,,Nun gehören Sie mir," rief er frohlockend, ,,Gestatten Sie
mir, daß ich meine Protektorrolle sofort übernehme." Damit
zahlte er die Zeche für uns Beide, zog meinen Arm durch sei-
nen und lustwandelte mit mir seinem Hause zu, in dem sich
auch das Museum befand. Es waren etwa sechs Säle voll
totem Leben, mit unglaublichem Raffinement in Szene gesetzt.
,,Gute Regie — was?" lobte der Alte sich selbst. Aber mit
Grund. Im ersten Saal war eine elegante Ballgesellschaft aus
lauter Toten, vom jüngsten Backfisch, Jüngling, bis zu den grei-
sen Baileltern und Mauerblümchen; nebst bedienenden Kell-
nern und Zofen. Der zweite Saal zeigte Variete mit entzük-
kenden Arrangements; eine kleine Nackttänzerin zum Ver-
lieben lieblich. Der dritte Saal wies mittleres Bürgertum aller
Schattierungen in jovialen Gruppen auf. Der vierte allerhand
Proletariertypen. Der fünfte bestand aus Kindern vom achten
Jahre bis zum sechszehnten; sie schienen zu spielen; die einen
graziös und vornehm; die änderen gewöhnlich. Der sechste
Saal endlich enthielt ein Bacchanale, eine Orgie mit Intimitäten
aus Brautgemächern und Schreckenskammern. Noch nie hatte
ich den Tod ein solches Leben atmen sehen. Es war völlig
ein negativer Friedhof. ,,So," sagte der Alte und faßte mich
um die Hüfte; ,,heut schreiben wir den 10. August 1917. Un-
sere nächste Feier (wir sind eingetragener Verein) findet am
16. September anni currentis statt. Bis dahin leben Sie be-
quem bei mir und haben Zeit, sich Ihren Platz, Ihre Attitüde,
Ihr Kostüm auszuwählen. Sie passen, denke ich' ... er mu-
sterte mich nachdenklich .... am besten in mein Variete,
nicht wahr?"
Oute Kritik
Die Vossische Aktion
An komische Figuren denkt man gern zurück. Wer wird nicht
froh gelaunt an Herrn Franz Servaes, Kunstdoktor der Vossischen
Zeitung zurückdenken, der sich so über die ,,neuen guten und
lichten Räume der Kunstausstellung Der Sturm" ärgerte, daß
er von der Straße heraufschimpfte und gar böse wurde, weil
der Sturm ihn um die Ecke blies. Er ward nicht mehr gesehen.
Nun wandert er ruhelos durch die Straßen Groß-Berlins, ver-
meidet sorgsam die Potsdamer Straße, wo es ihm nicht geheuer
ist, aber ungeheuer spukt der Sturm in seinem Denkerkopf:
,,Wir beschließen unsere Wanderung, indem wir dem Beginn
der Kaiserallee zustreben, wo schräg gegenüber dem Joachims-
talschen Gymnasium die ^p^essionistische futuristische Zu-
schrift Die Aktion ihren ganz der Propaganda gewid ' eten
Buch- und Kunst-Laden besitzt. Spezialkenner behaupten, daß
hiermit dem Sturm nicht etwa Konkurrenz, sondern Fehde ange-
sagt sei, . . . immerhin scheint in der Aktion mit mehr Ernst und
Kritik gearbeitet zu werden." Der entlassene Kritikangestellte
wendet sich mit Ernst der Konkurrenz zu, oder vielmehr der
Fehde, Aber selbst diese Wilmersdorfer Vorortzeitung, die
meistens mit abgelegten und abgelehnten Sachen des Sturm
handelt, geht dem Herrn Servaes noch über die Hutschnur, so
daß er sie ernst nimmt. Gewiß, die Aktion ist ernst, bitter ernst,
sie ist auch äternistisch, was sie in Unkenntnis dieses Fremd-
wortes so macht, daß sie ,,die Zeit ausschneidet" und sie in den
,,kleinen Briefkasten" steckt. So ein kleiner Briefkasten hat
überall Platz. Die Gartenlaube besitzt ihn und der Berliner
Lokalanzeiger und die Schaubühne. Nur daß der gute Brief-
kastenonkel der Aktion ebenso böse auf die Zeit ist wie der
Herr Servaes auf die Kunst. Ich kann Herrn Servaes nur raten,
sich ganz dem der Propaganda gewidmeten Buch- und Kunst-
Laden zu widmen. Seine Kritik wird dafür auch einmal aus-
geschnitten und in der Aktion als ,.Urteil" veröffentlicht. Man
denke, die Vosßische Zeitung spricht sich für die Aktion aus.
