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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 11.1920

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Sechstes Heft
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Walden, Herwarth: Briefwechsel mit Signe dem Kind
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https://doi.org/10.11588/diglit.37133#0088
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weitig. Alles wirkt so unnatürlich, beson-
ders die Hexe. Musik ist viel schöner. Da
kann man sich wenigstens denken, was man
will. Wenn nur die Künstler nicht so dicke
Bäuche halten. Ich habe mir Künstler
ganz anders vorgestellt. Sie sind sehr gleich-
gültig. Einem war die Krawatte aufgegangen
und er bastelte immerzu daran herum. Ich
würde es nicht gemerkt haben, wenn ich
so schöne Musik spielen dürfte. Aber ich
kann gar nichts spielen. Mir ist auch Musik
viel zu heilig dazu. In unserm Hotel ist
ein grosser Saal mit herrlich glänzendem
Parkett. Auch ein schöner sehr langer
Flügel steht darin. Wissen Sie, was meine
grösste Freude ist. Sie werden mich sicher
auslachen, aber ich habe mir versprochen,
Ihnen alles zu schreiben. In dem grossen
Saale ist nämlich nie ein Mensch. Da
schleiche ich mich oft Nachmittags hinein
und tanze ganz allein für mich. Keinen
richtigen Tanz, denn ich kann gar nicht
tanzen. Die Musik dazu singe ich so für
mich hin. In dem neuen langen blauen
Kleide sehe ich wie eine Erwachsene aus.
Ich würde aber niemals vor anderen
Menschen tanzen. Sie werden mich in dem
blauen Kleide gar nicht wiedererkennen.
Vielleicht an dem blauen Bande. Was steht
jetzt in Ihrer japanischen Vase. Kommen
Sie doch bald einmal zu uns, wir fahren
morgen zurück. Ich werde Ihnen auch
etwas schönes schenken.
Gruss Signe
Mein liebes Kind
Willst Du mir nicht ein Bild schicken. Dein
Bild in dem neuen blauen Kleide, damit
ich Dich wiedererkennen kann. Denn ich
kann vorläufig nicht zu Euch kommen.
Ich bin krank. Und Kranke müssen allein
sein. Ich denke sehr oft an Dich. Wir
haben immer sehr schön gespielt und ich
glaube, mit mir würdest Du auch tanzen
wollen, wenn ich tanzen könnte. Aber ich
kann nicht tanzen und in der Musik bin
ich ein Stümper. Und den Faust finde ich
ebenso langweilig wie Du. Meine japanische
Vase steht jetzt leer. Ich fülle sie aber
täglich mit frischem Wasser. In ihr blüht
Erinnerung.
Herzlichste Grüsse Dein alter Freund
Ich kann mir gar nicht vorstellen, dass Sie
krank sind. Sie können nicht krank sein.

Sie können doch nicht den ganzen Tag im
Bett liegen. Sie sitzen kaum. Aber Sie
dürfen doch lesen. Doch Sie kennen sicher
alles, trotzdem ich Sie nie mit einem Buch
gesehen habe. Seit Sie fort sind, lese ich
nichts mehr. Wie ich mich langweile.
Niemand kann mit mir sprechen. Vater
hat keine Lust und Mutter keine Zeit. Wie
ich mich langweile. Auf den Feldern
schmerzen mir die Augen, in der Sonne
und im Regen verderbe ich mir die Schuhe.
Auch mit den Leuten komme ich nicht
mehr aus. Die Knechte grinsen so wider-
lich, wenn sie mich jetzt sehen, und die
Mädchen sind gemein. Auch meine Stube
ist hässlich geworden. Es hat sich nichts
geändert, aber die Möbel sind jetzt ganz
leblos. Ich stelle jeden Tag alles um, aber
nichts passt. Mutter hat sich sehr geärgert,
dass ich alle Bilder abgenommen habe.
Ich kann sie nicht mehr sehen. Warum
soll meine Grossmutter über meinem Bett
hängen. Ich habe sie nicht gekannt und
sie sieht mir so ähnlich. Nur ganz alt ist
sie. Ich konnte seit mehreren Monaten
nicht mehr einschlafen, weil mich das Bild
immer so gütig anblickt. Ich kann alte
Menschen nicht leiden. Sie sehen immer
gütig aus. Sie wollen immer schützen und
können es nicht. Ich kann jetzt oft die
ganze Nacht nicht schlafen. Ich zittre vor
Kälte, und wenn ich mich ganz dicht zu-
decke, halte ich es vor Hitze nicht aus.
Sie werden diesen Brief sicher sehr dumm
finden. Ich begreife auch nicht, warum ich
Ihnen dies alles schreibe. Schicken Sie mir
doch bitte Ihr Bild, aber ein ganz kleines,
damit ich es gut verstecken kann. Mutter
kramt nämlich überall nach. Einmal hatte
ich Ihr Bild aus dem Salon auf meinen
Tisch gestellt. Mutter nahm es mir gleich
wieder fort. Sie sagte, es sei höchst un-
passend, Sie wären ja nicht einmal mit
uns verwandt. Deshalb müssen Sie mir ein
ganz kleines Bild schicken. Meins lege ich
bei, aber nur, weil Sie es haben wollen.
Ich sehe ganz anders aus. Nie im Leben
habe ich so gesessen. Mutter und der
Photograph fanden es aber schön. Finden
Sie, dass mir lange Kleider stehen. Ich bin
noch viel zu jung dazu. Wenn ich einmal
ganz frei bin, schaffe ich mir wieder kurze
Kleider an. Auch die Frisur ist albern.
Aber je älter man wird, desto weniger darf

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