man tun, was man will. Ich schreibe Ihnen
heute einen so langen Briefe damit Sie etwas
Abwechselung haben, aber vielleicht lesen
Sie ihn nicht einmal zu Ende. Sie kennen
doch unsern Hausarzt, er ist sehr klug. Er
würde Ihnen sicher helfen. Werden Sie
recht schnell gesund, wenigstens so, dass
Sie zu uns reisen können. Und seien Sie
mir nicht böse.
Gruss Signe
Mein liebes Kind
Dein Brief hat mich sehr traurig gemacht,
weil ich Dir gar nicht helfen kann. Die
Güte des Alters bedeutet nichts für die
Jugend. Deshalb möchte ich Dir auch
nicht mein Bild schicken. Du wirst mich
so in viel besserer Erinnerung behalten.
Über Dein Bild habe ich mich sehr gefreut.
Du hast Dich gar nicht verändert, trotz
Frisur und langem Kleide. Du wirst im
nächsten Winter sehr gefeiert werden und,
liebes Kind, ich möchte nicht gern, dass
es mir wie der Grossmutter geht. Ich
werde jetzt bald auf mehrere Jahre nach
dem Süden reisen müssen. Dein Bild nehme
ich mit. Und wenn Du dann mich später
Wiedersehen wirst, so sollst Du mich an
Deinem Bild erkennen. Ich habe viel zu
lange bei Euch gelebt.
Herzlichste Grüsse Dein alter Freund
Sie sind nicht krank und nicht krank ge-
wesen. Sie wollen mir nur noch schonend
beibringen, dass Sie mich nicht mehr mögen.
Deshalb schicken Sie mir Ihr Bild nicht.
Ich bin Ihnen zu wenig. Sie halten mich
für ein Kind. Aber ich bin es nicht mehr
seit Ihrem letzten Brief. Warum verraten
Sie mich. Weil Sie wissen, dass ich Sie
liebe, während ich Sie liebte, ohne es zu
wissen. Jetzt verstehe ich alles. Sie, die
Eltern, mich. Was habe ich Ihnen getan,
dass Sie mich nicht lieben können. Warum
stossen Sie mich fort. Wo Sie mich sich
in Ihnen bergen liessen. Warum nahmen
Sie mich auf, so lange ich nicht wusste,
was mich zu Ihnen trieb. Warum täuschten
Sie mir eine Güte vor, die gegen mich ge-
richtet war. Warum spielten Sie ein falsches
Spiel mit mir. Nun muss ich mich für
jedes Wort schämen, das ich Ihnen ge-
schrieben habe. Schicken Sie mir alles
zurück, das Bild und die Briefe, wenn Sie
sie noch haben Signe
Mein liebes Kind
Ich habe mich in Deine Jugend verborgen.
Nun hörst Du auf zu spielen, siehst und
findest mich. Du solltest mich nicht finden.
Ich wollte Dein Herz aus meiner Schlinge
ziehen. Ich wollte Dich nicht umschlingen
und ich zog fort. Meine Schlinge flicht
sich aus Keimen der Herbstzeitlose. Spät
bricht ein Keim zu früh auf im Vorfrühling
Deines Herzpochens. Du hütest Dich selbst
vor der Güte des Alters. Hier hast Du das
Bild. Hier hast Du die Briefe. Hüte das
keimende Leben. Nur Du kannst es schützen.
Es zerweht unter fremden Händen. Alle
Hände sind fremd. Nie wird Dir jemand
nahe sein, wenn nicht Du. Von Leben zu
Leben wächst das Sterben. Von Leben zu
Lieben blättert das Welken. Der sanfteste
Wind birgt alle Tode. Spiele. Nur das
Kind, das spielende, lebt.
Mein Auge küsst Deine schlafenden Lider
Zeittingsmärchen
Sonnenfinsternis, Beulenpest, Zigeuner^
schiacht und Schulgefängnis
Zu der nächsten Sonnenfinsternis werden
schon jetzt Vorbereitungen getroffen. Man
erwartet wichtige Belege für die Einstein-
Theorie von dieser Naturerscheinung. Die
Insassen der Gefängnisschulen erhalten
ausser wissenschaftlichem Pudding heisse
Privilegien. Das Pasteur-Institut erklärt, dass
bei Wahrung der nötigen Vorsichtsmass-
regeln die Seuche auf ihren Herd beschränkt
bliebe. Wahrscheinlich wird vom Green-
wich-Observatorium eine Expedition aus-
gesandt werden. Doch die angewandte
Serum-Spritzung vermindert die Gefahr
erheblich. In dem Dorfe Sellnow hat man
die Schule zum Gefängnis umgewandelt,
das eine grosse Menge jugendlicher Natur-
erscheinungen enthält. Ein Fall — ausser-
halb der Stadt Gedankenstrich verlief töd-
lich. In dem Bestreben, den Verbrecher
durch Aufenthalt in der Sonnenfinsternis
nicht in erster Linie zu strafen, selbst wenn
diese Jugendlichen zum Tode verurteilt
werden, erwartet man von dieser Natur-
erscheinungwichtige Übeltäter. Der Zigeuner
Erich Asten wurde für gutes Betragen und
Fleiss erschossen. Der Mörder, Zigeuner
85
heute einen so langen Briefe damit Sie etwas
Abwechselung haben, aber vielleicht lesen
Sie ihn nicht einmal zu Ende. Sie kennen
doch unsern Hausarzt, er ist sehr klug. Er
würde Ihnen sicher helfen. Werden Sie
recht schnell gesund, wenigstens so, dass
Sie zu uns reisen können. Und seien Sie
mir nicht böse.