Diese Propaganda. Der ganze Buch- und Kunst-Laden wird
überflüssig. Hat doch die Aktion bereits eine Anerkennung
im Mannheimer Tageblatt gefunden. Im Mannheimer Tage-
blatt. Dieses Blatt warf der gute Onkel nicht in seinen ,,klei-
nen Briefkasten", er schnitt es aber immerhin aus und ließ es
auf seine eigenen Kosten als ,,Urteil" nachdrucken: ,,Ein kriti-
sches Organ von ausnahmsweiser Schärfe des Ausdrucks besit-
zen wir in der Wochenschrift die Aktion. Pfemfert nimmt kein
Blatt vor den Mund. Es fehlt vielleicht manch einer Monatsschrift
an dem Geiste, der diese Blätter durchweht." Es ist ein Fehler,
daß Pfemfert kein Blatt vor den Mund nimmt. So wehen diese
Blätter überall in dem Geiste herum, den Herr Franz Servaes
beinahe begreift. Um ihm aber eine Mühe zu ersparen,
schneide ich die Aktion aus und gebe hiermit einen Original-
holzschnitt des ganz der Propaganda gewidmeten Buch- und
Kunst-Ladens zum besten der Zeit, unausgeschnitten. Dieser
Holzschnitt ist von der Künstlerin Auguste von Zitzewitz eigens
für die Zeitschrift und Kunstausstellung Die Aktion gezeichnet
und geschnitten. Diese und ähnliche Werke ausgeschnittener
Kunst werden von dem genannten Herrn ohne Blatt vor dem
Mund mit Ernst und in Zukunft von dem genannten Herr* Ser-
vaes mit Kritik der Internationale als Expressionismus dar-
gebracht:
Das ist bitterster Kunsternst.
Verschlafen
Der brave Fritz Stahl vom Berliner Tageblatt sucht Anschluß.
Das Berliner Tageblatt erscheint noch immer, trotzdem ich
den Stahl beinahe vergessen habe. Herr Stahl beginnt, Hodier,
Munch und van Gogh anzuerkennen. ,,Die neue Richtung, die
sich in bewußtem Gegensatz zu dem abgeschlossenen Impres-
sionismus stellt, beweist schon dadurch, daß sie vom Tage ist
und mit dem Tag vergehen muß.' Herr Stahl hingegen
vergeht erst mit dem Tageblatt und ist nicht vom
Tage, der bei der Konkurrenz erscheint. Nichtsdesto-
weniger behauptet Herr Stahl nunmehr, daß es schon
lange vor der neuen Richtung Künstler gegeben hat, die
zu dieser neuen Kunst gehören, obwohl sie nach dem
Tageblatt vergehen muß. Er hat sich vergangen und
muß sich nun selber in den Weg treten. Er merkt all-
mählich, daß er betreten ist. Deshalb sucht er Anschluß bei
den ,,Bahnbrechern". Sie sind schon längst an ihrem Ziel. Und
der brave Herr Stahl steht erstaunt am Anfang der Bahn, reibt
sich die blinden Augen und rennt mit Hurra die bekannten
offnen Türen ein.
