption aus ist es nur noch ein S-J -RR' tA ikr
der Ahnenseelcn, der Geister, Dämoitu^ —R
Welt wird bevölkert teils mit unsicHA^*^'u§^F^'u
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