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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 9.1918-1919

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Neuntes Heft (Dezember 1918)
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Walden, Herwarth: Ableger
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https://doi.org/10.11588/diglit.37111#0122

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Ableger
Seit längerer Zeit erscheint in Weimar eine expressionistische
Gartenlaube unter dem Namen „Das Kunstblatt ', die neuerdings
nach Potsdam verlegt ist. Herausgegeben und geleitet wird das
Blatt von Herrn Paul Westheim, der nebenbei noch die
„Frankfurter Zeitung" mit Kunsturteilen versorgt. Herr Paul
Westheim ist reinster Expressionist. Er konnte einfach ohne
Expressionismus nicht mehr leben. Niemand in Europa hat sich
bekanntlich um den Expressionismus gekümmert. Herr West-
heim folgte also dem Zuge seines Herzens und seines Geistes
und es gelang ihm tatsächlich in Weimar einen Verleger zu
finden, den er im Jahr 1917 von der Notwendigkeit überzeugte,
daß endlich etwas für den Expressionismus geschehen müsse.
Der freundliche Herr in Weimar fand die Sache ganz originell.
Das Kunstblatt erschien und Herr Paul Westheim war endlich
in die Lage versetzt, für den Expressionismus zu wirken. Er
konnte und durfte bekennen. Wie hat er darunter gelitten, für
die neue Kunst nicht eintreten zu können. Zwar war er seit
einem Jahrzehnt bereits sogenannter Kunstkritiker der „Frank-
furter Zeitung", aber Frankfurt und die „Frankfurter Zeitung"
waren ihm für sein Seelenbedürfnis und seine Kunstkennerschaft
nicht gut genug. Er hielt sich zurück, sicher mit blutendem
Herzen. Er wollte die Leser der „Frankfurter Zeitung" und der
anderen Blätter, die er mit Kunst bediente, nicht sein wahres
Antlitz sehen lassen. Nur die Stadt Schillers und Goethes war
ihm rein genug. Zwar hatte er in der „Frankfurter Zeitung" und
in seinen andern Blättern gelegentlich etwas über den Ex-
pressionismus geäußert. Und infolgedessen auch über den
„Sturm", der allerdings nur in Berlin erscheint, der sich aber
sieben Jahre ausschließlich und allein mit dem Expressionismus
beschäftigte. Doch es war nicht der wahre Expressionismus,
dem Herr Paul Westheim sein Leben widmet. Und so äußert
sich Herr Westheim im Dezemberheft 1918 der Potsdamer Zeit-
schrift „Das Kunstblatt" also: ,, Das Erscheinen eines Buches:
Kunstwende (im Verlag des Sturm) gibt Adolf Behne Anlaß, sich
in den Sozialistischen Monatsheften auseinanderzusetzen mit
den kleinen Ablegern der Marc, Chagall, Archipenko, Kan-
dinsky, Klee, Feininger, dem, was man jetzt unter dem Schlag-
wort Sturmkunst der Oeffentlichkeit aufzupropagieren ver-
sucht." Die Marc, Chagall, Archipenko, Kandinsky, Klee,
Feininger gehören nicht zum Sturm und sind der Oeffentlichkeit
durch das Kunstblatt des Herrn Westhehn aufpropagiert wor-
den. Das hat Herr Westheim geleistet. Herr Westheim mit
seinem Kennerblick. Herr Westheim mit seinem Kunsturteil.
Herr Westheim mit der feinen Nase, der weiß, was echt und
unecht, ehrlich und unehrlich im Expressionismus ist. Nun weiß
außer Herrn Westheim jeder, daß die genannten Künstler zum
Sturm gehören und nur durch den Sturm zur Kenntnis des Herrn
Westheim gelangt sind. Nur weiß nicht jeder mehr, wie Herr
Westheim über diese Künstler geurteilt hat, für die er jetzt mit
seiner ganzen Manneskraft gegen den Sturm auftritt. Herr
Westheim tritt sogar oder vielmehr logisch für die Künstler ein,
die der Sturm ausschied, weil ihr Schaffen die neuen künst-
lerischen Ziele nicht erreichen konnte. Das alles macht nichts.
Ich verbürge mich dafür, daß Herr Paul Westheim nach abermals
fünf Jahren die sogenannten kleinen Ableger des Sturm ver-
teidigen wird, gegen die neuen Künstler, die vielleicht in fünf
Jahren von den Herren Westheim und Behne als kleine Ableger
werden bezeichnet werden. Ich habe mich in künstlerischen
Wertungen nie geirrt. Die Herren Kunstkenner und Kunst-
kritiker haben noch immer bestätigen müssen, was ich als erster
erkannte und anerkannte. In jeder Kunst. Auch Herr Paul
Westheim folgt meinen Spuren, wenn auch nicht gerade er-
rötend. Ich möchte ihn aber etwas zur Vorsicht mahnen. Er
möge wenigstens immer fünf Jahre warten, bis er ein Urteil
abgibt. Auch dann kann ich ihm nur raten, einfach meine Ur-
teil nachzuschreiben. Ich will das Herrn Paul Westheim aus
Paul Westheim selbst beweisen.