Herwarth Waiden
46
mir, daß ich meine Protektorrolle sofort übernehme." Damit
zahlte er die Zeche für uns Beide, zog meinen Arm durch sei-
nen und lustwandelte mit mir seinem Hause zu, in dem sich
auch das Museum befand. Es waren etwa sechs Säle voll
totem Leben, mit unglaublichem Raffinement in Szene gesetzt.
,,Gute Regie — was?" lobte der Alte sich selbst. Aber mit
Grund. Im ersten Saal war eine elegante Ballgesellschaft aus
lauter Toten, vom jüngsten Backfisch, Jüngling, bis zu den grei-
sen Baileltern und Mauerblümchen; nebst bedienenden Kell-
nern und Zofen. Der zweite Saal zeigte Variete mit entzük-
kenden Arrangements; eine kleine Nackttänzerin zum Ver-
lieben lieblich. Der dritte Saal wies mittleres Bürgertum aller
Schattierungen in jovialen Gruppen auf. Der vierte allerhand
Proletariertypen. Der fünfte bestand aus Kindern vom achten
Jahre bis zum sechszehnten; sie schienen zu spielen; die einen
graziös und vornehm; die änderen gewöhnlich. Der sechste
Saal endlich enthielt ein Bacchanale, eine Orgie mit Intimitäten
aus Brautgemächern und Schreckenskammern. Noch nie hatte
ich den Tod ein solches Leben atmen sehen. Es war völlig
ein negativer Friedhof. ,,So," sagte der Alte und faßte mich
um die Hüfte; ,,heut schreiben wir den 10. August 1917. Un-
sere nächste Feier (wir sind eingetragener Verein) findet am
16. September anni currentis statt. Bis dahin leben Sie be-
quem bei mir und haben Zeit, sich Ihren Platz, Ihre Attitüde,
Ihr Kostüm auszuwählen. Sie passen, denke ich' ... er mu-
sterte mich nachdenklich .... am besten in mein Variete,
nicht wahr?"
Oute Kritik
Die Vossische Aktion
An komische Figuren denkt man gern zurück. Wer wird nicht
froh gelaunt an Herrn Franz Servaes, Kunstdoktor der Vossischen
Zeitung zurückdenken, der sich so über die ,,neuen guten und
lichten Räume der Kunstausstellung Der Sturm" ärgerte, daß
er von der Straße heraufschimpfte und gar böse wurde, weil
der Sturm ihn um die Ecke blies. Er ward nicht mehr gesehen.
Nun wandert er ruhelos durch die Straßen Groß-Berlins, ver-
meidet sorgsam die Potsdamer Straße, wo es ihm nicht geheuer
ist, aber ungeheuer spukt der Sturm in seinem Denkerkopf:
,,Wir beschließen unsere Wanderung, indem wir dem Beginn
der Kaiserallee zustreben, wo schräg gegenüber dem Joachims-
talschen Gymnasium die ^p^essionistische futuristische Zu-
schrift Die Aktion ihren ganz der Propaganda gewid ' eten
Buch- und Kunst-Laden besitzt. Spezialkenner behaupten, daß
hiermit dem Sturm nicht etwa Konkurrenz, sondern Fehde ange-
sagt sei, . . . immerhin scheint in der Aktion mit mehr Ernst und
Kritik gearbeitet zu werden." Der entlassene Kritikangestellte
wendet sich mit Ernst der Konkurrenz zu, oder vielmehr der
Fehde, Aber selbst diese Wilmersdorfer Vorortzeitung, die
meistens mit abgelegten und abgelehnten Sachen des Sturm
handelt, geht dem Herrn Servaes noch über die Hutschnur, so
daß er sie ernst nimmt. Gewiß, die Aktion ist ernst, bitter ernst,
sie ist auch äternistisch, was sie in Unkenntnis dieses Fremd-
wortes so macht, daß sie ,,die Zeit ausschneidet" und sie in den
,,kleinen Briefkasten" steckt. So ein kleiner Briefkasten hat
überall Platz. Die Gartenlaube besitzt ihn und der Berliner
Lokalanzeiger und die Schaubühne. Nur daß der gute Brief-
kastenonkel der Aktion ebenso böse auf die Zeit ist wie der
Herr Servaes auf die Kunst. Ich kann Herrn Servaes nur raten,
sich ganz dem der Propaganda gewidmeten Buch- und Kunst-
Laden zu widmen. Seine Kritik wird dafür auch einmal aus-
geschnitten und in der Aktion als ,.Urteil" veröffentlicht. Man
denke, die Vosßische Zeitung spricht sich für die Aktion aus.
