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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 12.1921

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Sechstes Heft
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Walden, Herwarth: Unter den Sinnen, [2]: Dichtung zwischen Menschen
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Gramlich, Hermann: Gedichte
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https://doi.org/10.11588/diglit.47209#0140
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Wo bleibst Du denn. Es ist doch die höchste
Zeit. Ist der Wein aufgezogen.
Der Gehrock sieht doch schon etwas ab-
getragen aus.
Alles stürzt auf mich in der letzten Minute
ein. Warum hast Du das nicht früher sagen
können. Man hätte ihn kanten können.
Vater, sei recht freundlich zu ihm.
Wie Du aussiehst, Mann. Das macht einen
zu schlechten Eindruck. Zieh ihn aus. Wir
wollen den Rock schnell kanten, Anna.
Du fängst auf der einen Seite an und ich
auf der anderen. Gott sei Dank, dass ich
Band stets im Hause habe. Schnell das
Nähzeug. Wo ist denn die Schere
Ich könnte mir doch einen anderen Rock
anziehen.
Eine Verlobung ohne Gehrock ist unmöglich.
Schnell, Anna. Nimm die Blumen fort.
Wir legen ihn auf den Tisch. Mach nur
grosse Stiche.
Ich kann nicht Mutter. Ich bin zu aufgeregt.
Nie denkt Ihr an Eure Eltern. Was soll der
Doktor von mir denken, wenn Dein Vater
so herumgeht.
Er ist ein so guter Mensch, Mutter
Gut hin gut her, oder willst Du etwa, dass
ihm unsere Verhältnisse gleich in die Augen
stechen.
Ich habe mich gestochen, Mutter
Mach die Augen auf, dummes Ding. Schnell,
schnell
Was Du mir immer für Sorgen machst, Frau
Du machst Dir doch keine Sorgen. Deinet-
wegen könnten wir alle verlumpt herum-
gehen. Wenn ich nicht überall die Augen
offen hätte
Das Band reicht nicht, Mutter
Es klingelt
Komm, schnell alles zusammen. Er kann
ruhig etwas warten. Das macht nur einen
guten Eindruck
Wenn er weggeht, Mutter
Er geht nicht weg. Du öffnest und vergiss
nicht ihm zu sagen, dass unser Mädchen
verreist ist
Ich kann ihn doch nicht so belügen, Mutter
Notlügen sind erlaubt
Es klingelt wieder, Frau
Das ist ein Leben. Nie etwas in Ordnung.
Alles in der letzten Minute. Hätte ich Dich
nur nie geheiratet. Meine guten Eltern ha-
ben mich immer gewarnt. Weine doch nicht,
dumme Trine. Das macht keinen guten

Eindruck. Und die Schere ist nirgends zu
finden. Komm Du. Wie ich Dich hasse.
Fortsetzung folgt

Gedichte
Hermann Grämlich
Der sterbende Mensch
Zwitschert Schwalbe weiter ziehn
Schwingt die seidne Sehnsuchtsschaukel
Und dein Herz zersprengt den harten Felsen-
stein
Und die eingemauerten Tore fallen
Quellen können springen
und sie fliessen durch die Adern über moos-
bespülte Wälderwurzelwiesen
Alle wollen Deine messerscharfen Wunden
kühlen
und die Blumen sind um Dich versammelt
stehn mit grossen sanften Augen
und mit rührenden Gesichtchen vor Dir
alle wollen Deine Herzenswunde und die
heisse Stirne küssen
Dann schlägt Dein Sterben noch einmal die
Augen auf
und lächelt schmerzensselig über so viel Güte
Ganz weit
hinter dem Mond
Im Licht der Sonne
steht Gott, die Kraft
spielt mit der Erde kugeln
Sonne glüht
Erde blüht
in buntes Farbenflutenfliessen
fliessen
goldene Glutengarbensterne
Funken glühn
sprühn Licht
Gischt zischt
spritzt
Und der Wald schlägt das verträumte
Auge auf
Hallen schallen Schatten
Frohgewölbte Tore kehlen
Quellen
sprudeln
blättern
tanz
Nacht
Lichter wachen
Erde schläft

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