Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 10.1919-1920

DOI issue:
Fünftes Heft
DOI article:
Schreyer, Lothar: Die neue Kunst
DOI Page / Citation link:
https://doi.org/10.11588/diglit.37115#0074
Overview
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
^ur Gestaltung zubereitete Werkzeug. Das
Außersichgestelltsein, die Ekstase begibt sich
mit dem Künstler. Der Künstler ist begabt.
Durch diese Begabung ist er nicht Mensch,
sondern Werkzeug. Das Gesicht und die Be-
gabung lassen sich nicht lehren. Die Be-
gabung ist eine Gabe außerhalb aller mensch-
lichen Gaben und unabhängig von ihnen. Da-
her ist alles Wissen und jede Bildung und
alles Können belanglos für die Gestaltung
des Kunstwerks. Der Künstler kann von
sich aus nichts. Der Zwang zur Gestaltung
gibt ihm zugleich die Mittel, mit denen er die
Gestalt schafft. Diese Notwendigkeit zwingt
den Künstler mit Farbformen oder Wort-
tönen oder Musiktönen zu schaffen, sie
macht ihn zum Maler oder Dichter oder Ton-
künstler. Als Mensch ist er vielleicht Volks
schüler oder Geheimrat oder Arbeiter oder
Postdirektor oder Filmregisseur oder Vaga-
bund. Die Notwendigkeit der Gestaltung
gibt dem Gesicht die Gestalt. Jedes Gesicht
ist verschieden, und jede Kunstgestalt ist
verschieden. Jede Gestalt trägt das Gesetz
ihrer Gestaltung in sich. Daher wissen wir
kein Gesetz der Kunst. Daher hat jedes
Kunstwerk sein Gesetz.
Die Weltwende wendet uns aus den Zeiten
der Nichtkunst zur Kunst, Wir wenden uns?
ab von den Zeiten der Aesthetik und der
Kunstkritik. Die Schönheit ist ein Irrtum
und eine Täuschung. Das Kunstwerk ist
weder schön noch häßlich. Das Wohlgefal-
len oder Mißgefailen ist ein persönliches
oder allgemeines Urteil über das Kunstwerk.
Die Kritik sucht mit untauglichen Mitteln,
den Sinnen und dem Verstand, das Kunst-
werk zu begreifen und zu verstehen. Wer
das Kunstwerk zu begreifen und zu verste
hen sucht oder zu begreifen und zu verste-
hen glaubt, hat das Kunstwerk nicht. Man
kann begreifen und verstehen, was Nicht-
kunst ist. Der Aesthetische und der Kri-
tische aber glauben zu wissen, warum ein
Werk ein Kunstwerk ist. Sie sprechen so-
dar von schlechter und guter Kunst. Aber
weder mit Wissen noch mit Glauben kann
man ein Kunstwerk erfassen. Denn das
Kunstwerk erfaßt uns. Urteilen und Glau-
ben sind geistige Vorgänge, sind Vorgänge
unseres Bewußtseins. Die leider wohl noch

nicht letzte Phrase der nichtkünstlerischen
Welt ist das Wort von der Geistigkeit der
Kunst. Aestheten und Kritiker, denen die
Nichtkunst tätiges Leben ist, glauben oder
reden uns vor, daß ihre vermeintliche Kunst
das Leben und seine Erscheinungen vergei-
stige. Sie verwirren und belügen das Leben.
Wir reden aneinander vorbei. Sie verstehen
unter Vergeistigung das intellektuelle oder
gläubige Erfassen der Welt. Je mehr sie bei
e nem Werk denken oder glauben können,
ein um so größeres Kunstwerk scheint es
ihnen. Einigen Vorsichtigen scheinen auch
Kunstwerke zu sein, was sie nicht verstehen
und nicht glauben können. Sie reden dann
von der Mystik des Geistes, Aber die Wirk
lichkeit des Geistes ist gar nicht mystisch.
Sie ist weder zu verstehen ,noch nicht zu
verstehen, weder zu glauben noch nicht zu
glauben. Die Wirklichkeit des Geistes liegt
jenseits des Menschen. Wer das begriffen
hat, dem ist das Wort vom vergeistigten Le-
ben eine Sünde. Es ist die Sünde am Geist,
von der sich die Welt wendet.
Weltwende ist Kunstwende. Was die Welt,
von der wir uns wenden, Kunst nennt, ist
Irrtum und Täuschung. Kunst ist nicht zu
nennen. Die vermeintlichen Kunstwerke sind
keine notwendigen Kündungen der Gesichte,
sondern Werke menschlicher Willkür. Wir
wenden uns ab von diesen vermeintlicher
Kunstwerken und ihren Künstlern. Wir wen-
den uns ab von der sogenannten Kunstwis-
senschaft, von der sogenannten Kunsterzie-
hung, von der sogenannten Kunstpfiege, von
der sogenannten Aesthetik, von der soge-
nannten Kunstkritik. All diese willkürlichen
Erfindungen täuschen nur hinweg über die
Leere einer armen Zeit, die arm ist, weil sie
keine Gesichte hat. Wir brauchen keine Er-
findungen mehr, da das Gesicht uns findet.
Das Gesicht findet die Menschen wieder.
Aus e ner Zeit, in der der Mensch der Fülle
der Gesichte und der Leidlosigkeit teilhaf-
tig ist.
Wir sind außerhalb des Menschlichen ge-
stellt und können über unsere Endlichkeit
der Unendlichkeit teilhaftig sein. Wir er-
kennen uns als ein Teil der Unendlichkeit
alles Werdens und Vergehens. Werden und
 
Annotationen