Diese Propaganda. Der ganze Buch- und Kunst-Laden wird
überflüssig. Hat doch die Aktion bereits eine Anerkennung
im Mannheimer Tageblatt gefunden. Im Mannheimer Tage-
blatt. Dieses Blatt warf der gute Onkel nicht in seinen ,,klei-
nen Briefkasten", er schnitt es aber immerhin aus und ließ es
auf seine eigenen Kosten als ,,Urteil" nachdrucken: ,,Ein kriti-
sches Organ von ausnahmsweiser Schärfe des Ausdrucks besit-
zen wir in der Wochenschrift die Aktion. Pfemfert nimmt kein
Blatt vor den Mund. Es fehlt vielleicht manch einer Monatsschrift
an dem Geiste, der diese Blätter durchweht." Es ist ein Fehler,
daß Pfemfert kein Blatt vor den Mund nimmt. So wehen diese
Blätter überall in dem Geiste herum, den Herr Franz Servaes
beinahe begreift. Um ihm aber eine Mühe zu ersparen,
schneide ich die Aktion aus und gebe hiermit einen Original-
holzschnitt des ganz der Propaganda gewidmeten Buch- und
Kunst-Ladens zum besten der Zeit, unausgeschnitten. Dieser
Holzschnitt ist von der Künstlerin Auguste von Zitzewitz eigens
für die Zeitschrift und Kunstausstellung Die Aktion gezeichnet
und geschnitten. Diese und ähnliche Werke ausgeschnittener
Kunst werden von dem genannten Herrn ohne Blatt vor dem
Mund mit Ernst und in Zukunft von dem genannten Herr* Ser-
vaes mit Kritik der Internationale als Expressionismus dar-
gebracht:
Das ist bitterster Kunsternst.
Verschlafen
Der brave Fritz Stahl vom Berliner Tageblatt sucht Anschluß.
Das Berliner Tageblatt erscheint noch immer, trotzdem ich
den Stahl beinahe vergessen habe. Herr Stahl beginnt, Hodier,
Munch und van Gogh anzuerkennen. ,,Die neue Richtung, die
sich in bewußtem Gegensatz zu dem abgeschlossenen Impres-
sionismus stellt, beweist schon dadurch, daß sie vom Tage ist
und mit dem Tag vergehen muß.' Herr Stahl hingegen
vergeht erst mit dem Tageblatt und ist nicht vom
Tage, der bei der Konkurrenz erscheint. Nichtsdesto-
weniger behauptet Herr Stahl nunmehr, daß es schon
lange vor der neuen Richtung Künstler gegeben hat, die
zu dieser neuen Kunst gehören, obwohl sie nach dem
Tageblatt vergehen muß. Er hat sich vergangen und
muß sich nun selber in den Weg treten. Er merkt all-
mählich, daß er betreten ist. Deshalb sucht er Anschluß bei
den ,,Bahnbrechern". Sie sind schon längst an ihrem Ziel. Und
der brave Herr Stahl steht erstaunt am Anfang der Bahn, reibt
sich die blinden Augen und rennt mit Hurra die bekannten
offnen Türen ein.
Herwarth Waiden
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