Rectams Universum Dezember
1913:
Herr Paut Westheim über Chagall
im „Sturm":
„Da gebührt seinem Kumpan, dem
Marc Chagall, doch der Vorrang.
Er schickt drei Bilder nach Berlin,
die gewidmet sind: erstens:
seiner Braut, zweitens Chri-
stus, drittens: Rußland, den Eseln
und den Andern. Im Interesse
des guten Geschmacks, der einer
Malersbraut ja ohne weiteres zu
konzedieren ist, wollen wir nicht
annehmen, daß die gehörnte
Bestie, die oben zwischen ein
Paar Schenkeln emportaucht, ein
Stück Selbsterkenntnis des so frei-
giebig widmenden Autors ist.

Frankfurter Zeitung November
1912:
Herr Paul Westheim über den-
selben Ludwig Meldner, den
Führer der Gruppe Die Patheti-
ker: „Im Sturm marschierte wie-
der eine neue Gruppe: Die Pathe-
tiker auf, bestehend aus drei
jugendlichen Männern, deren
Namen man sich nicht zu
notieren braucht. Sie
scheinen noch in der Geistesver-
fassung, wo man als Dichter
schmerzerfiittte Oden ausströmt
u. s. w.

blatt, ein Ludwig Meidner-Heft.
Kunstblatt Februar 1917:
Herr Paul Westheim über den Maler
Stückgold
Die erste Stückgold-Sonderausstellung
in Deutschland veranstaltete der
Salon Neue Kunst im M a i 1913. Seiner
Devise getreu, hat Goltz damit auf
einen Schaffenden hingewiesen, auf
den man Erwartungen hätte setzen
können. Wie üblich, wie selbstver-
ständlich, ist man auch damals
achtlos geblieben.
So kann ich beliebig Herrn Westheim mit Herrn Westheim über
jeden Künstler widerlegen, den er heute „anerkennt". Er möge
also bescheiden sein und sich bescheiden. Er möge sich seinen
Satz einprägen, den er am 31. Dezember 1912 in der Frank-
furter Zeitung über den Sturm schrieb: „In Wahrheit, es ist
nichts leichter, als ehrlich zu scheinen, wenn man es ist. Aber
auch nichts schwerer, als eben das, wenn man es nicht ist.
Dann verrät man sich also allzu leicht. Herr Westheim der
Kämpfer für den Expressionismus schreibt noch im August
1918 über einen Sammler, der Kandinsky besitzt: „So unver-
ständlich mir diese Liebhaberei auch bleiben wird". Im D e -
zember 1918 hat diese „unverständliche Liebhaberei' des
Herrn Westheim schon „kleine Ableger ". Es ist nicht so ein-
fach, „unglücklicher Liebhaber" zu sein mit einem Gesicht, das
leicht ehrlich scheinen will.
Noch einige Worte über Herrn Adolf Behne. Herr Behne hat
bekanntlich durch mich die neue Kunst sehen gelernt und pole-
misiert in der erwähnten Besprechung des Buches Die Kunst-
wende nicht so sehr gegen das Buch als gegen den Sturmklub.
Er erklärt feierlich, ich hätte durch die Gründung dieses Sturm-
klubs die Führerschaft der neuen Kunst verwirkt. Im Sturm-
klub soll sogar Wein getrunken werden! Vielleicht übernimmt

Frankfurter Zeitung September
1913:
Herr Paut Westheim über den
Herbstsaton des Sturm in Berlin:
„Die Baila, Benes, Seewald,
Stück gotd — das ist normale
Münchener Atetierroutine mit einem
Aufguß theoretisch angenommener
Interessantheit, die den Wert attes
nachtrabenden Mittäufertums hat.

Das Kunstbtatt Dezember 1917:
Herr Paul Westheim über Chagatt:
„Der Sturm zeigte ats eine der be-
deutsamsten Veranstaltungen dieses
Kunstwinters eine umfassende Chagatt-
Ausstettung, die einen großen Begriff
gab von dem Schaffen dieses öst-
lichen Mystikers. Gleichzeitig Ist
ats erste Veröffenttichung einer Serie
Sturmbitderbücher im Vertag des
Sturm ein Chagalt-Heft erschienen,
das eine Auswahl der Werke in Re-
produktionen darkietet. Wenn auch
teider der Reiz der Farbe fehlt, der
bei Chagatt besonders bedeutsam ist,
so erhätt man einigermaßen doch
einen Begriff von dem, was Werke
wie „Rußtand den Esetn und den An-
dern", „Paris durchs Fenster", „Den
Viehhändter", „Die Geburt" oder „Den
trinkenden Sotdaten" so wesenhaft
macht.
Abgebitdet im Kunstbtatt: Meiner
Braut gewidmet.
Das Kunstbtatt Aprit 1917:
Herr Paut Westheim über Ludwig
Meidner, der zuerst im Sturm ausge-
stettt und später ausgeschieden wurde,
und zwar aus obiger Begründung:
„Meidner zeichnet Köpfe. Man spürt
das, dieses Kribbetn in den Fingern,
wenn er an einen gerät, der nicht
einen Schafskopf durch die Gassen
trägt. Meidners Porträtzeichnen ist
soich Zähneftetschen, solch bestiati-
sche Freude am Schnappen, am Er-
faßthaben. In seinem Umkreisen des
Opfers, in dem Zuschlägen mit der
krallenden Tatze, ist die Lust des
beutehungrigen Raubtiers.
Zahtreiche Abbildungen im Kunst-

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