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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 11.1920

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Sechstes Heft
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Walden, Herwarth: Briefwechsel mit Signe dem Kind
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https://doi.org/10.11588/diglit.37133#0086
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Briefwechsel mit Signe dem
Kind
Herwarth Waiden
Ich habe ein Paar neue Schnallenschuhe
bekommen, aus Lack. Ich muss Ihnen das
gleich schreiben. Ich habe Ihnen ver-
sprochen, alles milzuteilen, was mich froh
und traurig macht. Eigentlich schreibe ich
höchst ungern Briete. Meine Mutter sagt
immer, man muss sich gut ausdrücken,
wenn man Briefe schreibt. Ich hatte schon
so einen Brief angefangen. Aber ich fand
keine richtige Ueberschrift. Wie soll ich
Sie eigentlich nennen. Wenn wir wenigstens
verwandt wären. Aber trotzdem könnte
ich Sie weder Vater noch Onkel nennen.
Freund kann ich auch nicht schreiben.
Freunde sind die Brüder meiner Freundinnen.
Die sprechen nur von Liebe und solchem
dummen Zeug. Sehr geehrter Herr kann
ich auch nicht schreiben, denn das würde
ich nie zu Ihnen sagen. Eigentlich hätte
ich Ihnen nichts versprechen sollen. Ich
höre gern, wenn Sie mit mir sprechen.
Das macht mich froh und traurig. Sonst
geschieht selten etwas. Ich werde nicht
oft schreiben brauchen. Nur die neuen
Schnallenschuhe, die haben mich wirklich
froh gemacht. Zerreissen Sie bitte den Briet.
Gruss Signe
Mein liebes Kind
Du siehst, die Ueberschrift habe ich schnell
gefunden, trotzdem ich nicht Dein Vater
bin und es nicht einmal sein möchte. Vor
dem Vater hat man Ehrfurcht und auch
Furcht. Beides sollst Du nicht vor mir
haben. Ich werde mich über jeden Brief
von Dir stets herzlich freuen, auch wenn
ihm die Ueberschrift fehlt. Es ist nicht
nötig, mein liebes Kind, dass man sich über
alles klar wird, dann ist man nur selten
noch froh oder traurig. Ausserdem ist
Klarheit höchst langweilig. Die Menschen
sagen, sie sehen klar, wenn sie nichts mehr
zu sehen haben. Ich habe mich sehr ge-
freut, zu lesen, dass Dein Wunsch erfüllt
ist. Mir wolltest Du nie einen Wunsch
sagen. Und ich schenke sehr gern. Ich
möchte Dir gern etwas geben, was Dich
froh macht. Schreib mir einmal darüber.
Herzlichen Gruss
Der Mann ohne Ueberschrift

Ihr Brief hat mich traurig gemacht. Sie
sind also doch beleidigt, dass ich Sie nicht
anrede. Dabei finde ich es furchtbar lustig,
dass Sie mich Kind nennen. Immer haben
Sie mit mir gesprochen, als ob ich ganz
erwachsen bin. Ich habe auch alles ganz
genau verstanden. Aber Sie sind ganz
anders als die andern Erwachsenen. Die
interessieren sich nur für ernste Dinge und
können sich garnicht freuen. Sie sind
überhaupt kein richtiger Erwachsener. Mit
Ihnen könnte ich bestimmt besser spielen
als mit allen meinen Freundinnen. Die
halten Spielen nämlich für Unsinn. Mutter
ßndet auch, ich bin schon etwas zu alt
dazu. Ich spiele zu gern. Mit den Schul-
arbeiten bin ich sehr schnell fertig. Am
liebsten spiele ich mit dem Seil. Es ist so
schön, immer über die Erde zu hüpfen.
Ich kann das viele Stunden tun. Und der
Bruder meiner besten Freundin wagt sich
nie heran, weil er solche Angst vor dem
Seil hat. Er will immer mit mir spazieren
gehen. Dabei hat er schmutzige Finger-
nägel und raucht heimlich Zigaretten. Das
ist sehr komisch. Jungen sind zu albern.
Nicht einmal spielen können sie. Kommen
Sie doch bald einmal wieder zu uns. Ich
glaube, meine Eltern werden sich sehr
freuen. Aber Sie dürfen mir nie etwas
schenken. Ich brauche auch wirklich nieths.
Jetzt habe ich ja die Schuhe. Zerreissen
Sie den Brief.
Gruss Signe
Wie kannst Du denken, dass ich beleidigt
bin, mein liebes Kind. Beleidigen ist ein
dummes Spiel mit Worten für Erwachsene,
denen Spielen zu dumm ist. Die Erwach-
senen sind so feige wie der Bruder Deiner
besten Freundin. Sie möchten gern spazieren
gehen, fürchten sich aber vor dem Seil.
Sie stehen lieber auf dem Boden, weil sie
nicht mehr hüpfen können. Ihr Ernst ist
eben, nicht zu hüpfen. Ich bedaure nur,
dass ich nicht mehr mit Dir gespielt habe,
mein liebes Kind. Leider bin ich doch
erwachsener, als ich es sein möchte. Alle
Menschen halten sich einander fest, ziehen
sich an den Armen und vertreten sich den
Weg, damit nur ja keiner voraus läuft. Sie
müssen dann alle rennen, stehen nicht
mehr fest auf dem Boden und geben sich
Haltung durch den Ernst des Lebens und

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