Gruss Signe
Mein liebes Kind
Dein Brief hat mich sehr traurig gemacht,
weil ich Dir gar nicht helfen kann. Die
Güte des Alters bedeutet nichts für die
Jugend. Deshalb möchte ich Dir auch
nicht mein Bild schicken. Du wirst mich
so in viel besserer Erinnerung behalten.
Über Dein Bild habe ich mich sehr gefreut.
Du hast Dich gar nicht verändert, trotz
Frisur und langem Kleide. Du wirst im
nächsten Winter sehr gefeiert werden und,
liebes Kind, ich möchte nicht gern, dass
es mir wie der Grossmutter geht. Ich
werde jetzt bald auf mehrere Jahre nach
dem Süden reisen müssen. Dein Bild nehme
ich mit. Und wenn Du dann mich später
Wiedersehen wirst, so sollst Du mich an
Deinem Bild erkennen. Ich habe viel zu
lange bei Euch gelebt.
Herzlichste Grüsse Dein alter Freund
Sie sind nicht krank und nicht krank ge-
wesen. Sie wollen mir nur noch schonend
beibringen, dass Sie mich nicht mehr mögen.
Deshalb schicken Sie mir Ihr Bild nicht.
Ich bin Ihnen zu wenig. Sie halten mich
für ein Kind. Aber ich bin es nicht mehr
seit Ihrem letzten Brief. Warum verraten
Sie mich. Weil Sie wissen, dass ich Sie
liebe, während ich Sie liebte, ohne es zu
wissen. Jetzt verstehe ich alles. Sie, die
Eltern, mich. Was habe ich Ihnen getan,
dass Sie mich nicht lieben können. Warum
stossen Sie mich fort. Wo Sie mich sich
in Ihnen bergen liessen. Warum nahmen
Sie mich auf, so lange ich nicht wusste,
was mich zu Ihnen trieb. Warum täuschten
Sie mir eine Güte vor, die gegen mich ge-
richtet war. Warum spielten Sie ein falsches
Spiel mit mir. Nun muss ich mich für
jedes Wort schämen, das ich Ihnen ge-
schrieben habe. Schicken Sie mir alles
zurück, das Bild und die Briefe, wenn Sie
sie noch haben Signe
Mein liebes Kind
Ich habe mich in Deine Jugend verborgen.
Nun hörst Du auf zu spielen, siehst und
findest mich. Du solltest mich nicht finden.
Ich wollte Dein Herz aus meiner Schlinge
ziehen. Ich wollte Dich nicht umschlingen
und ich zog fort. Meine Schlinge flicht
sich aus Keimen der Herbstzeitlose. Spät
bricht ein Keim zu früh auf im Vorfrühling
Deines Herzpochens. Du hütest Dich selbst
vor der Güte des Alters. Hier hast Du das
Bild. Hier hast Du die Briefe. Hüte das
keimende Leben. Nur Du kannst es schützen.
Es zerweht unter fremden Händen. Alle
Hände sind fremd. Nie wird Dir jemand
nahe sein, wenn nicht Du. Von Leben zu
Leben wächst das Sterben. Von Leben zu
Lieben blättert das Welken. Der sanfteste
Wind birgt alle Tode. Spiele. Nur das
Kind, das spielende, lebt.
Mein Auge küsst Deine schlafenden Lider
Zeittingsmärchen
Sonnenfinsternis, Beulenpest, Zigeuner^
schiacht und Schulgefängnis
Zu der nächsten Sonnenfinsternis werden
schon jetzt Vorbereitungen getroffen. Man
erwartet wichtige Belege für die Einstein-
Theorie von dieser Naturerscheinung. Die
Insassen der Gefängnisschulen erhalten
ausser wissenschaftlichem Pudding heisse
Privilegien. Das Pasteur-Institut erklärt, dass
bei Wahrung der nötigen Vorsichtsmass-
regeln die Seuche auf ihren Herd beschränkt
bliebe. Wahrscheinlich wird vom Green-
wich-Observatorium eine Expedition aus-
gesandt werden. Doch die angewandte
Serum-Spritzung vermindert die Gefahr
erheblich. In dem Dorfe Sellnow hat man
die Schule zum Gefängnis umgewandelt,
das eine grosse Menge jugendlicher Natur-
erscheinungen enthält. Ein Fall — ausser-
halb der Stadt Gedankenstrich verlief töd-
lich. In dem Bestreben, den Verbrecher
durch Aufenthalt in der Sonnenfinsternis
nicht in erster Linie zu strafen, selbst wenn
diese Jugendlichen zum Tode verurteilt
werden, erwartet man von dieser Natur-
erscheinungwichtige Übeltäter. Der Zigeuner
Erich Asten wurde für gutes Betragen und
Fleiss erschossen. Der Mörder, Zigeuner
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